Sehen, was schon da war

Der Jazz- und Pop-Pia­nist Ma­ri­us Hol­land hat bei sei­nem Bay­reuth-Sti­pen­di­um auf An­hieb mehr von Ri­chard Wag­ner und Wag­ners Kunst ver­stan­den als vie­le ein­ge­fleisch­te Wag­ne­ria­ner. Hier sein groß­ar­ti­ger Be­richt über sei­ne Eindrücke.

Nachts auf dem Markt­platz in Bay­reuth: Ma­ri­us Hol­land (Mit­te) mit sei­nen neu­en Freun­den aus Eng­land und Ir­land. Foto: privat

Was ma­chen ein iri­scher Thea­ter­re­gis­seur, eine in Lon­don le­ben­de klas­si­sche Pia­nis­tin und ein in den Nie­der­lan­den stu­die­ren­der Jazz- und Pop-Pia­nist um 5 Uhr mor­gens auf ein Taxi war­tend mit­ten im deut­schen Bay­reuth? Sie se­hen jung aus, ein paar Drinks wer­den wohl im Spiel ge­we­sen sein. Sie un­ter­hal­ten sich an­ge­regt und mit­ge­ris­sen über „Tann­häu­ser“. Auch wenn es von au­ßen viel­leicht so scheint, sind die­se drei nicht alte Be­kann­te, die sich für ein Wie­der­se­hen und ein um die Häu­ser zie­hen in Deutsch­land ge­trof­fen ha­ben. Es sind Sti­pen­dia­ten der Wag­ner-Sti­pen­di­en­stif­tung, die ge­mein­sam ih­ren vier­ten Abend im Ka­na­pee, ei­ner lo­ka­len Bar, ver­brach­ten. Ein paar Stun­den zu­vor durf­ten sie im Fest­spiel­haus in Bay­reuth ei­ner zu Trä­nen rüh­ren­den Vor­stel­lung bei­woh­nen. Die­se In­sze­nie­rung hin­ter­lässt nach die­sem Abend nicht nur ein­drück­li­che Bil­der vor dem his­to­ri­schen Bay­reuth, son­dern be­kommt auch ei­nen be­son­de­ren Platz in den künst­le­ri­schen We­gen die­ser drei jun­gen Krea­ti­ven. Aber dazu spä­ter mehr…

Die Art und Wei­se, auf die man Wag­ners Opern in die­sem Fest­spiel­haus er­le­ben kann, ist ein­zig­ar­tig und sehr be­son­ders. Als Jazz- und Pop­mu­si­ker ver­brin­ge ich nicht nur viel Zeit in Pro­be­räu­men und auf Büh­nen, son­dern sehe auch ge­fühlt das In­ne­re von Auf­nah­me­stu­di­os öf­ter als mein ei­ge­nes Stu­den­ten­zim­mer. Sound spielt in mei­nem täg­li­chen Le­ben eine gro­ße Rol­le. Trotz­dem habe ich bis­her noch kaum ei­nen Raum er­fah­ren kön­nen, in dem ein Or­ches­ter so gut klingt, wie im Fest­spiel­haus in Bay­reuth. Ob­wohl ich als Mu­sik-, Kunst- und Thea­ter­en­thu­si­ast mit­ten in Eu­ro­pa heut­zu­ta­ge schon die un­ter­schied­lichs­ten künst­le­ri­schen Er­leb­nis­se ma­chen durf­te, ha­ben mich die Wag­ner-Fest­spie­le doch noch sehr an­ders mit­ge­ris­sen. In­fol­ge­des­sen kann ich mir kaum aus­ma­len, welch eine Be­deu­tung Wag­ners Ge­samt­kunst­wer­ke für die Men­schen in Bay­reuth im 19. Jahr­hun­dert ge­habt ha­ben muss. Hin­ge­gen ih­rer vor­her­ge­hen­den Thea­ter­welt gleicht un­se­re heu­ti­ge Art Me­di­en zu kon­su­mie­ren tat­säch­lich in meh­re­ren Punk­ten der Aus­füh­rungs­pra­xis Wag­ners: Kino. Heut­zu­ta­ge eine der ge­wöhn­lichs­ten kul­tu­rel­len Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten über­haupt. Ein Ki­no­be­such kenn­zeich­net sich durch das Sit­zen im ver­dun­kel­ten Raum, durch ein deut­lich bes­se­res Sound­er­leb­nis als zu­hau­se vor dem Fern­se­her, ohne die Quel­le der Mu­sik se­hen zu kön­nen und durch Zen­tral­per­spek­ti­ve für je­den im Pu­bli­kum. Das sind Wag­ners In­no­va­tio­nen, die bis heu­te täg­lich von Mil­lio­nen Men­schen so an­ge­wandt und er­fah­ren werden.

Für mich als Mu­si­ker rei­chen Wag­ners Ein­flüs­se na­tür­lich noch ein gu­tes Stück über den stan­dar­di­sier­ten Ki­no­be­such hin­aus. Nicht nur sei­ne mu­si­ka­li­schen Mo­ti­ve, Me­lo­dien und Har­mo­nien selbst, son­dern auch die Art, sich Kunst zu nä­hern, nimmt mich mit. In mei­nen Au­gen ist es egal, ob man Jazz, Pop oder klas­si­sche Mu­sik macht, ob man kre­iert als Autor*in, Bühnenbildner*in oder Regisseur*in. Denn als krea­tiv schaf­fen­de Per­son be­ginnt al­les beim Selbst­kon­su­mie­ren von Kunst. Se­hen, was schon da war. Dr. Dre sam­pel­te Songs der 60er, 70er, 80er und brach­te sie im Hip Hop in ei­nen neu­en Kon­text. Sei­ne In­spi­ra­ti­on, die Mu­si­ker die­ser Jahr­zehn­te, be­schäf­tig­ten sich wie­der­um mit Ge­ne­ra­tio­nen vor ih­nen, Mi­les Da­vis und Char­lie Par­ker. Ge­nau­so be­schäf­tig­te sich Wag­ner z.B. mit Beet­ho­ven, las Ho­mer und Shake­speare. Glei­cher­ma­ßen sehe ich es als mei­ne Pflicht, mich mit den Ideen der Ver­gan­gen­heit aus­ein­an­der zu set­zen. Das, was mir ge­fällt – mit­neh­men. Das hin­ge­gen, was für mich nicht passt – neu den­ken. Eine Wo­che in Wag­ners Welt von 2023 be­stärkt mich in mei­ner Her­an­ge­hens­wei­se als Krea­ti­ver, denn Wag­ners Ar­beit geht über die des Mu­sik­schaf­fens hin­aus: Er schreibt sei­ne Thea­ter­tex­te selbst, führt auch Re­gie. Ge­nau das ist es, was mich als up­co­ming Ar­tist seit ei­ner Wei­le stark be­schäf­tigt. Da ich an ei­ner Kunst­hoch­schu­le mit vie­len an­de­ren künst­le­ri­schen Lern­rich­tun­gen stu­die­re, in­ter­es­sie­re ich mich zu­neh­mend für den Aus­tausch mit den un­ter­schied­lichs­ten Dis­zi­pli­nen. Den Wert, sich in meh­re­re Rich­tun­gen krea­tiv aus­zu­le­ben und dies in der ei­ge­nen Ar­beit zu­sam­men zu brin­gen, fin­de ich im­mens. Wie Wag­ner, stre­be auch ich nach künst­le­ri­schen Fer­tig­kei­ten, die zur Mu­sik bei­tra­gen, die­se an­fül­len, aber auch dar­über hin­aus­ge­hen. Wag­ners Schaf­fen und das Er­le­ben sei­ner Ge­samt­kunst­wer­ke ge­ben da­für Stoff zur Inspiration.

Ab­ge­se­hen von Wag­ners Wer­ken fin­det in die­ser Wo­che al­ler­dings au­to­ma­tisch noch et­was an­de­res statt. Durch die vie­len ver­ge­be­nen Sti­pen­di­en, wird ein be­son­de­rer Ort kre­iert. Die Ba­sis hier­für bie­tet Wag­ner und sei­ne Mu­sik. Kern wer­den die Be­geg­nun­gen mit de­nen, die hier­für nach Bay­reuth ge­zo­gen wer­den. Eine Mög­lich­keit für über 200 Künstler*innen aus al­ler Welt sich ken­nen zu ler­nen, aus­zu­tau­schen, Kon­tak­te zu knüp­fen und ge­mein­sam eine in­spi­rie­ren­de und vor al­lem be­son­de­re Zeit zu ha­ben. Fast wie ein letz­tes Mal Schullandheim.

Dar­über hin­aus habe ich mich vor ei­ni­gen Wo­chen mit Chris, ei­nem Sti­pen­dia­ten aus Dub­lin, in Ber­lin ge­trof­fen. Mit ei­ni­gen an­de­ren Stipendiat*innen bin ich noch im­mer über Whats­App und In­sta­gram im Aus­tausch. In nur ei­ner Wo­che habe ich mein Netz­werk im­mens mit neu­en in­ter­na­tio­na­len, di­ver­sen und sehr un­ter­schied­li­chen künst­le­ri­schen Kon­tak­ten er­wei­tert. Kon­tak­te, die da­für sor­gen, dass ich mich wei­ter­hin aus mei­ner ei­ge­nen Bubble, mit mei­nem ei­ge­nen spe­zi­fi­schen Back­ground, be­we­ge. Und doch gebe ich zu, dass wir na­tür­lich auch in den paar Ta­gen in Bay­reuth zu­sam­men in eine ganz ei­ge­nen Par­al­lel­welt ab­ge­taucht sind. Er­in­ne­run­gen hier­von blei­ben mir sehr si­cher noch lan­ge und da­mit zu­rück zum Anfang:

Raus aus dem Fest­spiel­haus, rein in die Pau­se von „Tann­häu­ser“. Ich lau­fe mit Chris in Rich­tung des Fest­spiel­parks, vor­bei an dem Au­s­tel­lungs­pro­jekt „Ver­stumm­te Stim­men – Die Ver­trei­bung der ‚Ju­den‘ aus der Oper 1933 bis 1945“, in dem die Pau­sen­auf­füh­rung der „Tannhäuser“-Inszenierung von To­bi­as Krat­zer statt­fin­det. Eine her­aus­ra­gen­de pro­gres­si­ve In­sze­nie­rung, die zeigt, was Oper im­stan­de ist zu leis­ten. Vor Rüh­rung wei­nen­de Zuschauer*innen se­hen wie ein Klein­wüch­si­ger, ein Dar­stel­ler als Tra­ves­tie­künst­ler und ein Clown auf der Büh­ne agie­ren, in dem glei­chen Ge­bäu­de in dem Hit­ler vor nicht ein­mal 100 Jah­ren re­gel­mä­ßig ein und aus ging.

Er­leb­nis­se wie die­se hal­ten sich als sehr ein­drück­li­che Bil­der in mei­nem Kopf fest, aber fal­len mir trotz­dem, oder ge­ra­de des­halb, schwer, sie nach­emp­find­bar in Wor­ten auf­zu­schrei­ben. Für mich dreht es sich hier dar­um, dass die Idee Kunst mit der rea­len Welt zu ver­knüp­fen, auf je­den Fall di­rekt über­zeu­gend ge­lun­gen ist. Was wür­de Wag­ner zu sol­chen Bil­dern sa­gen..? Ist ja ei­gent­lich auch egal, denn wie Dr. Sven Fried­rich in sei­ner Ein­füh­rung sinn­ge­mäß sag­te, wenn in dem Fest­spiel­haus nur ge­macht wer­den wür­de, was Wag­ner ge­woll­te hät­te, kön­ne man es ei­gent­lich di­rekt sein lassen.

Di­rekt sein las­sen. Ja, ge­nau, jetzt nur noch ei­nen höl­zer­nen Witz über die un­be­que­men Stüh­le, die man laut Un­zäh­li­ger an­schei­nend auch hät­te sein las­sen können …

Nein, Spaß bei Sei­te, mich ha­ben die Fest­spie­le ab­ge­holt und ich kom­me nächs­tes Jahr ger­ne wie­der zu­rück auf den grü­nen Hü­gel. Aber am Ende ist mir nichts wich­ti­ger, als dem ge­sam­ten Ri­chard-Wag­ner-Ver­band Bam­berg ein un­glaub­lich gro­ßes Wort des Dan­kes aus­zu­spre­chen: Dan­ke, dass ich das er­le­ben durf­te, mit so tol­len, in­spi­rie­ren­den Men­schen die­se un­glaub­li­chen Opern, In­sze­nie­run­gen in die­sem Haus zu se­hen. Zu­sätz­lich möch­te ich mich bei Ha­rald für den per­sön­li­chen Kon­takt wäh­rend des Sti­pen­di­ums bedanken.

Im Ge­gen­zug lade ich Sie alle herz­lichst zu mei­nem Sti­pen­dia­ten-Kon­zert in den Jazz­club Bam­berg am 17.05.2024 ein.

Sze­ne vom „Tannhäuser“-Pausenprogramm mit Os­kar Man­ni Lau­den­bach – Foto: https://​www​.ri​chard​-wag​ner​-sti​pen​di​en​stif​tung​.de/​d​e​/​b​i​l​d​e​r​g​a​l​e​r​i​e​/​b​i​l​d​e​r​g​a​l​e​r​i​e​-​2​0​2​3​.​h​tml

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