Schwere Kost, große Kunst

Herz­zer­rei­ßend: die ira­ni­sche Schau­spie­le­rin Mah­sa Ha­ra­ti bei ih­rer Trau­er­kla­ge ei­ner Mut­ter in der sze­ni­schen Col­la­ge „Der Welt ab­han­den ge­kom­men“ in Co­burg. Foto: An­drea Kremper

Was für ein ver­stö­ren­der Be­ginn! Da hat man sich, weil es um Kinds­tod geht, zwar ein­ge­stellt auf ei­nen be­stimmt nicht ein­fa­chen Mu­sik­thea­ter­abend. Aber dann, nach­dem sich der per­sisch be­schrif­te­te Schlei­er­vor­hang ge­ho­ben hat, tritt eine schwarz ge­klei­de­te Frau vor die graue Wand mit den ein­be­to­nier­ten Klei­dungs­stü­cken und hebt in ih­rer frem­den Spra­che zu ei­nem herz­zer­rei­ßen­den Mo­no­log an, zu ei­ner Trau­er­kla­ge und An­kla­ge, die sich im­mer wie­der löst vom Büh­nen­ge­sche­hen, in den Köp­fen der Zu­schau­er ver­mischt mit zahl­lo­sen, aber sel­ten zu Ende ge­dach­ten Bil­dern von welt­wei­ten Kriegs­schau­plät­zen, und so au­then­tisch wirkt, dass man sich au­to­ma­tisch eine Zwangs­ver­schi­ckung al­ler Pe­gi­da-An­hän­ger in die­ses Stück wünscht.

„Der Welt ab­han­den ge­kom­men“ heißt die auf­wüh­len­de sze­ni­sche Col­la­ge, die am Sams­tag im Lan­des­thea­ter Co­burg ur­auf­ge­führt wur­de und nur noch zwei Mal – am 4. und 26. April – auf dem Pro­gramm im Gro­ßen Haus steht: ein Wag­nis in mehr­fa­cher Hin­sicht. Ers­tens wird hier ein The­ma ab­ge­han­delt, das zum Schwie­rigs­ten, zum Äu­ßers­ten ge­hört. Zwei­tens zählt die Mu­sik nur auf den ers­ten Blick zum be­kann­ten Ka­non: Auf­ge­führt wer­den drei der Kin­der­to­ten­lie­der und die fünf Rück­ert-Lie­der Gus­tav Mahlers (1860–1911), wo­bei zwei der letz­te­ren von Wolf­gang Flo­rey neu in­stru­men­tiert wur­den. Dar­in ein­ge­bet­tet zwei Wer­ke von Clau­de Vi­vier, ei­nem bei uns un­be­kann­ten ka­na­di­schen Kom­po­nis­ten, der 1983 im Al­ter von nur 34 Jah­ren er­mor­det wurde.

In des­sen Or­ches­ter­lie­dern „Bou­cha­ra“ und „Lo­nely Child“ wie­der­holt sich auf be­ein­dru­cken­de Wei­se eine kon­zep­tu­el­le Klam­mer der kunst­voll ver­wo­be­nen Col­la­ge: die frem­de, an­ders­ar­ti­ge Spra­che, die man gleich­wohl auch ohne die mit­ge­lie­fer­ten Über­ti­tel zu ver­ste­hen glaubt. Bei Vi­vier ist es teil­wei­se so­gar eine er­fun­de­ne, asia­tisch ge­präg­te Sil­ben­spra­che. Wenn der weiß ge­wan­de­te En­gel der Ge­schich­te (ver­siert und vir­tu­os: Gast­so­lis­tin Pe­tra Hoff­mann) sein be­schwö­rend schö­nes Lie­bes­lied und sein Wie­gen­lied der Ein­sam­keit singt und haucht, spricht die Mu­sik unmittelbar.

Was gut funk­tio­niert, weil der Auf­tritt der ira­ni­schen Schau­spie­le­rin Mah­sa Ha­ra­ti, bei dem eine Mut­ter den ge­walt­sa­men Tod ih­rer erst sie­ben­jäh­ri­gen Toch­ter (As­sal Amir Ata­sha­mi) be­weint, vor­an­ge­gan­gen ist – und ers­te Rück­ert- und Kin­der­to­ten­lie­der, die den Kern der Hand­lung aus­ma­chen. In­sze­na­tor Bodo Bus­se ver­sam­melt dazu ein noch jun­ges El­tern­paar auf der mit leicht ver­frem­de­ten Mö­beln be­stück­ten Dreh­büh­ne (Aus­stat­tung: Chris­tof Cremer), das – in­spi­riert von Da­vid Gross­manns Buch „Aus der Zeit fal­len“ – das Trau­ma des Kin­des­ver­lusts durchlebt.

Was der Ba­ri­ton Jirí Rai­niš und die sän­ger­dar­stel­le­risch her­aus­ra­gen­de Mez­zo­so­pra­nis­tin Kora Pa­ve­lic sin­gend und spie­lend er­zäh­len, sind ver­schie­de­ne Sta­tio­nen ei­ner Trau­er­si­tua­ti­on und -be­wäl­ti­gung, wie man sie sich so­wohl für Kriegs­zei­ten vor­stel­len kann wie bei ei­nem plötz­li­chen Kinds­tod – oder nach ei­ner Flug­ka­ta­stro­phe, wie sie ak­tu­ell et­li­che El­tern in Nord­rhein­west­fa­len ge­trof­fen hat. Wenn in der fi­na­len Lied-Num­mer das Paar nicht al­lei­ne bleibt, son­dern der Chor sein Leid teilt, ver­steht man die glo­ba­le Bot­schaft des Stücks unmittelbar.

„Der Welt ab­han­den ge­kom­men“ hat zu­dem ei­nen lo­ka­len Be­zug: Das be­zie­hungs­rei­che Stück ist auch eine Hom­mage an das dich­ten­de Sprach(en)genie Fried­rich Rück­ert (1788–1866), des­sen Co­bur­ger Wohn­haus man vom Thea­ter aus se­hen kann. Kom­bi­niert mit dem heu­ti­gen Mo­no­log und der po­ly­glot­ten Spra­che bei Vi­vier, vi­sua­li­siert durch die ein­fühl­sa­me Per­so­nen­füh­rung in der äs­the­tisch ge­schlos­se­nen Aus­stat­tung, und ver­tieft durch die Mu­sik, die wei­te­re Be­deu­tungs- und Ge­fühls­ebe­nen ein­zieht, voll­füh­ren Rück­erts Lied­tex­te ei­nen ein­drucks­vol­len Zeit­sprung. Lang an­hal­ten­der Bei­fall für alle Be­tei­lig­ten, auch für Di­ri­gent Lo­ren­zo Da Rio, der Sän­ger und In­stru­men­ta­lis­ten sou­ve­rän durch mit­un­ter schwie­ri­ge Pas­sa­gen lei­tet: schwe­re Kost, gro­ße Kunst.

Be­such­te Vor­stel­lung am 28. März 2015 (Pre­mie­re), wei­te­re Auf­füh­run­gen im Lan­des­thea­ter Co­burg nur am 4. und 26. April. Kar­ten gibt es te­le­fo­nisch un­ter 09621/898989 so­wie on­line auf der Home­page des Landestheaters.