Ein „Tristan“, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt: Jochen Biganzoli inszeniert die Selbstauslöschung aller Hauptfiguren in einer Art Setzkasten.
Es ist ein radikaler Zugriff, den der Regisseur Jochen Biganzoli zuerst in fünf Vorstellungen am Theater Hagen und jetzt, nach mehreren coronabedingten Ausfällen, auch an der Oper in Halle an der Saale realisiert hat: Wagners „Tristan und Isolde“ als ein Kammerspiel im Wortsinn. In fünf verschiedenen Zimmern werden durchgängig und parallel Psychogramme der Hauptpersonen gezeigt – nicht Pirandellos sechs Figuren, die nach einem Autor suchen, sondern fünf todessüchtige Menschen in Monologen auf der solipsistischen Suche nach ihrem Ich, nach einem Du und Wir. Es ist zeitgenössisches Regietheater auf höchstem Niveau, eine auch ästhetisch runde Interpretation, in die auf wundersame Weise selbst ein Melot mit Frack und Schwert passt. Das Musikalische gelingt bemerkenswert gut, sowohl was die Staatskapelle Halle unter Michael Wendeberg und den nur zugespielten Herrenchor betrifft, als auch die Solistenschar, aus der Magdalena Anna Hofmann als sängerdarstellerisch in jeder Hinsicht fesselnde Isolde herausragt – übrigens die einzige Protagonistin, die an beiden Aufführungsorten zu erleben war.
„Bist du verrückt?“ soll sie gesagt haben, als der Regisseur sein Konzept vorstellte. Tatsächlich sind die Hauptsolisten extrem gefordert, denn sie sind schauspielerisch in allen drei Akten ständig präsent, allein mit sich selbst, ohne ein reales Gegenüber. Jochen Biganzoli und sein Team (Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Katharina Weissenborn, Video: Iwo Kurze) ignorieren die vorgegebenen Orte und Situationen, konzentrieren sich auf die innere Handlung. Die im Hier und Jetzt angesiedelte Interpretation abstrahiert und konkretisiert gleichzeitig, etabliert fünf Solo-Szenarien, in denen Tristan, Isolde, Brangäne, Marke und Kurwenal physisch und psychisch individuell die Unmöglichkeit und Vergeblichkeit von Liebe vorführen.
Was das inszenatorische Seziermesser freilegt, ist ungeheuer spannend. Alle Figuren unternehmen physische und psychische Fluchten, die beinahe zwangsläufig in den Untergang führen. Der weiß gekleidete Tristan (solide: Heiko Börner) in seinem gleißend hellen Atelier ist ein narzisstischer Künstler, der erst in Kontakt mit der Außenwelt treten kann, nachdem er sein überdimensionales Selbstporträt von der Wand gerissen hat und sich wild mit roter Farbe ausdrückt. Die schwarz gekleidete Isolde (fabelhaft mühelos und unglaublich intensiv: Magdalena Anna Hofmann) in ihrem Schiefertafelzimmer hingegen zückt immer wieder die Kreide, um Verse von Emily Dickinsen zu zitieren und schließlich, indem sie Umrisse zeichnet, sehr berührend auch die Körperlichkeit der Liebe ins Spiel bringt. Die Inszenierung beglaubigt Wagners Wortlaut im Libretto immer wieder überzeugend auf ihre ganz eigene Weise. Plötzlich sieht man beispielsweise, was „traut allein, ewig heim, in ungemess’nen Räumen übersel’ges Träumen“ heißen kann.
Brangäne (geschmeidig: Marlene Lichtenberg) als übereifrige und kontrollsüchtige Assistentin schüttet im Allzweckbüro mit Badewanne ihre Einsamkeit mit Alkohol und Drogen zu, Kurwenal (markant: Gerd Vogel) tigert in seiner fanatisch mit Artikeln über seinen „Helden“ Tristan tapezierten Kammer auf und ab, als sei er ein Mitglied der berüchtigten russischen Wagner-Gruppe. Und Marke (großartig in seiner ganz speziellen Würde: Ki-Hyun Park), umgeben von Kartons und den Gewändern seiner ersten Frau, kämpft in seinem Abstellkammer-Privatissimum mit dem Schlaf, Schampus und Selbstmordgedanken. Indem er in eine der Roben schlüpft und sich in eine Frau verwandelt, die Tristan begehrt, offenbart er einen noch tiefer gehenden Schmerz als Wagners ursprünglicher König.
Die ebenfalls gut besetzten Randfiguren in Konzertkleidung (Melot: Daniel Blumenschein, Steuermann: Andrii Chakov, Hirt/Junger Seemann: Robert Sellier) sind von vornherein Außenstehende und doch involviert, in einem nach hinten offenen Durchgangszimmer, das einen Blick aufs Orchester freigibt, das in voller Besetzung hinter dem Bühnenbild platziert ist. Eine raffinierte Lichtregie reißt die Titelprotagonisten zuweilen aus ihrer Isolation, lässt sie durch die Wände hindurch aufeinander reagieren und an zentralen Momenten parallel agieren. Sie reichen sich gleichsam die Hand, zeichnen sich selbst mit dem Geliebten-Namen aus oder verlieren sich in Großprojektionen des jeweils anderen. Das sind magische, ja mythische Momente, auch die Dialektik von Tag und Nacht ist überzeugend durchdekliniert.
Bildlich wird zudem klar, dass alles aus der Musik kommt. Man sieht das allwissende, sehr souverän und auswendig von Michael Wendeberg geleitete Orchester in einem kleinen Ausschnitt sowie in Projektionen bei den Vorspielen, bis es am Ende schließlich sehr real das Geschehen vorantreibt in die atemberaubend realisierte Verklärung Isoldens, die keiner vergisst, der sie erleben durfte. Es ist ein Jammer, dass die nächste Vorstellung am 18. April schon die letzte sein soll.
Besuchte Vorstellung am 27. Februar, letzte Aufführung am 18. April 2022 um 15 Uhr. Karten unter Telefon 0345-5110777 und hier
Ähnliche Beiträge
- Opernfahrt am 12. März nach Halle 4. März 2017
- Der „Holländer“ in Halle an der Saale 28. Januar 2017
- Tagesreise zum „Tristan“ im Landshuter Theaterzelt 2. März 2016
- Tristano furioso 3. Mai 2022
- „Holländer“-Souvenirs aus Halle 15. März 2017