Heute vor 203 Jahren wurde Wilhelm Richard Wagner in Leipzig geboren. Ein schöner Anlass, um an dieser Stelle nochmals den Artikel zu seinem 200. Geburtstag am 22. Mai 2013 zu veröffentlichen.
Wahrscheinlich gibt es irgendwo einen Wagnerianer, der fein säuberlich alle Jubiläumsaktivitäten festhält. Er oder sie wird damit viel zu tun haben, denn was sich Tag für Tag hierzulande abspielt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Wagnerliebhaber gibt es auf allen Kontinenten, vielleicht sogar in den endlosen Weiten des Kosmos – und sie haben in der Regel etwas, das auch den Urheber ihrer Passion auszeichnete: Sendungsbewusstsein.
Schon das unterscheidet Richard Wagner, der am 22. Mai 1813 in Leipzig in eine theateraffine kleinbürgerliche Großfamilie hineingeboren wurde und als weltberühmter Künstler am 13. Februar 1883 in einem venezianischen Palazzo starb, von anderen. Er war bei weitem nicht der einzige, der die Textbücher seiner Opern selbst schrieb, er war auch nicht der einzige, der zudem umfangreiche theoretische Schriften verfasst hat. Aber er ist immer noch der einzige Komponist, der es geschafft hat, dass ein Theater gebaut wurde, in dem nur seine Werke aufgeführt werden – und das seit nunmehr 137 Jahren.
Um gleich nochmals Erbsen zu zählen: Seit Jahrzehnten heißt es, dass es außer Jesus und Napoleon niemanden gäbe, über den mehr geschrieben wurde als über Wagner. Allein zum Jubiläumsjahr sind fast hundert Neuerscheinungen avisiert, schon seine Primärliteratur (ohne Partituren) ist rekordverdächtig: Wagners sämtliche Schriften werden in der neuesten chronologischen Ausgabe aus dem Axel Dielmann Verlag rund 5400 Seiten füllen; die 1979 begonnene Edition seiner Briefe ist aktuell bei Band 20 angelangt und wird laut Breitkopf & Härtel voraussichtlich 34 Bände umfassen.
Wie konnte der Mann, fragt sich fassungslos die simsende Nachwelt, daneben noch Musikdramen komponieren, die Meilensteine der Musikgeschichte sind und seither immer wieder viele Menschen bewegen? Wie konnte er dabei so anarchistisch und anmaßend sein, beharrlich, chaotisch, charismatisch, diätfehler- und dünkelhaft, einsam, eitel, ehebrecherisch, feurig, fragil, fürsorglich, genial, gierig, großzügig,
herzensklug, herzzerreißend, heuchlerisch, himmelhochjauchzend, humorvoll, ichbezogen, ideensprühend, judenfeindlich, kosmopolitisch, kritisch, kleingeistig, liberal, liebedienerisch, monoman, multimedial, nachtragend, nationalistisch, neidisch, obstinat, pingelig, quecksilbrig, rachsüchtig, rassistisch, revolutionär und reaktionär, seidenschmeichlerisch, sinnenfroh, tierlieb, treu, treulos, unmäßig, vereinnahmend und verschwenderisch, wahnfriedlich, wutentbrannt, zärtlich und zu Tode betrübt?
Warum es den seinen Dialekt nie verleugnenden, aber durchaus mehrsprachig eloquenten Sachsen nach Bayern verschlug, ist bekannt. König Ludwig II. ließ ihn, kaum dass er 18-jährig auf den Thron kam, nach München holen. Wagner, der schon als Pennäler begonnen hatte, mehr Geld auszugeben, als er hatte, war gerade wieder auf der Flucht – vor seinen Gläubigern und der Schuldhaft. Immerhin war er zu diesem Zeitpunkt kein steckbrieflich gesuchter Revolutionär mehr. Von sich und seiner Sendung überzeugt, konnte er es nicht lassen, sich auch politisch einzumischen und den königlichen Wohltäter, was seine Affäre mit Dirigentengattin Cosima von Bülowbetrifft, fortgesetzt zu belügen. Nach neunzehn Monaten endete Wagners Münchner Zeit mit seiner Ausweisung. Der König blieb ihm dennoch treu und generös, zahlte aus seiner Privatschatulle die Miete im schweizerischen Tribschen, den Neubau der Villa Wahnfried in Bayreuth, diverse Italienurlaube der wagnerischen Patchworkfamilie und gab den notwendigen Kredit, damit das Festspielhaus fertig gebaut werden konnte.
Bayreuth wurde nach Wagners Tod mit den unter Witwe Cosima sich durchsetzenden Festspielen nicht nur zu einem Synonym für Wagner, sondern – von Wahnfried aus gesteuert, wo unter anderem der viel gelesene, antisemitische und rassistische Autor Houston Stewart Chamberlain einheiratete – zunehmend zur Pilgerstätte für völkisch-nationalistische Kreise. Und bald sollte auch der Wagnerianer Adolf Hitler seine Aufwartung machen: Der Diktator und Massenmörder wurde ein Freund der Familie, sorgte mit dafür, dass nach dem Tod von Cosima und Sohn Siegfried 1930 dessen Witwe Winifred die Festspiele weiter festigen konnte, durchaus auch künstlerisch.
Dass Winifred nach der nationalsozialistischen »Hoch-Zeit« Bayreuths und einer gewissen Schamfrist die braun belasteten Festspiele an ihre Söhne Wieland und Wolfgang Wagner übergeben und damit die testamentarischen Rechte ihrer Töchter Friedelind und Verena ignorieren konnte, gehört gewissermaßen zur Familientradition. Um die Erbfolge des damals noch unverheirateten homosexuellen Sohns Siegfried zu sichern, verleugnete die Familie schon 1913 in einem Aufsehen erregenden Prozess die Vaterschaft Wagners bei dessen Tochter Isolde, die sein erstes uneheliches Kind mit Cosima war und bereits einen Stammhalter geboren hatte.
Die Soap-Opera um die Royals von Bayreuth geht bis heute weiter. Auch um die Nachfolge von Rekordfestspielleiter Wolfgang Wagner, der den Übergang vom Familienbetrieb in die Stiftungs-GmbH einleitete und – erneut aus dynastischen Gründen – bis ins hohe Greisenalter Chef am Grünen Hügel blieb, ranken sich Gerüchte. Womöglich hat 2008 der gewiefte, auf einen lebenslangen Mietvertrag pochende Wagnerenkel nur abgedankt, weil er sicher sein konnte, dass der Stiftungsrat seine Töchter Eva und Katharina als Intendantinnen küren würde. Rumort Richard Wagner momentan nicht nur wegen des Baustellenlärms in seinem Grab im Wahnfried-Garten?
Ob man die ungemein widersprüchlich scheinende, multiple Persönlichkeit Wagners von seinem zweifellos hochbedeutenden musikdramatischen Werk und dem nicht nur akustisch genialen Theaterbau in Bayreuth trennen kann, muss jeder, der sich ernstlich mit ihm beschäftigt, für sich selbst entscheiden. Wagner und sein Werk – das ist sein Faszinosum, aber auch ein Verhängnis – taugt für fast jede Weltsicht und Vereinnahmung. Und er wird den Menschen, die das wollen, durch seine Musik auch weiterhin die Illusion geben, dass sie zumindest zeitweise wie seine Isolde unbewusst und in höchster Lust ertrinken und versinken dürfen, „in dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All –“.
Erstveröffentlichung im Fränkischen Tag. Und dazu noch der Geburtstagsartikel aus dem Blog Mein Wagner-Jahr.
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