„Weltinnenraum“

Die Bay­reu­ther „Tristan“-Neuinszenierung ver­steht man wo­mög­lich bes­ser, wenn man sich vor­her mit ei­nem Ge­dicht aus dem Jahr 1914 von Rai­ner Ma­ria Ril­ke dar­auf ein­ge­stimmt hat.

Chris­ta May­er (Bran­gä­ne) mit Isol­des „Braut­kleid“ im 1. Auf­zug der Bay­reu­ther Neu­in­sze­nie­rung von „Tris­tan und Isol­de“.  – Foto: Bay­reu­ther Festspiele/​Enrico Nawrath

Es winkt zu Füh­lung fast aus al­len Dingen,
aus je­der Wen­dung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
ent­schließt im Künf­ti­gen sich zum Geschenk.

Wer rech­net un­se­ren Er­trag? Wer trennt
uns von den al­ten, den ver­gang­nen Jahren?
Was ha­ben wir seit An­be­ginn erfahren,
als das sich eins im An­de­ren erkennt?

Als dass an uns Gleich­gül­ti­ges erwarmt?
O Haus, o Wie­sen­hang, o Abendlicht,
auf ein­mal bringst du’s bei­nah zum Gesicht
und stehst an uns, um­ar­mend und umarmt.

Durch alle We­sen reicht der eine Raum:
Welt­in­nen­raum. Die Vö­gel flie­gen still
durch uns hin­durch. O, der ich wach­sen will,
ich seh hin­aus, und in mir wächst der Baum.

Ich sor­ge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Ge­lieb­ter, der ich wur­de: an mir ruht
der schö­nen Schöp­fung Bild und weint sich aus.

Den Ho­ri­zont in je­dem Fall er­wei­tern­de Li­te­ra­tur: Fried­rich Dieck­mann „Welt­ver­wun­de­rung. Nach­den­ken über Haupt­wör­ter“, Quin­tus Ver­lag 2017

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