Hanyi Du, Philosophiestudentin, Pianistin und unsere Bayreuth-Stipendiatin 2021, hat für uns ihre Gedanken zu ihrem Festspiel- und Wagnererlebnis festgehalten.
Vor dem Hotel „Rheingold“ standen viele festlich gekleidete Damen mit einer Extravaganz, die ich bisher nie gesehen habe, sehnsuchtsvoll auf ihren Shuttlebus zum Festspiel wartend. Das Festspiel-Erlebnis beginnt für die BesucherInnen nicht erst auf dem grünen Hügel, sondern bereits mit ihrer Anreise nach Bayreuth bzw. der Ankunft im Hotel, spätestens mit dem Sich-Anziehen und -Schmücken. Im Zimmer angekommen sah ich gleich die Noten vom sogenannten „Genesis-Motiv“ aus Wagners „Rheingold“ auf die Wand gedruckt. Meine Zimmerkollegin und ich packten unsere eleganten Kleider aus, bewunderten die Garderobe des Gegenübers, fragten uns aber, ob wir für so ein besonderes Event vielleicht doch „underdressed“ sein werden. Danach informierten wir uns gemeinsam mithilfe der Unterlagen, die wir von der Richard-Wagner-Stipendienstiftung erhielten, sowie im Internet, was man auf dem Weg zum Festspiel sowie während des Aufenthalts im Festspielhaus darf oder auch unterlassen sollte. Ich merkte, dass ich in eine außergewöhnliche Sphäre eingetreten bin, in der besondere „Regeln“ herrschen.
Für den Kulturhistoriker Johan Huizinga ist jedes „Spiel“ ein „geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten“ (Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 2009, S. 18 f.). Als Phänomen des Spiels gelten daher nicht nur Kinderspiele, sondern auch Musik, Theater, Sport, „Ritus, Magie, Liturgie, Sakrament und Mysterium“ (a. a. O., 28). Bei allen diesen Phänomenen wird die Geltung der „gewöhnlichen“ Wirklichkeit zeitweilig suspendiert und gleichzeitig die Unterwerfung gegenüber einer fiktiven und doch zugleich unbedingten Ordnung abverlangt. In diesem Sinne gibt es wohl kein offensichtlicheres „Spiel“ als die Bayreuther Festspiele. Aktuell lässt sich in Deutschland kaum ein anderes „Spiel“ finden, wo die Heraushebung aus dem räumlichen und sozialen Kontinuum und die Überhöhung von allem „Profanen“, Normalen und Alltäglichen auf solche Weise sichtbar wird. Ein Berg jenseits des urbanen Getrubels, ein Gebäude, in dem jegliches Detail der Innenausstattung nicht dem physischen Komfort, sondern dem optimalen Klangerlebnis gewidmet ist; eine Bühne, auf der sich auserwählte Musiker und Bühnenschaffenden aus der ganzen Welt versammeln, einander befruchten und ein exklusives Publikum verzaubern. In dieser abgesonderten Welt herrscht die Eigenlogik der schönen Künste sowie die festspieleigenen Verhaltensnormen. So durfte ich ebenfalls, als eine der „auserwählten“ ZuschauerInnen, in dieses Universum eintauchen. Aus jedem „Spiel“ wird „heiliger Ernst“: Die Mischung aus Ehrfurcht und Faszination, die ich beim Betreten des Festspielhauses empfand, erinnerte mich an Rudolf Ottos Beschreibung von der menschlichen Grunderfahrung vom „Heiligen“: sowohl „mysterium tremendum“ als auch „mysterium fascinans“.
Der Ganzheits- bzw. Totalitätsanspruch des Konzepts vom Gesamtkunstwerk ist, wenn man sich persönlich auf dem von Wagner bestimmten Schauplatz befindet, intensiv spür- und erlebbar: Durch das Zusammenspiel von Architektur, Musik, Gesang, Schauspiel, Bühnenbild und Atmosphäre wurden alle meine Sinnen gleichzeitig aktiviert und von der Totalität des Schönen überwältigt. Die Vereinigung künstlerischer Gattungen erhielt, insbesondere bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenierung durch den Einsatz und die kunstvolle Verschränkung von Video-Aufnahmen sowie Live-Übertragung ihre „digital extension“. Dadurch werden mehrere Realitätsebenen – sowohl das Geschehen auf der Bühne als auch hinter der Bühne sowie außerhalb des Festspielhauses – zum Medium eines ganzheitlichen ästhetischen Erlebnisses verwandelt.
Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen, insbesondere in Deutschland, den religiösen bzw. kultischen Charakter des Festspiels, zwar nicht komplett ablehnen, ihm jedoch skeptisch gegenüberstehen. Gerade in einigen dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert haben einfache Bürger im Rausch der Massenfeste ihre Individualität aufgegeben, ihren Verstand ausgeschaltet und sogar dem totalen Krieg autoritärer Staatsführung jubelnd zugestimmt. Nach meinem Besuch der Bayreuther Festspiele glaube ich, dass viele ZuschauerInnen ihre Sehnsucht nach Ritualen in Bayreuth auf intensive, dennoch eher „kontrollierte“ Weise ausleben können – trotz maximaler sinnlicher und affektiver Ansprache werden die Zuschauer gelegentlich zum kritischen Nachdenken angeregt, ja sogar provoziert. Barrie Koskys Inszenierung der „Meistersinger“ ist ein gutes Beispiel dafür. Die Schlussszene des ersten Aktes ist mir bis heute am stärksten in Erinnerung geblieben: die Prügelei der lustigen Figuren in mittelalterlichen Gewändern im Wohnzimmer Wagners verschwindet in die dunkle Tiefe der Bühne. Auf einem Mal steht Hans Sachs, der wie der historische Wagner gekleidet ist, ganz alleine am Pult des Angeklagten im naturalistisch nachgestellten Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes. Nach wenigen Sekunden wurde es im Auditorium plötzlich ganz still und dunkel, bevor stürmischer Applaus einsetzte. Paul Valéry schrieb, dass gegenüber den Spielregeln kein Skeptizismus möglich ist. („Il n’y a pas de scepticisme possible à l’égard des règles d’un jeu.“ Discours de réception à l’Académie française, Paris 1927, S. 72). Auch für Huizinga lebt jedes „Spiel“ gewissermaßen davon, dass die Spielregeln eingehalten werden – „Die geringste Abweichung von ihr verdirbt das Spiel, nimmt seinen Charakter und macht es wertlos“ (Huizinga: Homo Ludens, Hamburg 2009, S. 19). Aber machen nicht gerade die raffinierten „Verstöße“ den bereits etablierten, „heiligen“ Spielregeln gegenüber das Spiel interessanter?
Für mich blieben bis heute viele Fragen offen: widerspricht es nicht etwa dem Anti-Anti-semitistischen Grundtenor der Inszenierung, dass der Beckmesser als beabsichtigte „Judenkarikatur“ ein deutlich jüngeres Mädchen (nämlich Eva) anbaggert und das neue Lied von Hans Sachs in dessen Abwesenheit stiehlt, obwohl er dieses in der originalen Handlung geschenkt erhält? Gehören nicht Habgier und Unmoralität zu den bösartigsten Stereotypen über die jüdische Bevölkerung? Auch bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenierung frage ich mich, was für persönliche Erfahrungen der Regisseur wohl mit seinen links-orientierten Mitbürgern gemacht hat, dass er die Venus-Gruppe mehr oder weniger in Anspielung auf jene als skrupellose Egoisten darstellt, die im Namen von „Freiheit“ auf Kosten des Wohles ihrer Mitmenschen hedonistische Ziele verfolgen. Aber so ist es eben in der Kunst, dass sie, statt ihren Rezipienten eindeutige Antworten zu geben, diese eher zum Fragen anregen soll.
Neben den Opernvorstellungen habe ich noch das Richard-Wagner-Museum, Haus Wahnfried, das Franz-Liszt-Haus, das Jean-Paul-Museum und das Markgräfliche Opernhaus sowie die Bayreuther Altstadt, teils mit hochinteressanten Führungen, besucht. Von der Betriebsführung in der Klaviermanufaktur Steingraeber&Söhne war ich besonders angetan. Hinter dem eher unscheinbaren Eingang sowie dem „normalen“ Verkaufsbereich im vorderen Haus versteckt sich ein ganzer Kosmos: Klaviere und Flügel aus allen Epochen erwarteten uns in wunderschönen historischen Sälen, darunter auch der Liszt-Flügel aus dem Jahr 1873 und das für Wagner angefertigte „Gralsglockenklavier“. In den Werkstätten demonstrierte Udo Schmidt-Steingraeber als Leiter der Manufaktur an den vielen unfertigen Instrumenten, die sich in unterschiedlichen Baustadien befinden, die Kunst des Klavier- und Flügelbaus. Dort ist mir bewusst geworden, wieviel Mühen und schöpferische Genies hinter jedem Detail des Instruments, selbst in einem kleinen Hammerkopf, stecken.
Bei allen Aktivitäten hat es mir große Freude bereitet, Stipendiaten und Stipendiatinnen aus der ganzen Welt kennenlernen zu können. Bisher hatte ich noch nie die Gelegenheit, intensive Zeit mit Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern zu verbringen und mich über so vielfältige Themen auszutauschen. Dies war vor allem für mich als Philosophie-Studentin eine augen-öffnende Erfahrung, da ich in meinem universitären Alltag selten Sängern, Musikern, Regisseuren oder gar Dramaturgen begegne. Auch das internationale Stipendiatenkonzert mit anschließendem „Open-Stage“ habe ich besonders genossen: Wie schön, dass man die DarstellerInnen der Bühne ebenfalls als Person kennenlernen kann; und wie schön, Menschen, die man als Person kennen gelernt hat, als leidenschaftliche KünsterInnen zu erleben! Insbesondere war ich von dem „demokratischen“ Konzept der Musikaufführung, die die Open-Stage verkörpert, begeistert. Dort konnte sich jeder spontan alleine oder spontan mit anderen einfach auf die Bühne stellen, und schon entstand ein wunderbares Konzert in lockerer Atmosphäre. Auch die Zuschauer konnten ganz zwanglos kommen, gehen, sich zusammensetzen und jubeln.
Die sechs Tage in Bayreuth vergingen wie im Flug. Es war ein großes Privileg für mich, dieses Jahr trotz der aufgrund der Corona-Gefährdung fast auf die Hälfe reduzierten Zuschauerzahl drei Aufführungen zu besuchen! Ich wünsche von Herzen, dass zukünftig mehr Menschen auf dieser Welt, insbesondere Menschen in Ausbildung und Studium, behinderte Menschen sowie Menschen diverser sozialer Hintergründe ebenfalls eine Chance haben, das „heilige Spiel“ auf dem grünen Hügel mitzuerleben und dieses noch lebendiger zu machen!
Auf der Homepage der Stipendienstiftung gibt es Video sowie eine Bildergalerie zu den Stipendientagen 2021 – hin und wieder mit Hanyi Du.
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