Überzeitlich und unerschöpflich

Kai Weß­ler bei sei­nem Vor­trag im Ho­tel Bam­ber­ger Hof Foto: Dun­ja Braun

„Al­les klar?“ Mit die­ser eher rhe­to­ri­schen Fra­ge setz­te Kai Weß­ler, lei­der nur noch bis Sai­son­ende Mu­sik­thea­ter­dra­ma­turg am Staats­thea­ter Nürn­berg, bei sei­nem Vor­trag über die Zeit in Ri­chard Wag­ners Te­tra­lo­gie „Der Ring des Ni­be­lun­gen“ je­weils eine in­halt­li­che Zä­sur. Den rund sech­zig Zu­hö­rern war nach sei­nen bril­lan­ten, sprit­zi­gen und sehr dich­ten Aus­füh­run­gen in je­dem Fall mehr klar als vor­her – ganz un­ab­hän­gig vom je­wei­li­gen Wissensstand.

Zu Be­ginn ging er zu­nächst zu­rück in die Ent­ste­hungs­zeit mit ih­ren Lo­gen­thea­tern und der Gran­de Opé­ra. Wag­ners Thea­ter, sei­ne Fest­spie­le, sei­ne Mu­sik­dra­men soll­ten et­was ganz an­de­res, soll­ten so­wohl bau­lich als auch in­halt­lich und mu­si­ka­lisch eine ge­sell­schaft­li­che Uto­pie sein – nicht zu­letzt auch von der Zeit her, die je­der Be­su­cher sich neh­men soll­te für die­se Kunst.

Ob­wohl Wag­ner für den „Ring“ als Vor­la­gen das Ni­be­lun­gen­lied und den Edda-Sa­gen­kreis nutz­te, ging es ihm, so Weß­ler, vor al­lem dar­um, ei­nen von der Ge­schich­te ab­ge­lös­ten My­thos zu schaf­fen. „Der ‚Ring‘ ist über­zeit­lich, für alle Zei­ten un­er­schöpf­lich, all­ge­mein­gül­tig, kann im­mer er­zählt und neu in­ter­pre­tiert wer­den.“ Die My­then im „Ring“ ba­sier­ten auf zwei kon­kur­rie­ren­den Sys­te­men: auf der durch Ver­trä­ge ge­ord­ne­ten Zi­vi­li­sa­ti­on des ver­meint­lich gu­ten Göt­ter­herr­schers Wo­tan, der im­mer mehr ins Böse hin­ein­rut­sche, und dem in­dus­trie­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­gen­bild mit dem Rhein­gold-Räu­ber Al­be­rich an der Spit­ze, der eine Fi­gur wie Lu­zi­fer oder Darth Va­der sei. „Wag­ner woll­te nicht nur My­then er­zäh­len, son­dern lie­fer­te da­mit auch eine Al­le­go­rie auf eine po­li­ti­sche Ge­gen­wart. Im ‚Ring‘ geht es um Schul­den und Schuld, um das Schei­tern von Po­li­tik.“ Was sich mu­si­ka­lisch un­ter an­de­rem schon aus dem „Rheingold“-Schluss ab­le­sen las­se: „Die Apo­theo­se steht in Des-Dur, wird durch ei­nen Halb­ton un­ter­mi­niert, steht auf wack­li­gen Beinen.“

Da Mu­sik­thea­ter im­mer in der Ge­gen­wart statt­fin­de, also eine Kunst des er­leb­ten Mo­ments sei, in dem Din­ge „live“ ge­zeigt wür­den, sei der „Ring“ letzt­lich ein idea­les Ein­stei­ger­stück. „Eine Schul­klas­se ohne Vor­wis­sen wird ver­ste­hen, was da pas­siert, weil es so vie­le Er­zäh­lun­gen gibt, Vor­ah­nun­gen, Er­in­ne­run­gen und im­mer wie­der Zu­sam­men­fas­sun­gen, was bis­her ge­schah – frei nach den ‚Be­kennt­nis­sen‘ des Au­gus­ti­nus, wo­nach Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft nur Er­in­ne­run­gen be­zie­hungs­wei­se Er­war­tun­gen in der Ge­gen­wart sind.“ Die gern be­müh­ten Leit­mo­ti­ve sei­en im Üb­ri­gen bei wei­tem nicht so ein­deu­ti­ge mu­si­ka­li­sche Weg­wei­ser, wie es ein­schlä­gi­ge und gern auch in Wag­ner­ver­bän­den kur­sie­ren­de Ta­bel­len suggerierten.

Mit über­zeu­gen­den Bei­spie­len geiz­te Kai Weß­ler nicht, und auch auf Fra­gen wuss­te er viel­sa­gen­de Ant­wor­ten – so­gar auf die „Kil­ler­fra­ge“ nach Wag­ner und der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Und ob Wag­ner es ernst ge­meint habe mit sei­nem ur­sprüng­li­chen Plan, das pro­vi­so­ri­sche Bret­ter­thea­ter am Ran­de des Rheins nach der „Ring“-Uraufführung auch ab­zu­fa­ckeln? Na­tür­lich nicht, denn Wag­ner sei es schon auch um ein Mo­no­pol sei­ner Wer­ke ge­gan­gen: „Das war eher die Pro­vo­ka­ti­on ei­nes Kunst­ak­ti­vis­ten vom Schla­ge ei­nes Jo­seph Beuys.“ Be­geis­ter­ter und dank­ba­rer Beifall.

Kai Weß­ler hat in die­ser Sai­son am Staats­thea­ter Nürn­berg alle Kin­der­kon­zer­te kon­zi­piert und be­treut als Dra­ma­turg un­ter an­de­rem noch die Neu­in­sze­nie­run­gen von Mon­te­ver­dis „Rück­kehr des Odys­seus“, Ros­si­nis „Bar­bier von Se­vil­la“ und den sel­ten auf­ge­führ­ten „Sol­da­ten“ von Bernd Alo­is Zim­mer­manns, zu de­nen er auch ein Sym­po­si­um or­ga­ni­siert und lei­tet. Ge­mein­sam mit In­ten­dant Pe­ter Thei­ler wech­selt er zur nächs­ten Spiel­zeit an die Sem­per­oper Dresden.