Es ist die reine Überwältigung. Und eine große Überraschung. Denn dass die „Lohengrin“-Inszenierung am Landestheater Coburg auch ein altes Wagnerschlachtenross wie mich so schnell und anhaltend packen würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Schließlich sind die Vorbehalte bei dieser großen Choroper nicht klein, wenn es um ein Haus dieser Größenordnung geht. Ganz zu schweigen von den Solisten. Aber nach zweimaligem Erleben der Produktion kann ich versichern: Dieser „Lohengrin“ ist ein Muss, hat musikalisch wie szenisch so viel zu sagen, dass mehrfache Besuche sich lohnen.
Schon allein Betsy Horne wegen. Sie ist auf Anhieb eine ideale Elsa. In Körpersprache und Mimik füllt sie die hier glaubhaft mädchenhaft, aber durchaus eigensinnig und zunehmend selbstbewusst angelegte Figur schon darstellerisch so überzeugend aus, dass einem weich und weh ums Herz wird. Erst recht, wenn sie mit ihrer intonationsreinen, dynamisch einfühlsam und klug geführten, schön aufblühenden Sopranstimme von all den Hoffnungen, Träumen und Wünschen singt, die nichts zu tun haben mit der Realität, die zunehmend zum Alptraum wird.
Schlichtweg eine sängerdarstellerische Wucht ist auch Rollendebütantin Martina S. Langenbucher. Ihre Ortrud ist vom ersten Auftritt an ein Statement, ein Ausrufezeichen, eine Fleisch gewordene Intrige, deren Einschmeichelungs- und Verführungskraft fast alle erliegen. Wie machtvoll und magisch sie im 2. Akt erst Telramund einwickelt, wie heuchlerisch und gewissermaßen Kaffeesatz lesend sie Elsa umgarnt und dabei beeindruckend mit Stimmfarben und Stimmkraft aufwartet, das sind echte Theatercoups.
Die männlichen Hauptfiguren sind gut bis befriedigend besetzt, reichen an das sehr hohe Niveau ihrer Kolleginnen jedoch nicht heran. Am ehesten gelingt das Daniel Kirch in der alternierend besetzten Titelrolle. Die durchaus schwierige schauspielerische Aufgabe, die ihm der Regisseur vorgegeben hat, meistert er mit spürbarem Engagement, seine eher helle Tenorstimme hat nicht nur Durchschlagskraft, sondern auch ein zerbrechliches Piano. Wolfgang Schwaningers Lohengrin ist als Figur etwas verhaltener, was den Regieintentionen aber kaum Abbruch tut. Sein baritonaler Tenor punktet vor allem dort, wo es heldisch klingen darf. Der Rest ist Tagesform und Technik.
Juri Batukow überzeugt als Telramund – trotz Einschränkungen. Wenn man bedenkt, wie viele hochrangige Interpreten schon an dieser Partie gescheitert sind, ist man gerne bereit, ein paar Ermüdungserscheinungen seines ausdrucksvollen Baritons und seine Textungenauigkeiten zu überhören. Michael Lion ist auch als König Heinrich eine Säule des Coburger Ensembles, aus dem heraus Falko Hönisch, Martin Trepl und Benjamin Werth als Heerrufer alternieren.
Wenn gleich nach dem Heerrufer Gottfried bzw. der Schwan auf dem Besetzungszettel stehen, bedeutet das etwas: Der Tänzer Mariusz Czochrowski verkörpert eine zentrale Regieidee. Der Schwan steht hier als Symbol für den entführten, missbrauchten und in eine Zwangsjacke gefesselten Bruder Elsas. Es ist, auch von Christof Cremers Kostüm her, die wohl stärkste Bildfindung der an starken Bilder reichen Inszenierung, weil die Ästhetik der anmutigen Bewegungen durch die Zwangssituation von vornherein gebrochen wird. Der Schwan Gottfried schickt schon durch seinen ersten Auftritt so viele Fragen in den Raum, dass es einem in einem Stück, das vom Frageverbot dominiert wird, angst und bange werden kann.
Die Verortung der drei Akte im Einheitsbühnenbild von Rifail Ajdarpasic funktioniert schlagend gut. Der mit einer Tribüne, Rednerpult, Regalen und über 900 Aktenkartons bestückte, unterirdische Archivbunker führt in eine bedrohte und zerrüttete Gesellschaft, die sehnlichst auf einen Retter wartet. In den Raum hinein ragen von oben die Wurzeln der Gerichtseiche, die nur noch durch ein Bewässerungssystem am Leben erhalten werden kann.
In dieser bedrückenden Unterwelt entfesselt der aus Caracas stammende, in London ausgebildete Regisseur Carlos Wagner ein präzise einstudiertes Psychodrama, das das Publikum von Beginn an in Bann zieht. Ihm gelingt, was im heutigen Regietheater eine Rarität ist: Seine Interpretation ist entschieden politisch, kritisch, brisant, lässt aber so viel Luft für die Magie, das Märchenhafte und vor allem die Musik, dass die sicher auch überraschenden, durch einige Striche unterstützten Botschaften unaufdringlich, gleichsam natürlich und nachhaltig über die Rampe kommen. Mehr soll nicht verraten werden. Es gibt jedenfalls viel Stoff zum Nachdenken über die Figuren, über das Stück.
Wie virtuos er sein Handwerk beherrscht, lässt sich beispielhaft am extra aufgestockten Chor ablesen. Die 54 Sängerinnen und Sänger (Einstudierung: Lorenzo Da Rio) geben nicht nur eine prächtige Klangkulisse ab, sie spielen als Volk eine Hauptrolle – mal in der Bewegung eingefroren, mal surreale Routinen absolvierend, mal heiter gelöst, dann zunehmend kriegerisch, die Fahne stets nach dem Wind, selbst wenn er schnell wechselt. Stupend der szenische Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Bewegung auf die in den Chorszenen eigentlich notorisch übervolle Bühne zu bringen, kostbar in ihrer Intensität die Momente, wenn die Solisten allein agieren.
Das alles wäre schon Anlass genug, um nach Coburg zu fahren. Aber es kommt noch besser: Dieser „Lohengrin“ ist auch ein Raumklangereignis. Immer wieder sorgen Einspielungen sowie Trompeter im Rang und vom Foyer her dafür, dass man im Auditorium das Gefühl hat, mitten in diesem berauschenden, Gänsehaut erzeugenden Wagnerklang zu sitzen. Das auf 55 Musiker aufgestockte Orchester unter Generalmusikdirektor Roland Kluttig hat inzwischen ein Niveau erreicht, das Staunen macht. In beiden besuchten Vorstellungen gelang das so heikel zart schwebende Vorspiel, unvergessen bleibt mir unter anderem das überhitzte Tempo im Vorspiel zum 3. Akt: Der Dirigent ist hörbar einig mit dem Regisseur, dass in der Brautnacht alles andere als Romantik angesagt ist, sondern in großem Schmerz enden muss.
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