„Parsifal“ hoch drei

Hier Links zu mei­ner Aus­wahl an Pre­mie­ren­kri­ti­ken mit ein paar An­mer­kun­gen so­wie Tipps für alle, die die „Parsifal“-Neuinszenierung noch im Fest­spiel­haus er­le­ben werden.

„Parsifal“-AR-Motiv 1 ©Jo­shua­Hig­gason

Im Vor­feld der Pre­mie­re ant­wor­te­te „Parsifal“-Regisseur Jay Scheib auf die Fra­ge, ob er we­gen der re­du­zier­ten AR-Bril­len­zahl zwei In­sze­nie­run­gen oder eine mit ge­wis­sen Er­gän­zun­gen zei­ge: „Auch ohne Bril­le hat der Zu­schau­er eine vol­le In­sze­nie­rung ge­se­hen. Es gibt zwei un­ter­schied­li­che In­sze­nie­run­gen, bei­de sind kom­plett.“ Nach­dem ich be­reits eine Auf­füh­rung mit AR-Bril­le er­lebt so­wie die Auf­zeich­nung ge­streamt habe, muss ich et­was wi­der­spre­chen: Ei­gent­lich gibt es von Jay Scheibs „Parsifal“-Inszenierung drei Ver­sio­nen, denn auch das, was man heu­te ab 20.15 Uhr auf 3sat im Fern­se­hen oder noch bis Jah­res­en­de kos­ten­los im Stream auf BR Klas­sik se­hen kann (aus recht­li­chen Grün­den nur in Deutsch­land), ist et­was, das Fest­spiel­be­su­cher selbst von der ers­ten Par­kett­rei­he aus so nicht se­hen kön­nen. Die Ka­me­ra geht eben noch nä­her ran, was be­kannt­lich bei Opern nicht im­mer von Vor­teil ist. Aber wenn Elī­na Ga­ranča ins Bild kommt, ist ei­nem ei­gent­lich al­les recht. Aus gu­ten Grün­den – und am aus­führ­lichs­ten be­ju­belt von Frank Piontek in sei­ner Kri­tik „Dop­pel­bil­der und -Frau­en“ im Kul­tur­brief der Bay­reu­ther Buch­hand­lung Breu­er & Sohn.

Elī­na Ga­ranča als Kundry – Foto: ©En­ri­co Nawrath

Auch Jan Brach­mann in der F.A.Z. (Bezahlschranke/​Testzugang) wid­met sich zu­al­ler­erst der let­ti­schen Sän­ger­dar­stel­le­rin: „Die Er­in­ne­rung dar­an, dass sie den Hei­land bei des­se Kreu­zi­gung ver­lach­te, ist ein Sturz in den Schlund der ei­ge­nen In­ner­lich­keit, der hör­bar wird im klar­sich­ti­gen Sprung vom ho­hen H fast zwei Ok­ta­ven ab­wärts zum tie­fen Cis. Die­se Frau ma­ni­pu­liert nie­man­den – sie be­treibt un­er­schro­cke­ne Selbst­ana­ly­se und ge­winnt da­durch ihre Sou­ve­rä­ni­tät als Sub­jekt zu­rück.“ Schon mit der Über­schrift „Treib­gut des Un­ter­be­wuss­ten“ be­schreibt der Kri­ti­ker an­schau­lich das AR-Bril­len-No­vum, be­zeich­net die Pro­duk­ti­on mu­si­ka­lisch als Glücks­fall, sze­nisch the­sen­stark und an­re­gend ex­pe­ri­men­tier­freu­dig. Voll des Lo­bes ist er über das Di­ri­gat von Pa­blo He­ras-Ca­sa­do, hebt her­vor, dass man An­dre­as Schager in der Ti­tel­rol­le „sel­ten so in­nig, lei­se und nu­an­ciert er­lebt hat wie hier und pro­phe­zeit, dass Ge­org Zep­pe­n­feld „mit dem Gol­de­nen Gurn­emanz oder dem Größ­ten Gurn­emanz al­ler Zei­ten für die un­schlag­ba­re Per­fek­ti­on in die­ser Rol­le“ aus­ge­zeich­net wer­den wird.

Ge­org Zep­pe­n­feld als Gurn­emanz im 3. Akt – Foto: ©En­ri­co Nawrath

Alex­an­der Dick sieht die In­sze­nie­rung und den AR-Bril­len-Ein­satz un­ter dem Ti­tel „World of Gral­craft?“ in der Ba­di­schen Zei­tung eher kri­tisch. Was hin­ge­gen das Mu­si­ka­li­sche be­trifft, ju­belt der lang­jäh­ri­ge Bay­reuth-Ken­ner: „Da ist die­ser ‚Par­si­fal‘ das Bes­te, was Bay­reuth seit lan­gem zu bie­ten hat­te. Und dar­an hat der De­bü­tant am Grü­nen Hü­gel größ­ten An­teil. Pa­blo He­ras-Ca­sa­do, zu­letzt auch mit dem Frei­bur­ger Ba­rock­or­ches­ter künst­le­risch so er­trag­reich, di­ri­giert ei­nen in sich stim­mi­gen, klang­lich nah am Im­pres­sio­nis­mus à la De­bus­sy ori­en­tier­ten ‚Par­si­fal‘.“ Üb­ri­gens auch ei­nen der kür­zes­ten, ob­wohl man das so gar nicht wahr­nimmt: Der 1. Auf­zug dau­ert nur eine Stun­de vier­zig Mi­nu­ten, der 2. Akt 65 Mi­nu­ten und der 3. Akt ein­ein­vier­tel Stunden.

An­dre­as Schager als Par­si­fal und Elī­na Ga­ranča als Kundry im 1. Akt – Foto: ©En­ri­co Nawrath

Mar­kus Thiel vom Münch­ner Mer­kur schaut ziem­lich un­gnä­dig auf das Bril­len­spek­ta­kel, wo­bei ich ihm un­be­dingt recht ge­ben möch­te, dass die Zu­spie­lun­gen aus­ge­rech­net da ver­sa­gen, wo die im­mersi­ven Mög­lich­kei­ten der rea­len Büh­nen­tech­nik über­le­gen sein soll­ten: bei den räum­li­chen Ver­wand­lungs­sze­nen. Wie schon in der Kri­ti­ker­run­de des Baye­ri­schen Rund­funks un­mit­tel­bar nach der Pre­mie­re stellt auch Chris­ti­ne Lem­ke-Matwey in der Zeit (Bezahlschranke/​Testzugang) das Sze­ni­sche in Fra­ge: „Kon­zep­tio­nel­le Un­ent­schie­den­hei­ten sind das eine, eine Tech­no­lo­gie, die tief in den Kin­der­schu­hen steckt, ist das an­de­re. Die ei­gent­li­che Hy­po­thek der Auf­füh­rung aber liegt, man stau­ne, in der er­schwer­ten Zu­gäng­lich­keit der Musik.Die Sin­ne sind an die­sem Abend schlicht über­for­dert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Fra­ge der Übung und der Er­fah­rung sein. Aber geht so Im­mersi­on? Ent­spricht das Wag­ner?“ In der ge­druck­ten Ver­si­on lie­fert die Wo­chen­zei­tung nicht nur eine mit Schwan, Stief­müt­ter­chen, Li­li­en, Blät­tern und Spee­ren gar­nier­te Auf­ma­chung der ganz­sei­ti­gen Kri­tik, son­dern qua­si als Bo­nus auf der ge­gen­über­lie­gen­den Wis­sens­sei­te un­ter dem Ti­tel „Ohne Scham“ eine tol­le In­fo­gra­fik zur Kli­to­ris, die Jo­shua Hig­gason, der Vi­deo­spe­zia­list der Bay­reu­ther „Parsifal“-Produktion, ohne wei­te­res ein­bau­en könn­te in das Ge­wim­mel des 2. Akts. Und bei der Ge­le­gen­heit könn­te er in sei­nem Bild­pro­gramm auch gleich die Fi­gur des männ­li­chen Ava­tars up­da­ten, denn An­dre­as Schager ist ein­deu­tig we­ni­ger kom­pakt als Jo­seph Cal­le­ja, der zwei Wo­chen vor der Pre­mie­re die Par­tie des Ti­tel­hel­den ab­ge­ge­ben hat.

Die Kri­tik von Ma­nu­el Brug in der Welt ver­lin­ke ich, da­mit ers­tens „Par­si­fal“ als Kin­der­oper ein­ge­bun­den sei und zwei­tens vor al­lem des­halb, weil ich alle Le­ser da­vor war­nen möch­te, sich auf das Welt+-Angebot mit dem Live-Ti­cker und akt­wei­sen Blitz­kri­ti­ken von Pe­ter Huth ein­zu­las­sen. Nur wer wis­sen will, in wel­chen in­halt­li­chen und sprach­li­chen Ab­sur­di­tä­ten und Nie­de­run­gen der an­geb­lich zeit­ge­mä­ße Jour­na­lis­mus in­zwi­schen ge­lan­det ist, möge sich das an­tun. Und noch ein  Welt-Ar­ti­kel von Ma­nu­el Brug, der, wenn man ge­nau liest, über das Fest­spiel­pro­gramm der kom­men­den Jah­re of­fen­bar et­was mehr weiß, als bei der Fest­spiel­pres­se­kon­fe­renz ge­sagt wurde.

AR-Mo­tiv 2 ©Jo­shua­Hig­gason

Mein Tipp für alle, die zum „Par­si­fal“ nach Bay­reuth fah­ren: Schau­en Sie sich vor­her noch den kom­plet­ten Stream bei BR Klas­sik (oder die heu­ti­ge TV-Sen­dung um 20.15 Uhr in 3sat) an, dann kön­nen Sie, falls Sie mit AR-Bril­le ge­bucht ha­ben, es ge­trost auch wa­gen, sich weit­ge­hend den di­gi­ta­len Er­wei­te­run­gen über­las­sen. Was auch heißt, dass Sie ih­ren Kopf im­mer wie­der in alle Rich­tun­gen dre­hen und wen­den, he­ben und sen­ken soll­ten, denn dann er­öff­nen sich neue neue Bil­der, neue Per­spek­ti­ven, neue Mög­lich­kei­ten. So­gar ein biss­chen in­ter­ak­tiv kann man da­bei sein, man muss es ein­fach pro­bie­ren! Bei der Ein­rich­tung der Bril­le soll­te un­be­dingt dar­auf ge­ach­tet wer­den, dass nicht nur die di­gi­ta­le Ein­spie­lung, son­dern auch der rea­le Hin­ter­grund scharf zu se­hen ist. Die Bril­le ist links hin­ten am Sitz­platz in ei­nem Beu­tel un­ter­ge­bracht und hängt an ei­nem Ka­bel, was aber nicht wei­ter stört. Sie ist schwe­rer als üb­li­che Seh­hil­fen, et­was warm und sehr dun­kel (was durch­aus an Par­si­fals „Wel­ten­wahns Um­nach­ten“ den­ken lässt, und das hat es im Er­leb­nis­be­richt zur „Parsifal“-Kinopremiere im Neu­en Deutsch­land im­mer­hin bis in die Über­schrift ge­bracht!). Man kann die AR-Bril­le not­falls in den Pau­sen nach­jus­tie­ren las­sen, zu­sätz­lich auch mit Si­li­kon-Pads für den Bril­len­steg. Das Pro­blem für Kurz­sich­ti­ge ist trotz der pas­sen­den Lin­sen­ein­stel­lung in der Bril­le eher, dass die AR-Rei­hen ganz hin­ten im Par­kett sind (und teils in den Lo­gen, Im Bal­kon und in der Ga­le­rie), das heißt, man be­kommt schon we­gen der Ent­fer­nung von der Büh­ne trotz groß­for­ma­ti­ger Live-Vi­de­os je nach Sitz­platz nur we­ni­ge mi­mi­sche De­tails der Sän­ger­dar­stel­ler mit. Alle AR-bril­len­lo­sen Be­su­cher se­hen eine „nor­ma­le“, über­wie­gend sehr hell be­leuch­te­te In­sze­nie­rung und dür­fen sich un­be­dingt dar­auf freu­en, denn sie er­le­ben – vor­aus­ge­setzt, die Be­set­zung bleibt von In­dis­po­si­tio­nen ver­schont – eine Fest­spiel­auf­füh­rung, die in je­dem Fall ein mu­si­ka­li­sches Ju­wel ist. Ich tip­pe mal, dass die­se Pro­duk­ti­on ein Bom­ben­er­folg wird und es im nächs­ten Jahr noch ein paar hun­dert AR-Bril­len mehr, aber nicht für alle Plät­ze ge­ben wird. Denn wie es schon in der le­gen­dä­ren „Parsifal“-Inszenierung von Chris­toph Schlin­gen­sief der Fall war: nicht alle im Pu­bli­kum wol­len sich ei­ner un­ge­wohn­ten Bil­der­flut ergeben.