Als ich mit sechzehn Jahren nach Bayreuth kam, war Wieland Wagner schon ein Dreivierteljahr tot. Aber ich kann mich noch gut erinnern, wie sich mir schnell mitteilte, dass er ein bedeutender Mann gewesen sein musste. Bei der schulischen Haupt- und Generalprobenzwangsverschickung, die es damals noch gab, sah ich als erste Oper überhaupt Lohengrin in einer Inszenierung von Wolfgang Wagner, die mich schrecklich langweilte. Immerhin: Die Musik berührte mich, obwohl ich ansonsten eher die Beatles, Stones und The Who im Kopf hatte. Bis für mich im Jahr darauf auch der Parsifal kam, in der legendären Neubayreuth-Inszenierung von Wieland Wagner. Da blieben plötzlich Bilder hängen, die Figuren lösten etwas in mir aus und ich erlebte erstmals etwas von jenem Zauber, der mich auch heute noch hoffnungsvoll immer wieder in die Opernhäuser treibt.
Wieland Adolf Gottfried Wagner wurde am 5. Januar 1917 in Bayreuth geboren, als erster Sohn von Siegfried Wagner und dessen Frau Winifred. Er ist als Regisseur und Bühnenbildner unter den Nachkommen von Franz Liszt und Richard Wagner mit Abstand der einzige, der nicht nur eine entsprechende Nase geerbt hat, sondern auch immenses künstlerisches Talent. Obwohl er erst 49 Jahre alt war, als er am 17. Oktober 1966 in einer Münchner Klinik an einem Tumor starb, hat er der Entwicklung von Bayreuth und der Wagner-Rezeption überhaupt eine entscheidende Wendung gegeben.
„Wir haben den Bayreuther Stil demontiert“, sagte er 1951, als die ersten Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffnet wurden. „Uns interessieren keine germanischen Götter mehr, sondern nur der Mensch. Wir wollen weg vom Wagner-Kult.“ Seit 2010 gibt es eine neuere umfassende Publikation über ihn, aus der ich hier zitiere. Sie ist im österreichischen Styria Verlag erschienen (412 S., zahlreiche Abb., 24,95 Euro). Die junge Theater- und Musikwissenschaftlerin Ingrid Kapsamer hat die profunde Werkbiographie Wieland Wagner. Wegbereiter und Weltwirkung verfasst, von Wieland-Tochter Nike stammt das Vorwort.
Wieland Wagner ist lange schon tot. Die Zeit scheint über seine Musiktheater-Reform und sein musiktheatrales Denken hinweggegangen. Nicht nur, weil das Theater die Kunst des Ephemeren, des Augenblicks, der Zeit(geist)-Verfallenheiten ist, sondern weil sich in den über vierzig Jahren nach seinem Tod das Regietheater, als dessen Ahnherr er gilt, weiterentwickelt und in unvorstellbarer Weise radikalisiert hat. Doch damit nicht genug. Es gibt auch den zweiten Tod. Sein künstlerisches Vermächtnis wurde in der endlosen Ära seines Nachfolgers und Bruders auf eine Weise ›verwaltet‹, die einer Vernichtung gleichkam.
1966 gestorben wurde Wielands legendäre Tristan und Isolde-Inszenierung nur noch bis 1970 gegeben. Birgit Nilsson, die Isolde dieser letzten Aufführung, erinnert sich: „Etwas, was mich auch tief berührte, war, dass man gleich nach dem ersten Akt vor dem Festspielhaus ein Feuer aus den Kulissen dieses Aktes angezündet hatte. In der Pause des zweiten Aktes geschah dasselbe, und eine Stunde nach der letzten Tristan-Vorstellung war alles, was daran erinnerte, fort und für immer verschwunden.“
Als seine ebenfalls legendäre Parsifal-Inszenierung mit dem Jahr 1973 vom Grünen Hügel verschwand, bemerkte es die Presse noch. „Wieland Wagners Verbannung“ nannte die F.A.Z. dieses brüderliche Entsorgen. Dann nahm das Verschwinden seiner Kulissen, Kostüme, Modelle, Regiebücher, Entwürfe, Manuskripte und Korrespondenzen seinen von subjektiv-innerfamiliärer Interessenlage gesteuerten Gang. Das Tristan-Feuer dürfte nicht das einzige geblieben sein. Forscher aus aller Welt berichteten von der Unzugänglichkeit der Materialien, von zerschlagenen oder achtlos aufgestapelten Bühnenbildmodellen, von den wenigen Regiebüchern, die obendrein der Einsicht entzogen wurden.
Naturgemäß ist die Vatertochter Nike Wagner (links auf dem Auftaktfoto mit ihrem Vater und ihrer Mutter Gertrud Foto: Rago Ebeling) parteilich. Deshalb sei auch nicht aus ihrem aktuellen Interview mit der Deutschen Presse-Agentur zitiert, sondern aus einer Rezension zu dem Kapsamer-Buch, die von einem stammt, der mit dem „brüderlichen Entsorger“ eng verbunden war. Klaus Schultz, früherer Intendant des Münchner Gärtnerplatztheaters, wurde in der Endphase der Ära Wolfgang Wagners eigens als freier Mitarbeiter der Festspielleitung engagiert für den Fall, dass der greise Festspielleiter die Geschäfte nicht mehr führen könne (was bekanntlich eintraf, allerdings ohne die Zuarbeit Schultzens, denn de facto fungierte Jahre lang Gudrun Wagner als Festspielleiterin). Unmittelbar vor Eröffnung der Festspiele 2011 schrieb Schultz in der Tageszeitung Die Welt unter anderem:
Die Bayreuther Festspiele werden in diesem Jahr zum hundertsten Mal veranstaltet. Sechzig Jahre nach dem entschiedenen mutigen Neuanfang ist es um die Erinnerung an Wieland Wagner im heutigen Bayreuth indes nicht gut bestellt. 1991 gab es noch eine Ausstellung zu seinen Inszenierungen, nichts dergleichen in diesem Jahr. Dagegen, neben den Festspielaufführungen, sehr viel Divertissement, Marketing und publikumswirksame „Öffnung“. Die Bayreuther Festspiele, sechzig Jahre nach Eröffnung ihrer zweiten Chance, haben allen Grund, sich wieder den Impulsen und dem Beitrag Wieland Wagners zuzuwenden, wie sie sich überhaupt mit allen Kapiteln ihrer eigenen Geschichte ernsthaft werden auseinandersetzen müssen, wenn sie nicht wollen, dass sie nur ein Kult-Event seien und aus den Richard-Wagner-Festspielen dereinst, Disneyland ähnlich, Wagnerland werde.
Ein wichtiger Zeitzeuge der Ära Neubayreuths, Claus-Henning Bachmann, verfasste für Gondroms Festspielmagazin 1997 unter dem Titel Das geträumte Sein und das traumlose Nichts einen Essay über Wieland Wagner und seine Bayreuther Inszenierungen. Darin heißt es unter anderem: „Wieland Wagner war ein introvertierter, aber auch ein politischer Mensch; beides ging gut zusammen und mußte nicht beredet werden – über sein ‚Linkssein‘ machte er Witze. Symmetrien waren ihm ästhetisch wichtig, kunsthistorisch, architektonisch – Synthesen philosophisch, Vereinigungen des Unvereinbaren; damit lebte er, daran rieb er sich, das las und hörte er, der sich nicht als Wagnerianer fühlte (‚ein absurder Begriff‘), immer wieder aus Wagners Werken.“
Was es mit dem Werkstatt-Begriff auf sich hat – »dieser Ausdruck«, schreibt Bachmann, »hatte bis zu Wielands Wagners Tod Berechtigung, danach aber nicht mehr« –, erläutert der aus einer jüdischen Familie stammende Musikjournalist, Dramaturg und Regisseur am Beispiel von Wielands Parsifal-Inszenierung von 1951, die bis einschließlich 1973 jedes Jahr auf dem Spielplan der Festspiele stand, es auf 101 Aufführungen brachte und damit hinter Wagners Uraufführungsinszenierung von 1882 auf Rang 2 der meist gespielten Werke in Bayreuth schaffte.
Was unter Wieland Wagner (der sich damit freilich an der Seite Rennerts, Felsensteins etc. befand) eine neue Dimension erlangte, ist der spielende Mensch. An Gustav Neidlinger, den Klingsor seiner „Parsifal“-Inszenierung, schrieb Wieland Wagner vom Krankenbett aus: „Ich weiß, daß Sie in den letzten Jahren hauptsächlich damit beschäftigt waren, Ihre Lungenverhältnisse nach dem berühmten Tempo von Knappertsbusch in der Klingsor-Szene einzurichten […]. Nun ist doch in diesem Jahr endlich mal wieder in dieser Szene der Teufel los, den Richard Wagner im Orchester herumtoben läßt. Ich freue mich sogar festzustellen, daß die Szene unter Herrn Boulez noch teuflischer sein wird wie damals unter Clemens Krauss. Warum singen Sie nun dazu, als ob Knappertsbusch am Pult stünde? Sie singen den ganzen Klingsor […] wie einen bürgerlichen älteren Herrn, der Schwierigkeiten mit seinem Dienstmädchen hat. Warum so bürgerlich? Warum so brav? Gehen Sie doch los wie der Teufel, dem man viel Senf auf den Schwanz geschmiert hat. Es geht doch in dieser Auseinandersetzung um Sein oder Nichtsein.“
Den ersten Wielandschen „Parsifal“ von 1951 hatte Knappertsbusch dirigiert, schon damals nicht im Einverständnis mit dem Regisseur, dem er gleichwohl bis 1965 (Knappertsbusch starb fast auf den Tag genau ein Jahr vor Wieland) die Treue hielt. Wieland Wagner äußerte in dem schon erwähnten Gespräch 1964 mit gegenüber: „Was ist am ‚Parsifal‘ noch von 1951? Die Scheibe, der Gralstempel, der Heilige See. Sonst ist alles anders: die Kundry-Szene, der Zaubergarten, der Karfreitag, der Tempel am Schluß. Weil konstant weitergearbeitet wurde, hat das niemand gemerkt. Nur der Grundriß – im technischen und geistigen Sinne – ist geblieben.“
Den Grundriß bildeten, sage ich heute, „Parsifal“, „Ring“ (beides von 1951) und „Tristan und Isolde“ (1952) gemeinsam; in einer Art innerer Einheit, gekennzeichnet durch die Appia-Bühne, das Anknüpfen an die expressionistische Bühnenraum-Gestaltung und (bereits im „Tristan“) durch die Ortlosigkeit. Ich sprach damals, etwas hilflos in der Wortwahl, immer wieder von „Unfaßlichkeit“, „Unermeßlichkeit“ und „Unendlichkeit“. Ich meinte damit fehlende Begrenzungen, so, als ginge die Bühne in das Draußen, in die eben nicht faßbare, mythisch grundierte „Welt“ bruchlos über. Dahinter stand – in Idee und Rezeption – das Wunschbild des Vergessens dessen, was durchaus faßbar in der Welt kurz zuvor unter deutscher Regie geschehen war.
Einer, der sich ebenfalls intensiv mit Wieland Wagner auseinandergesetzt hat, ist Oswald Georg Bauer, dramaturgischer Mitarbeiter von Wolfgang Wagner und langjähriger Festspiel-Pressechef, der unter anderem 1991 zum 25. Todestag Wielands eine große Ausstellung konzipierte. In seiner im Sommer 2016erschienenen zweibändigen Geschichte der Bayreuther Festspiele , die er uns im Januar 2017 im Großen VHS-Saal vorstellen wird, beschreibt Bauer auch, welche Bestürzung der frühe Tod Wieland Wagners auslöste. Er zitiert den Philosophen Ernst Bloch, der bei der Trauerfeier auf der Bühne des Festspielhauses sagte, dass man mehr als erschüttert, ja entsetzt vor diesem jähen Ende stehe. Wieland habe mit „all dem Muff, Schlendrian und vor allem dem Verbrechen, das sich mit Verstehen wie Mißverstehen ohnegleichen auch an das Werk Wagners knüpfte“, Schluss gemacht, er habe in kürzester Zeit das Werk „nicht nur aus der Befleckung der Nazis gerettet, sondern aus der edleren Dummheit und Unkenntnis jener befreit, die von diesem Werk sich so ahnungslos abkehrten.“
„Immer noch gültig und nicht veraltet“, so Bauer auch in seinen abschließenden Überlegungen zum Rückblick und Ausblick, „ist Wieland Wagners Forderung aus dem Jahr 1951 anlässlich der ersten Festspiele von Neubayreuth: Die Neugestaltung ‚unterliegt dem Wandel. Ihm ausweichen zu wollen, hieße die Tugend der Treue zum Laster der Erstarrung machen.‘ Wer dem ausweicht ‚wird zum Totengräber am Werk.‘ Er grenzte schon damals deutlich ab: Das Werk kann ‚von niemand zeitgemäß gemacht – oder modernisiert werden.‘ Ebenso ist es ein ›fruchtloser Versuch, alle Machtmittel moderner Technik in den Dienst einer kinohaften Realisierung des von Wagner doch nur innerlich Geschauten und Gedachten‹ zu stellen. In der Epoche von Neubayreuth schuf Wieland eine ‚Bayreuther Dramaturgie‘. Er war der Vordenker gewesen, seine Inszenierungen standen für Innovation, sie waren die richtungsweisenden Interpretationen, Vorbild und Diskussionsgrundlagen für die Wagner-Deutung allgemein und weltweit.“
Dem kann nur noch zwei Sätze Wieland Wagners nachreichen, die auch seiner Nichte Katharina in den Ohren klingen müssten. Zum Beispiel: „Ich halte es für eine meiner wesentlichen Aufgaben, Menschen von besonderem geistigen Format, die früher aus vielen Gründen einen weiten Bogen um das Werk Wagners gemacht haben, für dieses Werk zu interessieren.“ Und ein letztes Wieland-Zitat: „Früher war jeder auf dem Standpunkt gestanden: Was Bayreuth macht, ist sakrosankt. Ich betrachte uns lediglich als einen Teil der Bühnen der ganzen Welt, die die Aufgabe an bevorzugter Stelle haben, und damit die größere Verpflichtung, bessere Wagneraufführungen zu machen wie anderswo.“
Aktualisierte und erweiterte Version eines 2013 zuerst veröffentlichten Beitrags in meinem Blog zum Wagner-Jahr auf www.infranken.de
Ähnliche Beiträge
- „A weng göttlich“ 30. August 2019
- Raum und Handwerk 7. November 2022
- Neubayreuth: Mythos und Realität der „Stunde Null“ 13. September 2022
- Abschied von Oswald Georg Bauer 16. Dezember 2023
- Oswald Georg Bauer, der Festspielchronist 2. Januar 2017