Uwe Hoppe deutet Wagner weiter: Erneut hat er sich mit der Studiobühne Bayreuth „Parsifal“ und „Lohengrin vorgenommen. Über die Premiere im Hoftheater bei Steingraeber berichtet Frank Piontek.
Er kommt nicht zu Ende mit Wagner. „Paxiphall und Lohengrün“: So hieß vor vier Jahrzehnten eines der ersten Wagner-Stücke Uwe Hoppes, das schon in der damaligen Steingraeber-Scheune zur Aufführung kam. Dazwischen schrieb er eine Paraphrase auf Wolframs von Eschenbach „Parzival“ (den Wagner scharf kritisierte). Nun hat er sich, wiederum in Steingraebers Sommer-Hoftheater, von Neuem dem Stoff verschrieben. „Lohengrin sein Vater und der Gral“ nimmt es zu wiederholten Mal mit den Krämpfen auf, die Wagner selbst befielen, als er seine ureigene Theologie – es ist eine Theologie des Weltlichen im wagnersch Geistlichen – in den alten Stoff hineindrückte und gleichzeitig den „Lohengrin“ korrigierte. Nein, Hoppe schreibt nicht, wie es früher gelegentlich hieß, Wagner-„Parodien“. Er meint es blutig ernst mit Wagner – und schafft Wagner-Variationen.
Also geht er wieder einmal, unerlöst wie nur ein wagnerscher Held, wieder an Wagners „Weltabschiedswerk“, seine „letzte Karte“ heran, wie der Schöpfer des „Parsifal“ das selbst nannte. Wieder erzählt er die Leidensgeschichten des tumben Tors, des Gralskönigs, des Zauberers Klingsor und der Gralsgemeinschaft. Wieder kriecht er in die Konflikte hinein – und findet zu neuen, originellen und, das überrascht kaum, zu skeptischen und ein wenig hoffnungsvolleren Lösungen, die kaum Erlösungen sind. „Plädoyer für einen Zauberer“: Der Buchtitel, den der Verfasser dieser Zeilen 2006 fand, bezog sich nicht allein auf den großen Musikzauberer, sondern auch auf Klingsor, den ungerecht Verstoßenen, den dritten großen Leidenden des „Parsifal“-Dramas.
Die Dignität von Hoppes neuer Deutung, die Wagner konsequent in die Gegenwart denkt, besteht gerade darin, Wagner auszuprobieren und an Ränder zu führen, die Wagner selbst schon betrat – ohne das Vokabular zu besitzen, das man erst im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zu finden vermochte. Schön also, dass es diesmal Klingsor und nicht Kundry ist, die Amfortas verführt, wobei dessen Wunde nicht durch einen äußerlichen Speer, sondern durch eine innerliche Verletzung verursacht wird; dass der Speer selbst ein Symbol ist, wusste schon Wagner. Neuere Deutungen betrachten nicht grundlos die „harte Latte“ als Symbol des Männlichen, während der Gral(skelch) das dazugehörige Symbol des Weiblichen ist.
Bei Hoppe ist der Speer, das ist so des Stückeschreibers Deutlich- und Derbheit, ein Stab mit großer roter Eichel. Mann kann das selbst im Licht der wagnerschen Theologie durchgehen zu lassen – und es wird dort noch spannender, wo sich der Verführer Klingsor und der an Welt und Amt leidende Gralskönig in ein Religionsgespräch begeben, das Hoppe beim späten Dietrich Bonhoeffer fand: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ – das ist die Quintessenz eines religionslosen Christentums, das Wagners Kritik an jeglicher Institutionalisierung von Religion zu Ende denkt.
Nein, Hoppe „parodiert“ nicht Wagner – oder wenn, dann allein im Sinn einer freien Übertragung: so, wie Wagner selbst seine Vorlage radikal veränderte. Um die Sache noch weiter aufzulösen und nicht der bloßen Nacherzählung zu übergeben, fügte er eine weitere Ebene hinzu. Er lässt uns also – nicht sehr realistisch, aber Theater ist niemals realistisch – in eine Theaterprobe hineinschauen, die von der Regisseurin „Agata Runkel“ geleitet wird, hinter der man sich eine Katharina Wagner 2.0 vorstellen kann (zumindest enthält ihr Name fast alle Buchstaben des Namens der Wagner-Urenkelin, die, glaube ich, mit Angela Merkel auf gutem Fuß steht). Hoppe lässt die Regisseuse und Dompteuse zur cholerischen Chefagitatorin werden, die, bevor sie die Oper selbst inszeniert, mit Schauspielern ein Vor-Material produziert, nach dem sich dann die Opernsänger zu richten haben.
Währenddessen reflektieren sie auf gut Hoppesch den Stoff, fechten ihre kleinen Kämpfe mit der Regisseurin aus, die selbst nicht weiß, worauf das Ganze hinaus laufen soll – und proben noch dazu dazwischen ein paar Szenen aus dem „Lohengrin“ und Parsifals Vorgeschichte, also die Beziehung von Gahmuret und Herzeleide.
„Verwirrend“, so nannte das am Abend ein theateraffines Ehepaar. Denn Hoppes Dramaturgie läuft diesmal auf eine Reihe von Fragmenten hinaus. Um sie recht zu verstehen, bedarf es der genauen Kenntnis des sogenannten Originals. Wer es nicht kennt, verlässt in der Pause das Theater. In seinem Furor, es diesmal auf einer nächsthöheren Ebene mit dem komplizierten Stoff aufzunehmen, den Wagner und hinterlassen hat, konnte Hoppe vielleicht keine Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten nehmen. Stattdessen sehen wir in einen Raum, in dem sich die Spieler und Sprecher typisch hoppesch gestikulierend (also überdeutlichst) durch die Probleme arbeiten, die ein Wagner im Licht unserer Erfahrung, wie Thomas Mann das genannt hätte, eben so bietet. Hoppe schrieb nicht Wagner fort, sondern zeigt uns einen Wagner für Fortgeschrittene.
Er lässt auch fleißig Wagner hören. Hier liegt das Problem der Inszenierung. Wagner ist eben immer noch stärker als alles, was mit ihm veranstaltet wird. So klingen immer wieder lange, herrliche Passagen aus dem „Parsifal“ in den Raum. Es ist kaum möglich, sich ihrer zauberhaften Wirkung zu entziehen. Je mehr man sie kennt, desto einnehmender ist ihre Wirkung. Darüber geht logischerweise Manches verloren. Vielleicht ist es ja nur diese oft in Einsatz gebrachte, als Begleitmusik missbrauchte Musik, die manchen Zusammenhang des neuen Stücks stört – unmöglich, sich nicht die Bilder seiner Lieblings-Inszenierung zu imaginieren, wenn gerade der wahre Wagner zu hören ist.
Ich habe jedenfalls immer und immer wieder weite Teile der Herheim-Inszenierung gesehen. Zusammen mit dem realen Bühnengeschehen sah ich also ein anstrengendes Doppelbild (und ich bin sicher, dass es nicht allein mir so ging). Es ist schade, da Hoppe doch jede Menge Eigenes zu sagen hat. Was bleibt, nachdem die Durchlaufprobe mit eingelegter absurder „Lohengrin“-Probe, die stets bei „Mein Bruder“ ins Stocken gerät, weil die Regisseuse immer wieder neue Positionen erfindet und die Elsa-Darstellerin zunehmend hysterischer und lustiger agiert?
Das Wissen, dass eine Kirche, die über den Menschen bestimmen will, abschaffbar ist und Erlösung eine Chimäre – selbst und gerade dann, wenn Klingsor und Amfortas endlich als Liebespaar vereinigt und der doktrinäre Hardliner Gurnemanz und die Frau sich friedlich an den Händen halten. Was bleibt, ist die Aussicht auf ein Land, das noch keiner je sah. „In fernem Land“: das ist das Letzte, was wir an diesem Abend hören, wenn sich einer der Akteure a capella in Lohengrins utopische Heimat hineinsingt. Die Geschichte geht weiter…
Großer Beifall für die Schauspieler, allen voran die brillante Conny Trapper als Dompteuse (einerseits ein Abziehbild einer „modernen Regisseurin“, andererseits eine Art Charakter), Leonard Schmid als Amfortas (etc. etc.), Frank Joseph Maisel als Gurnemanz (und König Heinrich etc.), Viet Fuchs als Klingsor, Telramund, Knappe, Alexander Vanheiden als Parsifal (u.a.), Lorenz Stühle als Assistent, Blume (eine bewusst miese Transvestitenshow) und nicht zuletzt Marietta Weller als Kundry, Elsa, Herzeleide. Zusammen sind sie einfach „Schauspieler“, die Hoppes Thesendrama mit doppeltem Boden zügig und agil über die Bühne fegen. Langer Beifall der im Haus Gebliebenen.
Nur Dummköpfe glauben, dass es „werktreue“ und alle Probleme lösende Wagner-Inszenierungen gäbe. Wagner bleibt schwierig, auch bei und nach Hoppe – und das ist gut so.
Besuchte Premiere am 15. Juli 2023, weitere Vorstellungen am 4., 7., 9., 11., 12., 16., 17., 19., 23., 25. und 26. August, Karten über die Homepage der Studiobühne Bayreuth