Wagners Homo Politicus

Ein In­ter­view aus dem Jahr 2000 zur Er­in­ne­rung an den am 10. Juli ver­stor­be­nen Po­li­to­lo­gen, weg­wei­sen­den Wag­ner­ken­ner und „Ring“-Dramaturgen Prof. Dr. Udo Berm­bach (1938–2024)

Udo Berm­bach wäh­rend der Pro­ben zur „Ring“-Neuinszenierung von Jür­gen Flimm im Früh­som­mer 2000 – Foto: Mo­ni­ka Beer

Mit dem von ihm her­aus­ge­ge­be­nen „Ring“-Vortragsband „In den Trüm­mern der eig­nen Welt“ aus dem Jahr 1989 wur­de mir Udo Berm­bach schlag­ar­tig ein Be­griff. Denn es war da­mals noch sehr un­ge­wöhn­lich, dass ein Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor zu ei­ner Vor­trags­rei­he un­ter an­de­rem nicht nur eine jun­ge Fe­mi­nis­tin – Sa­bi­ne Zur­mühl, die spä­te­re Co­si­ma-Bio­gra­fin – ein­ge­la­den hat­te, son­dern auch den um­strit­te­nen His­to­ri­ker und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Hart­mut Ze­lin­sky, der mit sei­ner Do­ku­men­ta­ti­on zur Wir­kungs­ge­schich­te Wag­ners von 1876 bis 1976 kom­pro­miss­los ei­nen Zu­sam­men­hang zwi­schen Wag­ners An­ti­se­mi­tis­mus, sei­nen Schrif­ten und Kunst­wer­ken of­fen­leg­te, was für das da­ma­li­ge Bay­reuth und die teils im­mer noch bräun­li­che Wag­ner­for­schung ein dun­kel­ro­tes Tuch war. Udo Berm­bach, der nicht nur in sei­nem Fach rüh­ri­ge Ham­bur­ger Pro­fes­sor für Po­li­ti­sche Theo­rie und Ideen­ge­schich­te, setz­te sich in der Fol­ge auf sei­ne Wei­se im­mer wie­der mit dem re­vo­lu­tio­nä­ren, aber auch mit dem an­ti­se­mi­ti­schen, von völ­ki­schen Strö­mun­gen und den Na­zis ver­ein­nahm­ten Wag­ner aus­ein­an­der. Ein Groß­teil sei­ner Bü­cher wa­ren und sind Mei­len­stei­ne in der neue­ren Wag­ner­li­te­ra­tur, auch als Grün­der und Mit­her­aus­ge­ber der Halb­jah­res­schrift „wag­ner­spec­trum“ zähl­te er schnell zu den füh­ren­den Wag­ner­for­schern jün­ge­rer Zeit, der es un­ter an­de­rem als ei­ner der we­ni­gen auf sich nahm, sämt­li­che sech­zig (!) Jahr­gän­ge der „Bay­reu­ther Blät­ter“ kri­tisch le­send auf­zu­ar­bei­ten und sich bio­gra­phisch in Wag­ners eng­li­schen, aber nicht min­der völ­ki­schen Schwie­ger­sohn Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain als „Hit­lers Vor­den­ker“ zu ver­tie­fen. Hier mein In­ter­view, das bei den Pro­ben im Früh­som­mer 2000 statt­fand und zu­erst un­ter dem Ti­tel „Für Wag­ner war die Po­li­tik am Ende“ in Gon­droms Fest­spiel­ma­ga­zin ver­öf­fent­licht wurde.

Wie kommt es, dass ein Po­li­to­lo­ge sich so nach­hal­tig mit Wag­ner be­fasst, dass er schließ­lich so­gar auf­ge­for­dert wird, an ei­ner Bay­reu­ther „Ring“-Inszenierung mitzuarbeiten?
Udo Berm­bach: Das hat eine Vor­ge­schich­te. 1986 be­kam ich durch Zu­fall Kar­ten zum „Ring“ in Bay­reuth – und ich muss sa­gen, es hat mich ein­fach emo­tio­nal um­ge­wor­fen. Ich habe mir da­mals vor­ge­nom­men, mich mit Wag­ner in­ten­si­ver aus­ein­an­der­zu­set­zen, den ich bis da­hin im­mer sehr stark mit der NS-Zeit und den völ­ki­schen Ver­ein­nah­mun­gen ver­bun­den hat­te. Ich hat­te das Ge­fühl, dass das nicht al­les sein kann. Da ich aber die Wag­ner-Li­te­ra­tur da­mals noch we­nig kann­te, be­schloss ich, in Ham­burg eine Vor­le­sungs­rei­he zum „Ring“ zu or­ga­ni­sie­ren und Re­fe­ren­ten ein­zu­la­den, die sich aus­ken­nen. Erst da­mals 1987/88 be­gann ich, mich sys­te­ma­tisch mit Wag­ner zu be­schäf­ti­gen. Und ein Zu­fall hat dies noch be­för­dert. Mei­nen ei­ge­nen Vor­trag in­ner­halb die­ser Rei­he, die dann als Buch un­ter dem Ti­tel „In den Trüm­mern der eig­nen Welt“ pu­bli­ziert wur­de, hör­te ein Ham­bur­ger Mu­sik­wis­sen­schaft­ler, der sich mein Ma­nu­skript er­bat und es nach Bay­reuth schick­te. We­nig spä­ter kam ein An­ruf vom Pres­se­bü­ro der Fest­spie­le mit dem Vor­schlag, die­sen Bei­trag ins Pro­gramm­heft auf­zu­neh­men. Ich konn­te das erst gar nicht glau­ben, denn ich war ja in der Wag­ner-Sze­ne völ­lig un­be­kannt, hat­te bis­her noch nichts ver­öf­fent­licht. Als dann der Auf­satz im „Walküre“-Heft 1988 er­schien, war das der Start ins „Wag­ner-Le­ben“.
Seit 1988 war ich, wor­über ich sehr glück­lich bin, re­gel­mä­ßig in Bay­reuth, habe auch im­mer wie­der für die Pro­gramm­hef­te ge­schrie­ben. Als ich 1993 ein Frei­se­mes­ter hat­te, kam mir die Idee, die bis da­hin pu­bli­zier­ten Auf­sät­ze aus­zu­ar­bei­ten und zu­sam­men­zu­fas­sen. Dar­aus ent­stand in­ner­halb von sechs Mo­na­ten das Buch „Der Wahn des Ge­samt­kunst­werks“, üb­ri­gens ohne ei­nen Zet­tel­kas­ten. Die mich über­ra­schen­de, sehr freund­li­che und po­si­ti­ve Auf­nah­me hat mei­ne wei­te­re Wag­ner-Be­schäf­ti­gung bestimmt.

Wie sah kon­kret Ihre Mit­ar­beit beim „Ring“ aus?
Udo Berm­bach: Bei der ers­ten von vie­len ge­mein­sa­men Sit­zun­gen habe ich Jür­gen Flimm da­von er­zählt, wie ich den „Ring“ ver­ste­he, habe aus der Sicht des Po­li­to­lo­gen, der Wag­ner na­tür­lich im­mer als ei­nen po­li­ti­schen Mu­sik­dra­ma­ti­ker in­ter­pre­tiert, eine Ge­samt­deu­tung des „Ring“ ver­sucht und auch dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Schluss der „Göt­ter­däm­me­rung“ mit dem „Par­si­fal“ wei­ter­ge­führt wird, was für das Schluss­bild der In­sze­nie­rung eine wich­ti­ge Rol­le spie­len wird. Nach mei­nem Ein­druck war Jür­gen Flimm mit den Grund­zü­gen mei­ner In­ter­pre­ta­ti­on sehr ein­ver­stan­den. Bei der wei­te­ren Sit­zun­gen sind die Mit­glie­der des Teams, wenn ich mal so sa­gen darf, die ein­zel­nen Stü­cke auf dem Hin­ter­grund die­ser Grund­in­ter­pre­ta­ti­on durch­ge­gan­gen, wir ha­ben uns die ein­zel­nen Fi­gu­ren, aber auch die je­wei­li­gen dra­ma­ti­schen Si­tua­tio­nen vor­ge­nom­men und ha­ben schließ­lich über­legt, wie man die­se vier Stü­cke zu­sam­men­bin­den kann – ein­mal über die Per­so­nen­re­gie und zum an­de­ren über die Hand­lungs­or­te. Ich er­in­ne­re mich, dass Jür­gen Flimm ziem­lich zu An­fang die Fra­ge stell­te, wo­hin die vie­len Ak­teu­re, die im „Ring“ stän­dig flie­hen müs­sen, denn nun ge­hen, und dar­aus er­wuchs dann die Ant­wort. Sie ge­hen dort­hin, wo sie her­kom­men, weil sie sich da aus­ken­nen. Ein Bei­spiel: Wo­hin flieht die schwan­ge­re Sieg­lin­de, wenn Sieg­mund tot ist und Brünn­hil­de ihr ei­gent­lich nicht wei­ter­hel­fen kann? Ver­mut­lich ins lee­re Haus von Hun­ding. Dort, in Hun­dings Haus, wächst spä­ter auch Sieg­fried auf, kommt Mime hin­zu, um ihn auf­zu­zie­hen. Man sieht auf der Büh­ne na­tür­lich nicht mehr das kom­plet­te Haus, aber doch noch an­sehn­li­che Res­te, in die eine Werk­statt hin­ein­ge­baut ist. Und wenn Sieg­fried sich Brünn­hil­de aus Wal­hall holt, wo­hin sie ge­flüch­tet war und vom Va­ter dann ein­ge­schlos­sen wur­de, wo ge­hen die bei­den dann hin? Nach un­se­rer Lo­gik dort­hin zu­rück, wo Sieg­fried groß ge­wor­den ist. Also sit­zen sie zu Be­ginn der „Göt­ter­däm­me­rung“ an ei­nem Ort, der noch als Hun­dings Haus iden­ti­fi­ziert wer­den kann – al­ler­dings so her­un­ter­ge­kom­men, dass man sieht, wie­viel Zeit in­zwi­schen ver­gan­gen ist und in wel­cher Wei­se die Stra­te­gie Wo­tans zu­neh­mend fehlschlägt.
Ähn­lich ist das mit Wal­hall, der „Macht­zen­tra­le“ Wo­tans. Hier­her flieht Brünn­hil­de – was auf den ers­ten Blick viel­leicht über­ra­schend ist. Aber sagt sie nicht selbst, dass sie das Al­ter ego von Wo­tan ist, nichts an­de­res als sein Wil­le? Und wenn das so ist: Was macht eine Toch­ter, die et­was ge­tan hat, das der Va­ter ei­gent­lich tun woll­te, aber dann nicht tun durf­te – Jür­gen Flimm nann­te das vor­aus­ei­len­den Un­ge­hor­sam –, was macht eine Toch­ter, die weiß, dass der Va­ter zor­nig sein muss, auch wenn er es im Grun­de sei­nes Her­zens nicht ist? Sie geht zu ih­rem Va­ter und ver­sucht, mit ihm zu re­den, hofft dar­auf, ihn viel­leicht um­zu­stim­men. Es ist also ganz lo­gisch, dass sie nach Wal­hall flüch­tet. Dort wird sie ein­ge­schlos­sen. Der Wal­kü­ren­fels ist Wal­hall, die Macht­zen­tra­le, die Wo­tan be­kannt­lich nicht mehr braucht, weil er als Wan­de­rer nun in die Welt geht.
Das sind Bei­spie­le da­für, wie wir ver­sucht ha­ben, uns dem „Ring“ zu nä­hern. Grund­la­ge all der kon­zep­tio­nel­len Über­le­gun­gen war die Über­zeu­gung, dass der „Ring“ eine Pa­ra­bel des Un­ter­gangs ei­ner Ge­sell­schaft ist – also ein po­li­ti­scher „Ring“ in dem Sin­ne, dass Po­li­tik eine zu­tiefst dem Men­schen ein­ge­bo­re­ne Ei­gen­schaft ist, et­was, das zu al­len Zei­ten mit Macht, Macht­er­werb, Macht­ak­ku­mu­la­ti­on, Macht­er­halt und Macht­zer­fall zu tun hat. Und so lie­fert die In­sze­nie­rung, vor al­lem das Büh­nen­bild, eine Iko­no­gra­phie der Macht und des Zer­falls von Macht. Um die­sen Ge­dan­ken deut­lich zu ma­chen, müs­sen trotz al­ler Ver­schie­den­heit der Ak­ti­ons­fel­der und der da­mit kor­re­spon­die­ren­den Büh­nen­bil­der im­mer wie­der aus be­reits ge­se­he­nen Büh­nen­bil­dern Ele­men­te auf­tau­chen, die den Zu­sam­men­hang der Er­zäh­lung vi­su­ell verdeutlichen.

Wie­viel wer­den Sie da­von noch wie­der­fin­den, wenn Sie die Pre­mie­ren sehen?
Udo Berm­bach: Das habe ich mich gleich zu An­fang auch ge­fragt. Na­tür­lich ist mir klar, dass selbst ein gu­tes Kon­zept – üb­ri­gens kein re­vo­lu­tio­nä­res Kon­zept, denn man kann dem „Ring“ ja nichts über­stül­pen, was nicht in ihm drin ist – bei den Pro­ben Fe­dern las­sen muss. Denn spä­tes­tens bei den Pro­ben zeigt sich, dass be­stimm­te Vor­stel­lun­gen, viel­leicht auch Büh­nen­bil­der, nicht so funk­tio­nie­ren, wie das über­legt wor­den ist, aus ganz un­ter­schied­li­chen Grün­den. Und doch muss ich sa­gen, dass das, was ich in nur we­ni­gen Pro­ben­ta­gen ge­se­hen habe, die Zen­tral­li­ni­en der Kon­zep­ti­on deut­lich macht. Dass es an der ei­nen oder an­de­ren Stel­le dann nicht so prä­gnant ist, wie ein Theo­re­ti­ker sich das wün­schen wür­de, ist selbst­ver­ständ­lich und hat auch da­mit zu tun, dass man das Thea­ter nicht mit ei­ner mo­ra­li­schen Lehr­an­stalt ver­wech­seln soll­te. Thea­ter ist eben Thea­ter und soll es auch bleiben.

Wer­den Sie noch Wag­ner-Bü­cher schreiben?
Udo Berm­bach: Aber na­tür­lich! Im Mo­ment ar­bei­ten Her­mann Schrei­ber und ich für den gro­ßen Text-/Bild­band zum neu­en Bay­reu­ther „Ring“, der noch in die­sem Jahr, Ende No­vem­ber, An­fang De­zem­ber, er­schei­nen wird. Dar­über hin­aus habe ich mich in den ver­gan­ge­nen Mo­na­ten in­ten­si­ver mit der po­li­ti­schen Wag­ner-Re­zep­ti­on be­schäf­tigt. Da­bei in­ter­es­siert mich vor al­lem, wie der nach mei­nem Ver­ständ­nis durch ei­nen lin­ken Dis­kurs ge­präg­te Mu­sik- und Ge­sell­schafts­theo­re­ti­ker Ri­chard Wag­ner von der äu­ßers­ten Rech­ten ver­ein­nahmt wer­den konn­te. Wag­ner war, wie man weiß, in sei­nem po­li­ti­schen Den­ken durch Ra­di­kal­de­mo­kra­ten des deut­schen Vor­märz, durch fran­zö­si­sche Früh­so­zia­lis­ten, durch den Links­he­ge­lia­nis­mus und durch den An­ar­chis­mus ent­schei­dend ge­prägt, er war in die Re­vo­lu­ti­on von 1849 di­rekt in­vol­viert und er hat all das auch im Exil nicht auf­ge­ge­ben. Dass er nach Zü­rich ging, ist sym­pto­ma­tisch: Die­se Stadt war da­mals der Sam­mel­punkt der deut­schen ra­di­ka­len Linken.
Auf die­sem bio­gra­phi­schen Hin­ter­grund fra­ge ich mich nach den Schar­nier­stel­len, die die An­schluss­fä­hig­keit des Wag­ner­schen Den­kens für die Rech­te er­mög­licht ha­ben. Ich bin in den ver­gan­ge­nen neun Mo­na­ten, die ich im Wis­sen­schafts­kol­leg zu Ber­lin zu­ge­bracht habe, die­ser Fra­ge nach­ge­gan­gen, habe mich mit der Deu­tung der Wag­ner­schen Wer­ke in den „Bay­reu­ther Blät­tern“ be­schäf­tigt. Da gibt es ganz Er­staun­li­ches, etwa gleich im ers­ten Jahr­gang von 1878 ei­nen Auf­satz von Carl Fried­rich Gla­sen­app über die Zü­ri­cher Kunst­schrif­ten, in dem be­haup­tet wird, dass die­se mit Po­li­tik gar nichts zu tun ha­ben. Gla­sen­app geht so­gar so weit, die Be­tei­li­gung Wag­ners am Dresd­ner Auf­stand ein­fach zu leug­nen – das ist schlicht­weg eine Ge­schichts­klit­te­rung. Ein Pro­blem da­bei ist: Wag­ner muss das ge­le­sen ha­ben, und man fragt sich, wie­so hat er da­ge­gen nicht pro­tes­tiert? War­um schweigt er? Wel­ches In­ter­es­se hat er, dass sol­che Le­gen­den in die Welt ge­setzt wer­den? Von den Le­gen­den fin­den sich noch vie­le. Was man be­ob­ach­ten kann, ist eine sys­te­ma­ti­sche Ent­po­li­ti­sie­rung Wag­ners durch sein Bay­reu­ther Um­feld, dar­über hin­aus eine sys­te­ma­ti­sche Auf­la­dung Wag­ner­scher Mu­sik­dra­men und Welt­an­schau­ung durch Scho­pen­hau­er, der nach mei­ner fes­ten Über­zeu­gung eine viel ge­rin­ge­re Rol­le für Wag­ner spielt, als häu­fig sug­ge­riert wird. Auch in der Ab­fol­ge der Deu­tun­gen sieht man, wel­che Rol­le je­weils die his­to­ri­schen und ge­sell­schaft­li­chen Kon­tex­te spie­len. Man kann die­sen Um­in­ter­pre­ta­ti­ons­pro­zess also ziem­lich ge­nau ver­fol­gen. Wo­bei, wenn ich das ein­ge­ste­hen darf, es für mich eine völ­lig un­ge­klär­te Fra­ge ist, war­um die deut­sche Lin­ke Wag­ner im­mer „rechts“ hat lie­gen las­sen. Viel­leicht hat das mit Marx und sei­nem Dik­tum vom Staats­mu­si­kan­ten zu tun – eine his­to­risch schwer­wie­gen­de Fehleinschätzung.
Be­vor sich das al­les zu ei­nem Buch ver­dich­tet, möch­te ich al­ler­dings ver­su­chen, noch ein­mal ei­nen in­ter­pre­ta­to­ri­schen Durch­gang über „Po­li­tik und Ge­sell­schaft in Wag­ners Mu­sik­dra­men“ zu schrei­ben. Wenn mein Plan auf­geht, soll die­ses Buch zu den Fest­spie­len 2002 vor­lie­gen. Viel­leicht muss auch mein ers­tes Wag­ner-Buch, „Der Wahn des Ge­samt­kunst­werks“, noch ein­mal über­ar­bei­tet wer­den – das wird man se­hen. Al­les in al­lem ge­nug Plä­ne, und des­halb auch der Ent­schluss, die Uni­ver­si­tät vor­zei­tig zu ver­las­sen, um sol­che Ab­sich­ten rea­li­sie­ren zu können.

Dem­nach sind Sie Wagnerianer?
Udo Berm­bach: Nein, nicht in dem Sin­ne, in dem man den Be­griff nor­ma­ler­wei­se ver­wen­det. Wag­ne­ria­ner sind doch für ge­wöhn­lich jene, die im Um­feld der „Bay­reu­ther Blät­ter“ ge­stan­den ha­ben und die – wie dort lan­ge Jah­re eine sym­pto­ma­ti­sche Ru­brik hieß – un­ter­schie­den zwi­schen „Bay­reuth und Draus­sen“, also zwi­schen Freund und Feind. Das ist heu­te Gott sei Dank vor­bei. Wag­ner ist si­cher ein zen­tra­les Bil­dungs­er­leb­nis für mich, weit über die Mu­sik hin­aus, sonst wür­de ich mich nicht so in­ten­siv mit ihm aus­ein­an­der­set­zen. Und Bay­reuth be­deu­tet mir un­ge­mein viel – auch, weil es so eng mit der deut­schen Ge­schich­te ver­wo­ben ist, im ne­ga­ti­ven wie im po­si­ti­ven Sin­ne. Bay­reuth ist ein Nu­kle­us und Seis­mo­graph deut­scher Be­find­lich­kei­ten. Aber um sich da­mit aus­ein­an­der­zu­set­zen, darf man nicht Wag­ne­ria­ner im ge­ra­de zi­tier­ten Sin­ne sein.

War­um sa­gen Sie nicht be­wusst „Ich bin Wag­ne­ria­ner!“, da­mit end­lich die­ses ne­ga­ti­ve Bild lang­sam aus der Welt ge­bracht wird?
Udo Berm­bach: Dann muss man den Be­griff zu­vor um­de­fi­nie­ren, muss ge­nau sa­gen, was man dar­un­ter ver­steht. Wenn das heißt, dass Wag­ner zu den ganz gro­ßen Kom­po­nis­ten der Welt ge­hört; dass er uns  heu­te noch im­mer be­rührt, weil er in sei­nen Mu­sik­dra­men Grund­kon­flik­te des Men­schen und der Ge­sell­schaft auf eine bis da­hin un­er­hör­te Wei­se the­ma­ti­siert hat; dass sei­ne Mu­sik uns emo­tio­nal noch im­mer tief auf­rührt – wenn das al­les den Be­griff aus­macht, dann bin ich Wag­ne­ria­ner. Mir reicht es aber durch­aus auch zu sa­gen: Ich habe eine be­son­de­re Be­zie­hung zu Wag­ner, auch zu Bay­reuth, weil Bay­reuth der Ort ist, an dem man, wenn al­les stimmt und glückt, Wag­ners Mu­sik auf­grund der Akus­tik des Fest­spiel­hau­ses so hö­ren kann, wie an kei­nem an­de­ren Ort der Welt. Und na­tür­lich ist Bay­reuth auch des­halb et­was Be­son­de­res, weil man hier nichts an­de­res ma­chen kann als Wag­ner zu hö­ren, sich auf die­ses äs­the­ti­sche Er­leb­nis ein­zu­las­sen, was un­ter den sonst üb­li­chen Be­din­gun­gen ei­nes Opern­be­suchs un­mög­lich ist. Das hat aber nichts mit dem ideo­lo­gisch be­setz­ten Ort Bay­reuth zu tun.
Mir als Po­li­to­lo­ge ist es wich­tig dar­auf hin­zu­wei­sen, dass Wag­ner in eine his­to­ri­sche Tra­di­ti­on ge­hört, mit der man sich ra­tio­nal aus­ein­an­der­set­zen kann, ohne da­bei im völ­ki­schen Sumpf zu lan­den. In mei­nen Ar­bei­ten habe ich im­mer ver­sucht, Wag­ner an die de­mo­kra­ti­sche Ge­sell­schaft her­an­zu­füh­ren, ver­sucht zu zei­gen, dass eine de­mo­kra­ti­sche Ge­sell­schaft, in der auch Bay­reuth ja schon lan­ge an­ge­kom­men ist, kei­nen Grund hat, sich vor ihm zu drü­cken. Das Neu­bay­reuth von 1951 mar­kiert hier für mich ein wich­ti­ges Da­tum. Und glei­ches gilt spä­ter dann für den Chéreau-„Ring“, der mir selbst ei­nen neu­en Zu­gang zu Wag­ner er­öff­net hat. Die­ser „Ring“ war für mich, ob­wohl ich ihn nicht im Fest­spiel­haus er­lebt habe, der Durch­bruch, Wag­ner po­si­tiv an­neh­men zu können.

Und Ihr be­son­de­res In­ter­es­se an „Par­si­fal“?
Udo Berm­bach: Ich habe eine spe­zi­el­le In­ter­pre­ta­ti­on von „Par­si­fal“, die aber na­tür­lich durch Wag­ner ge­stützt ist. In mei­ner Vor­stel­lung des Wag­ner­schen Werk­zu­sam­men­hangs gibt es eine in­ne­re Ver­bin­dung von „Ring“ und „Par­si­fal“ schon des­halb, weil de­ren Kon­zep­ti­on in die Zeit vor 1849 fällt. „Par­si­fal“ ist  für mich die Ant­wort auf die lee­re Büh­ne der „Göt­ter­däm­me­rung“. „Par­si­fal“ ist gleich­sam die Fort­set­zung der Wag­ner­schen Re­vo­lu­ti­ons­hoff­nun­gen mit an­de­ren Mit­teln, mit den Mit­teln der Kunst. In „Re­li­gi­on und Kunst“ von 1880 schreibt Wag­ner gleich ein­gangs den Satz, dass da, wo die Re­li­gi­on künst­lich wird, der Kunst es vor­be­hal­ten sei, den Kern der Re­li­gi­on zu ret­ten. Das ist ein Kern­satz in man­cher­lei Hin­sicht und Be­leg auch da­für, dass für Wag­ner die Kunst an die Stel­le von Re­li­gi­on und Po­li­tik tre­ten soll – denn für Wag­ner war die Po­li­tik am Ende: Sein gan­zes Den­ken und Schaf­fen, auch die Fest­spiel­idee, sind dar­an aus­ge­rich­tet, dass die Kunst als das kom­men­de Me­di­um der so­zia­len In­te­gra­ti­on et­was Neu­es be­wir­ken soll – eine Ge­mein­schaft, die sich über äs­the­ti­sche Er­fah­rung kon­sti­tu­iert. In „Hel­den­tum und Chris­ten­tum“ spricht er von der in der Wag­ner-Li­te­ra­tur ver­blüf­fen­der­wei­se kaum zur Kennt­nis ge­nom­me­nen „äs­the­ti­schen Welt­ord­nung“ als sei­nem Ziel. Es geht hier um Ord­nung, nicht um Staat! Das hat eine neue Qua­li­tät ge­gen­über ei­ner Ge­sell­schaft, die durch Po­li­tik ge­steu­ert wird. Dass die­se neue äs­the­ti­sche Ord­nung, auf die Wag­ner hofft, auch Po­li­tik in sich auf­nimmt, auf­neh­men muss, ist das ei­gent­li­che Pa­ra­dox. Ob Wag­ner das so ge­se­hen hat, mag da­hin­ge­stellt sein – die Sa­che selbst ist so. Und das heißt, dass auch der „Par­si­fal“ in die­sem Sin­ne ein po­li­ti­sches Stück ist. Des­we­gen wird der neue Bay­reu­ther „Ring“ mit ei­nem Ver­weis auf „Par­si­fal“ en­den – als die uto­pi­sche Aus­sicht auf eine Form der Re­vo­lu­ti­on, die nicht mehr eine Re­vo­lu­ti­on der In­sti­tu­tio­nen ist, auch nicht mehr die ei­ner kon­kre­ten ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung, son­dern als eine Re­vo­lu­ti­on des Be­wusst­seins. In­ter­view: Mo­ni­ka Beer

Schluss­bild der Bay­reu­ther „Göt­ter­däm­me­rung“ im Jahr 2000 mit dem ge­har­nisch­ten jun­gen Par­si­fal – Vor­la­ge: Text-/Bild­band „Göt­ter­däm­me­rung“. Der neue Bay­reu­ther Ring, Pro­py­lä­en Ver­lag 2000, Fo­to­gra­fie von Her­mann und Clär­chen Baus
Udo Berm­bach bei sei­nem letz­ten Fest­spiel­be­such in Bay­reuth 2022 – Foto: Ul­ri­ke Müller

Nach­trag zum In­ter­view: Mit Udo Berm­bach ver­band mich nach sei­nem Bay­reu­ther „Ring“-Debüt eine lang­jäh­ri­ge Freund­schaft. Wir tra­fen uns häu­fig bei den Wag­ner-Pre­mie­ren al­ler­or­ten und na­tür­lich in Bay­reuth, für den Ri­chard-Wag­ner-Ver­band konn­te ich ihn auch nach Bam­berg zu ei­nem Ge­spräch über Cham­ber­lain ein­la­den. War­um als Nach­ruf das alte In­ter­view aus dem Jahr 2000? Es hat ei­nen gu­ten Grund: Dass Re­gis­seur Jür­gen Flimm das für sei­nen Kon­zept-Dra­ma­tur­gen so wich­ti­ge „Parsifal“-Schlussbild nach den Pre­mie­ren ge­stri­chen hat, wur­de ge­wis­ser­ma­ßen zu Berm­bachs Am­for­tas-Wun­de: Sei­ne Er­in­ne­run­gen an eben die­se Thea­ter­ar­beit de­tail­liert fest­zu­hal­ten, be­schäf­tig­ten den 86-Jäh­ri­gen bis zu sei­nem Tod. Um zu ver­ste­hen, wie wich­tig Berm­bachs Wag­ner-Les­art für das letz­te Jahr­zehnt des 20. und die ers­ten Jahr­zehn­te des 21. Jahr­hun­derts wa­ren, emp­feh­le ich ger­ne noch den Nach­ruf von Lau­renz Lüt­te­ken in der F.A.Z. so­wie das um­fang­rei­che Ge­spräch, das der Jour­na­list Wolf-Die­ter Pe­ter 2011 mit Berm­bach fürs αl­pha-fo­rum des Baye­ri­schen Rund­funks führte.