Wortmeldungen in zwei Wagner-Chats dieses Sommers haben Frank Piontek bewogen, sich mit einigen dieser Aussagen auseinanderzusetzen und noch einmal mehrere Details der aktuellen Bayreuther „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz, aber auch grundsätzliche Prinzipien einer gelungenen Theater-Regie zu durchdenken.
„Kinder, macht Neues!“
Behauptung: Ein Regisseur wie Valentin Schwarz nimmt den Satz als Lizenz, Wagner zu verfälschen, indem er neue Geschichten und Personen (Grane!) erfindet, die mit Wagner nichts zu tun haben.
Als Wagner den vielzitierten – und immer missverstandenen – Satz („Kinder! macht Neues! Neues! und abermals Neues! – hängt Ihr Euch an’s Alte, so hat euch der Teufel der Inproduktivität, und Ihr seid die traurigsten Künstler!“) am 8. September 1852 an Liszt schrieb, meinte er nur, dass man seine neuen und nicht Berlioz’ alte Opern in Weimar spielen solle. In meinen Rezensionen beziehe ich mich an keiner Stelle auf das Zitat: weder im wörtlichen noch im missverstandenen Sinn. Ich meine auch nicht, dass der Bayreuther „Ring“ 2022/23 etwas „Neues“ enthält. Er interpretiert „nur“ die Geschichte so, dass die Motivationen, denen die Figuren unterliegen, in ihrer Widersprüchlichkeit kenntlich und ihrem theatralen Wert für ein Publikum, das nicht mehr an Märchen glaubt, überhaupt erst sichtbar werden; daher rührt für viele Zuschauer, die die Inszenierung gut finden (auch viele erfahrene alte und sehr alte Wagnerfreunde), die schöne Spannung, die sie beim Zuschauen empfanden und empfinden. Im Übrigen sagte Wagner selbst, dass ein Mythos für alle Zeiten gültig sei. Dh. dass er in völlig anderen Zeiten als der, in der Wagner lebte, auch anders gezeigt werden kann. Das Publikum stimmte auch in diesem Jahr auch positiv ab (es ist eine Legende, der man ausdrücklich widersprechen muss, dass die Inszenierung pauschal durchgefallen sei. Es stimmt einfach nicht). Wagner wird nur für die Besucher „künstlich verkompliziert“, die seine Texte für einfach und eindeutig halten. Wären sie es, gäbe es nicht so viele verschiedene wissenschaftliche „Ring“-Deutungen. Ein öffentliches und ausgiebiges Gespräch mit Argumenten würde ich sehr befürworten. Über Grane könnte man beispielsweise schon sehr viel sagen.
Durchgefallen!
Behauptung: Die „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz ist bei Kritik und Publikum durchgefallen.
Ich war nicht der einzige Rezensent, der 2022 mit GRÜNDEN zeigen konnte, dass die Inszenierung als akzeptabel bis gut angesehen werden kann. Erstaunlicherweise fanden das während des 2. Zyklus, den ich besuchte und ausführlich rezensierte, auch alte und erfahrene Bayreuth-Besucherinnen und -Besucher, die nicht so verschlossen waren wie Viele, die 2022 den Premierenzyklus besucht hatten. Wer nur die lautesten Besucher am Premierenabend und einige Rezensionen wahrnahm, nahm nur einen Teil der Reaktionen wahr. Um zu erfahren, wie „das“ Publikum, das es nicht gibt, diesen „Ring“ aufnimmt, müsste man jeden einzelnen Besucher differenziert fragen.
Unsichtbares Theater
Behauptung: Angesichts der „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz würde Wagner sich heute das „unsichtbare Theater“ wünschen.
Anlässlich der neuen Ring-Inszenierung wurde öfters Wagners Satz vom „unsichtbaren Theater“ (Cosima Wagners Tagebücher, 23. September 1878) zitiert, das er sich laut Cosima Wagner gewünscht habe. Interessanterweise wird dieser berühmte Satz immer nur dann zitiert, wenn man mit einer Inszenierung persönlich nicht zufrieden ist. Gefällt einem eine Produktion – und sei sie noch so entfernt von Wagners Intentionen wie z.B. Wieland Wagners reduktionistische Arbeiten aus dem Geist des 20. Jahrhunderts –, gilt er natürlich nicht. Man sollte auch bedenken, dass Wagner diesen Satz nach dem partiellen Scheitern seiner EIGENEN Ring-Inszenierung geäußert hat, von der er wusste, dass das, was er sich theoretisch vorstellte, durch sie nicht einlösbar war. Dass er z.B. erst Carl Emil Doeplers Kostümentwürfe gut und dann in ihrer genauen Ausführung schlecht fand, weist darauf hin, dass er selbst sehr unsicher bezüglich der Details UND des gesamten Stils seiner eigenen Inszenierung war. Wer sich heute wünscht, dass Wagner aufgeführt werden soll, „wie Wagner es sich vorstellte“, weiß nicht, dass Wagner selbst nicht wusste, wie das gehen könnte. Daher rührt seine temporäre Verzweiflung. Kurz nach den Festspielen sagte er laut Co-Regisseur Richard Fricke: „Im nächsten Jahr machen wir alles anders.“ Komischerweise wird diese Aussage nie zitiert … Grundsätzlich muss man bei Wagnerzitaten aus Cosima Wagners Tagebüchern immer vorsichtig sein und die Gegenargumente bei Wagner selbst suchen. Dass er nach dem partiellen „Ring“-Flop von 1876 schnell daranging, ein neues Bühnenwerk zu schreiben UND zu inszenieren, ist aussagekräftiger als der Tagesfrust über seine nicht erreichbaren, weil idealen Ziele. Wagner war ein Mann des Theaters, nicht des Hörspiels – kein Wunder, dass er sich 1876 v.a. um die Regie und wenig um die Musik kümmerte. Unsichtbares Theater: das war eines seiner geistreichen Aperçus, keine Grundsatzaussage.
Nachtrag: Bedenkenswert (und viel weniger bekannt) ist die Fortsetzung von Cosima Wagners Eintrag: „‚Nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden! – Und das unhörbare Orchester‘, fügt er hinzu, das kummervolle Sinnen mit Humor beschließend.“
Klamauk
Behauptung: Dass Wotan einen Golfschläger in der Hand hält, als er vom Speer spricht, ist Klamauk.
Wenn jemand sich nicht an Verträge hält, dann ist das Wotan. Man kann sich also über seinen Satz „Verträge schützt meines Speeres Schaft“ sehr wundern. Insofern ist es egal, was er gerade in der Hand hat, da ihn Gesetze eh nicht interessieren, also auch kein Gesetzspeer nötig ist.
Unsinn
Behauptung: Dass Wotan Erda nicht kennt, obwohl sie während des ganzen zweiten und dem Anfang des vierten „Rheingold“-Bilds bereits auf der Szene war, ist unsinnig.
Die Szene mit Erda bringt einen dazu, sich über Wagners Dramaturgie und die davon abgeleiteten Prinzipien der Regie Gedanken zu machen. Lesern, die den Text unbefangen und genau lesen, muss es auffallen, dass Wotan die bedeutende Frau, die älter ist als alle Götter, angeblich nicht kennt. Man kann, ohne dem Text Gewalt anzutun, davon ausgehen, dass Wotan auch hier mal wieder etwas vortäuscht. Andererseits kann seine Frage „Wer bist du?“ auch so übersetzt werden: „Wer bist du eigentlich?“, d.h. „Was maßt Du Dir an?“ Sprachlich ist so eine Auslegung schon deshalb möglich, weil niemand, auch Wagner nicht, uns sagt, WIE etwas verstanden werden soll; Wotan selbst lügt so oft, dass man ihm nicht trauen kann.
Erstveröffentlichung in Frank Pionteks Wagner-Abo. Die „Ring“-Kritiken des Wagnerexperten aus Bayreuth finden Sie hier.