Was für ein verstörender Beginn! Da hat man sich, weil es um Kindstod geht, zwar eingestellt auf einen bestimmt nicht einfachen Musiktheaterabend. Aber dann, nachdem sich der persisch beschriftete Schleiervorhang gehoben hat, tritt eine schwarz gekleidete Frau vor die graue Wand mit den einbetonierten Kleidungsstücken und hebt in ihrer fremden Sprache zu einem herzzerreißenden Monolog an, zu einer Trauerklage und Anklage, die sich immer wieder löst vom Bühnengeschehen, in den Köpfen der Zuschauer vermischt mit zahllosen, aber selten zu Ende gedachten Bildern von weltweiten Kriegsschauplätzen, und so authentisch wirkt, dass man sich automatisch eine Zwangsverschickung aller Pegida-Anhänger in dieses Stück wünscht.
„Der Welt abhanden gekommen“ heißt die aufwühlende szenische Collage, die am Samstag im Landestheater Coburg uraufgeführt wurde und nur noch zwei Mal – am 4. und 26. April – auf dem Programm im Großen Haus steht: ein Wagnis in mehrfacher Hinsicht. Erstens wird hier ein Thema abgehandelt, das zum Schwierigsten, zum Äußersten gehört. Zweitens zählt die Musik nur auf den ersten Blick zum bekannten Kanon: Aufgeführt werden drei der Kindertotenlieder und die fünf Rückert-Lieder Gustav Mahlers (1860–1911), wobei zwei der letzteren von Wolfgang Florey neu instrumentiert wurden. Darin eingebettet zwei Werke von Claude Vivier, einem bei uns unbekannten kanadischen Komponisten, der 1983 im Alter von nur 34 Jahren ermordet wurde.
In dessen Orchesterliedern „Bouchara“ und „Lonely Child“ wiederholt sich auf beeindruckende Weise eine konzeptuelle Klammer der kunstvoll verwobenen Collage: die fremde, andersartige Sprache, die man gleichwohl auch ohne die mitgelieferten Übertitel zu verstehen glaubt. Bei Vivier ist es teilweise sogar eine erfundene, asiatisch geprägte Silbensprache. Wenn der weiß gewandete Engel der Geschichte (versiert und virtuos: Gastsolistin Petra Hoffmann) sein beschwörend schönes Liebeslied und sein Wiegenlied der Einsamkeit singt und haucht, spricht die Musik unmittelbar.
Was gut funktioniert, weil der Auftritt der iranischen Schauspielerin Mahsa Harati, bei dem eine Mutter den gewaltsamen Tod ihrer erst siebenjährigen Tochter (Assal Amir Atashami) beweint, vorangegangen ist – und erste Rückert- und Kindertotenlieder, die den Kern der Handlung ausmachen. Inszenator Bodo Busse versammelt dazu ein noch junges Elternpaar auf der mit leicht verfremdeten Möbeln bestückten Drehbühne (Ausstattung: Christof Cremer), das – inspiriert von David Grossmanns Buch „Aus der Zeit fallen“ – das Trauma des Kindesverlusts durchlebt.
Was der Bariton Jirí Rainiš und die sängerdarstellerisch herausragende Mezzosopranistin Kora Pavelic singend und spielend erzählen, sind verschiedene Stationen einer Trauersituation und -bewältigung, wie man sie sich sowohl für Kriegszeiten vorstellen kann wie bei einem plötzlichen Kindstod – oder nach einer Flugkatastrophe, wie sie aktuell etliche Eltern in Nordrheinwestfalen getroffen hat. Wenn in der finalen Lied-Nummer das Paar nicht alleine bleibt, sondern der Chor sein Leid teilt, versteht man die globale Botschaft des Stücks unmittelbar.
„Der Welt abhanden gekommen“ hat zudem einen lokalen Bezug: Das beziehungsreiche Stück ist auch eine Hommage an das dichtende Sprach(en)genie Friedrich Rückert (1788–1866), dessen Coburger Wohnhaus man vom Theater aus sehen kann. Kombiniert mit dem heutigen Monolog und der polyglotten Sprache bei Vivier, visualisiert durch die einfühlsame Personenführung in der ästhetisch geschlossenen Ausstattung, und vertieft durch die Musik, die weitere Bedeutungs- und Gefühlsebenen einzieht, vollführen Rückerts Liedtexte einen eindrucksvollen Zeitsprung. Lang anhaltender Beifall für alle Beteiligten, auch für Dirigent Lorenzo Da Rio, der Sänger und Instrumentalisten souverän durch mitunter schwierige Passagen leitet: schwere Kost, große Kunst.
Besuchte Vorstellung am 28. März 2015 (Premiere), weitere Aufführungen im Landestheater Coburg nur am 4. und 26. April. Karten gibt es telefonisch unter 09621/898989 sowie online auf der Homepage des Landestheaters.
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