Normalerweise erfüllen Opernkritiken ihren Zweck, indem sie dem Leser eine Einordnung liefern, ob es sich lohnt, eine aktuelle Produktion zu besuchen oder nicht. Danach sind sie für das breite Publikum nur noch Schnee von gestern. Dass sie aber auch sehr langlebig sein können, zeigte sich den über fünfzig amüsierten Zuhörern bei unserer Lesung mit Volker Ringe. Der beliebte Schauspieler präsentierte am 5. Juni im Atelier des Bamberger Bildhauers Bernd Wagenhäuser jene launigen Rezensionen, die Paul Lindau, einer der damaligen Kritikerpäpste, über die „Ring“-Uraufführung 1876 in Bayreuth verfasste.
Es war, um gleich den Lindau’schen roten Faden aufzunehmen, ein durchaus langer, doch höchst kurzweiliger Abend. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es nämlich für feuilletonistische Beiträge in den Zeitungen noch unglaublich viel Platz – gleich auf mehreren Druckseiten! Paul Lindau berichtete zuerst in der Schlesischen Presse in insgesamt fünf „Briefen“ über die ersten Wagner-Festspiele, die noch im selben Jahr unter dem Titel „Nüchterne Briefe aus Bayreuth“ in Buchform erschienen und dort allein auf über fünfzig Seiten kommen.
Dass dieses Büchlein immer wieder aufgelegt wurde, hat gute Gründe. Lindau ist ein brillanter Beobachter, der seine Leser sehr direkt anspricht und mit Einfühlung und kritischem Witz auf den Punkt bringt, was in seinen Augen gelungen und was misslungen ist. Womit er von vornherein bei jenen Wagnerianern ins Fettnäpfchen trat, die in unbedingter Unterwürfigkeit zu ihrem „Meister“ standen und nichts, aber auch gar nichts als zu lang empfanden bei einem Werk, das bei der Uraufführung die jeden Rahmen sprengende Gesamtspieldauer von vierzehneinhalb Stunden hatte.
Die auch heute noch ungewöhnliche Länge – Wagners Tetralogie wurde in dem Punkt bisher nur von Karlheinz Stockhausens „Licht“-Zyklus übertroffen – zieht sich wie ein roter Faden durch Lindaus Kritiken: „Es gehört zu den berechtigten Eigentümlichkeiten Wagners, dass er uns alles mehrfach erzählt. Gewöhnlich vernehmen wir erst das Programm, das ausgeführt werden soll, dann sehen wir die Ausführung in der Handlung, und später hören wir den Bericht über das Ausgeführte. Die Deutlichkeit gewinnt dadurch, nicht aber das Interesse, welches das Kunstwerk einflößt.“
Wenn Lindau lobt, liest sich das in Bezug auf „Siegfried“ wie folgt: „In Wahrheit ist hier das Orchester der alleinige Vollstrecker der Handlung, der wirkliche Held“, stellt er zum 1. Akt fest und jubelt darob auch im 2. Akt: „Durch den ganzen langen Akt geht ein Rauschen, ein unbestimmtes Summen und Wehen, das ganz seltsam ergreift. Es ist wirklich Luft, Licht und Sonnenschein. Ein Eichendorff’sches Lied im größten Maßstabe. Man hört die Blätter flüstern und die Vögel singen, ja man sieht die Sonne durch das Gesträuch flimmern. Wie schade, dass auf diesem wundervollen Gesamtuntergrunde so unschöne läppische unkünstlerische Fratzen wie dieser Lindwurm gewälzt werden.“
Zur „Götterdämmerung“ kulminieren Lindaus Klagen, wo „wie in den vorhergehenden Dramen beinahe alles zu lang ist“. Schon die Eröffnung der Handlung ist leider zu lange, gefolgt von einem Zwischenspiel, das leider zu lang ist, und diversen, leider zu langen Zwiegesprächen bei den Gibichungen und der Werbung Siegfrieds um Gutrune, die leider zu lang ist sowie die leider zu lange Erzählung von Waltraute. Und so geht es zum Gaudium des Lesers bzw. Zuhörers weiter.
Wenn Lindau am Schluss mutmaßt, dass die Nachwelt Wagner zwar auf jene Höhen emporheben wird, „auf denen die größten Künstler unseres Vaterlandes wandeln“, aber Bearbeiter kommen werden, „die sich ganz gemütlich über die vier starken Partituren hermachen und das Unwirksame, das die unverständige Mehrheit unserer Generation gelangweilt hat, schonungslos beiseite werfen“, hat er prophetisch Recht gehabt. Nicht nur Parodisten kürzten den „Ring“ ein: 2012 sollte sogar Richard Wagners Urenkelin Katharina in Buenos Aires einen spektakulär um die Hälfte gekürzten „Ring“ inszenieren, was sie dann aber kurzfristig absagte, 2017 hatte in Wien ein ähnliches Projekt Premiere, unter der Regisseurin Tatjana Gürbaca, die angeblich 2020 den sechzehnten „Ring“ in Bayreuth inszenieren wird. Hoffentlich ungekürzt.
Bleibt noch anzumerken, dass Volker Ringe, der zehn Jahre dem Ensemble des Bamberger Theaters angehörte und jetzt am Theater Hof wirkt, genau jenen süffisanten Plauderton traf, der charakteristisch sein dürfte für den Feuilletonisten und Theatermann Paul Lindau. Dass Lindaus „Nüchterne Briefe“ für die Lesung leider auch zu lang waren, merkte das Publikum gar nicht, denn im Vorfeld hatte unser Mitglied Hugo Scholter, ebenfalls Schauspieler, Rezitator und Musiker, der unter anderem ebenfalls am E.T.A.-Hoffmann-Theater wirkte und wie Gastgeber Wagenhäuser Berganza-Preisträger ist, die Texte sachkundig gekürzt. Auch das Ambiente stimmte, denn erstens entspricht das Atelier von Bernd Wagenhäuser als kunstgefüllter nüchterner Raum dem schnell als „Scheune“ titulierten Zweckbau Festspielhaus. Und zweitens gab es an diesem sehr warmen Frühsommerabend zu den „Nüchternen Briefen“ Wasser, Wein und Brezen, so dass – trotz textlicher Längen! – Rufe nach Fortsetzung laut wurden.
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