Was passiert, wenn man in das Meer von Richard Wagners über 10 000 Briefen ein paar flache Steine wirft? Natürlich zieht das Kreise – sogar erstaunlich viele und weit reichende, wenn jemand wie Martin Dürrer sie geworfen hat. Das durften alle erleben, die am 11. Oktober 2016 zum Vortragsabend des Editionsleiters der Richard-Wagner-Briefausgabe ins Hotel Bamberger Hof gekommen waren. Denn der in Würzburg wirkende Musikwissenschaftler kennt Wagners Leben, Werk und das ganze Drumherum so umfassend und detailliert, dass er souverän anhand einer einzigen Brief- oder Telegrammsituation vom Hundertsten ins Tausendste kommen kann und trotzdem nicht den Überblick verliert. Was leicht passieren könnte, denn die bisher erschienenen Bände der Briefgesamtausgabe bringen es im Bücherregal inzwischen auf einen guten Meter.
Für Bamberg hatte Dürrer neben der notwendigen Einführung in das vor fast fünfzig Jahren begonnenen und aktuell im Jahr 1872 gelandeten Editionsprojekt signifikante Beispiele aus dem Briefwechsel: erstens für einen nicht abgeschickten Brief (Stichwort: Wagner als Schriftsteller), zweitens für einen Praxis-Brief (Wagner als Dirigent und Beethoveninterpret), drittens für einen fingierten Brief (Wagner als Gelegenheitsdichter) und viertens für einen konspirativen Brief (Wagners berühmtestes Geburtstagsgeschenk). Wenigstens auf das Praxis-Beispiel soll hier kurz eingegangen werden, denn es beleuchtet nicht nur die für die Forschung zuweilen kuriose Auffindungssituation, sondern ein Musikstück, mit dem sich die Teilnehmer unserer letzten großen Reise in mehrfacher Weise auseinandersetzen konnten: Beethovens Eroica.
Genauer gesagt geht es um die berühmte Dissonanzstelle im 1. Satz, wo laut Dürrer kurz vor Eintritt der eigentlichen Reprise das Thema vom Horn im pianissimo, begleitet von 1. und 2. Violine im pianissimo possibile vorweggenommen wird. Auf Französisch schrieb Wagner an den Komponisten, Musikschriftsteller und Verleger Andrès Vidal y Llimona in Barcelona vom 4. Juli 1870 (siehe Abbildung, im Folgenden auf Deutsch): „Die Passage [Notenbeispiel] findet sich sehr wohl in der Partitur von Beethoven; sie wird als ‚Antizipation‘ der Tonika angesehen, die an einigen Stellen vom Meister verwendet worden ist. Was mich persönlich angeht, ich finde, man könnte das As in der Begleitung als Schreibfehler ansehen, ohne dem Effekt der Antizipation des Themas zu schaden, das heißt, ich messe dieser Sache keine große Bedeutung bei.“
Martin Dürrer kommentierte das natürlich in aller Ausführlichkeit:
In dem vorliegenden Brief zeigt Wagner sich bei der Interpretation der Stelle etwas zurückhaltender als in seiner eigenen Dirigierpraxis. Anlässlich des Wagner-Konzert in Wien am 12. Mai 1872 berichtet der Musikreferent der Wiener Abendpost August Wilhelm Ambros: „Drittens war das berühmte As der zweiten Geige in zarter Rücksicht auf das damit zusammentreffende G des Waldhorns in G verbessert oder verschlimmbessert.“ Ein weiterer Beleg zu der Stelle findet sich in den Tagebüchern Cosima Wagners, Eintrag vom 5. Februar 1871: „Das Gespräch beim ‚Bier‘ führt uns auf die Eroica und die berühmte Dissonanz, die R. perhorresziert, weil er jede Exzentrizität als solche nicht ausstehen kann; hier erhöht sie nicht den Ausdruck des Gedankens, sondern schadet ihm, leitet davon ab.“ (CWT, Bd. 1, S. 352). – Auch von Hans von Bülow gibt es Zeugnisse, dass er diese Stelle harmonisch „entschärft“ hat, wie Hans-Joachim Hinrichsen in seiner Arbeit über die ‚Musikalische Interpretation‘ Bülows nachgewiesen hat. In der Wagner-Schule war man sich in dieser Frage offenbar einig.
Bleibt noch der Exkurs über die Auffindung dieses Schreibens. Der Nachweis konnte noch kurz vor Redaktionsschluss ins Wagner-Briefverzeichnis aufgenommen worden. Auf die Publikation, in der der Brief als Faksimile abgebildet ist, wurde Martin Dürrer zufällig aufmerksam, als ihm in der Bibliothek des Erlanger Instituts für Musikwissenschaft in der Signaturgruppe X (etwa für Varia, Incerta et Kuriosa) ein Sammelband mit der Aufschrift „Wagneriana“ auffiel. Darin waren verschiedene Zeitschriftenhefte zusammengebunden, die Leo Fremgen, ein aufmüpfiger Pfarrer, Wagner-Autor und früherer Bibliotheksbenutzer dem Institut offenbar in den 1970er Jahren gespendet hatte. Darin fand sich unter anderem die spanische Wagnerzeitung Monsalvat, in der der Brief in Erstveröffentlichung und mit Quellenangabe abgebildet war.
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