Mit seiner Neuinszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ gelingt dem Regisseur Tilman Knabe der Saisonhöhepunkt am Opernhaus Nürnberg. Überragend in der Titelrolle: der Sängerdarsteller Hans Gröning.
Als Tilman Knabe 1998 mit den heutigen Opernstars Marlis Petersen und Elena Pankratova für Nürnberg „Ariadne auf Naxos“ inszenierte, überraschte er mit einer unkonventionellen, geheimnisvoll-verstörenden Bilderwelt. Jetzt ist der als Regietheaterschreck in Verruf geratene Regisseur endlich wieder da – und hat mit seiner gesellschaftskritischen Sicht auf Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ und dem überragenden Hans Gröning in der Titelrolle für den späten Saisonhöhepunkt am Staatstheater gesorgt.
Dass das begeisterte Publikum nach der nicht ausverkauften Premiere am Sonntag gar nicht aufhören wollte mit seinem Applaus hat gute Gründe. Die Musik der 1979 uraufgeführten Kammeroper ist zwar komplex, aber dank vieler Zitate und ihrer Charakterisierungskunst durchaus eingängig. In ihrer Mischung aus irrlichternder Zartheit und der dominierenden expressiven Wucht geht sie ans Eingemachte.
Nur elf Instrumentalisten der Staatsphilharmonie – drei Celli, sechs Bläser, viel Schlagwerk und ein Cembalo – unter dem mit Umsicht dirigierenden Guido Johannes Rumstadt genügen, um ein zwischen Tonalität und Atonalität changierendes Klanguniversum zu schaffen, das auch spricht, wenn die ausdrucksstarken Gesangsstimmen von Titelheld, zwei weiteren Solisten und dem sechsköpfigen Vokalensemble schweigen, das Lenzens Visionen und Wahnvorstellungen hör- und erlebbar macht und den unglückseligen Dichter mal tröstet, mal zum Selbstmord antreibt.
Wie der von Georg Büchner dem Vergessen entrissene reale Schriftsteller scheitert auch Rihms Jakob Lenz (im sprachstarken Libretto von Michael Fröhling) nicht nur an der Liebe und seinen Neidern. Sondern vor allem an den Stimmen in seinem Kopf – und in Nürnberg auch an der Welt, wie die Inszenierung politisch schmerzhaft genau und blutig zeigt.
Tilman Knabe und seine kongeniales Ausstatterteam mit Annika Haller (Bühne), Eva-Mareike Uhlig (Kostüme), Thomas Schlegel (Licht) und Boris Brinkmann (Video) verlegen die dreizehn Szenen in Randbezirke einer Mega-City, unter deren bunter Oberfläche zeitlose Menschheitsprobleme aufscheinen. Lenz ist einer von vielen Obdachlosen, kutschiert seine karge Habe in Plastiktüten per Einkaufswagen durch die Wolkenkratzerwüstenei mit ihren höhnisch gleißenden Geldautomaten und Werbetafeln.
Was ihn von den anderen unterscheidet, die die Konsum- und Leistungsgesellschaft wieder ausgespuckt und an ihre Suppenküchen delegiert hat, ist sein Furor, sein noch nicht ganz gebrochenes Sendungsbewusstsein. Dieser schmuddelige Intellektuelle und Wahrheitsliebhaber läuft herum wie ein offenes Messer und lässt immer wieder auch im Wortsinn die Hosen runter.
Wie verkehrt alles läuft, offenbart nicht nur das Transparent „Krieg dem Frieden, Hütten den Palästen“. In jedem Detail der überwältigenden, in sich stimmig wirkenden und im Timing selbst bei den Statisten perfekten Inszenierung wird spürbar, dass dem Mann in dieser Welt nicht zu helfen ist – weder durch den ihn anstachelnden Konkurrenten Kaufmann (mit schneidendem Charaktertenor: Hans Kittelmann) noch durch den ihn mehr als mildtätig küssenden Pfarrer Oberlin (ein warmer Bass: Wonyong Kang).
Hans Gröning hat – anstelle des früh aus der Produktion ausgestiegenen Ensemblemitglieds Jochen Kupfer – die auch darstellerisch sehr anspruchsvolle Rolle übernommen und überzeugt restlos. Souverän meistert er das stimmliche Ausdrucksspektrum, das schon mit seinen Falsetthöhen und Basstiefen über herkömmlichen Baritongesang weit hinausgeht: Er haucht, flüstert, keucht, jault, ringt nach Atem, spricht, säuselt, singt, würgt, schreit und schweigt in einer Intensität, die unter die Haut geht.
Rücksichtslos gegen sich selbst treibt Gröning auch in seiner verstörend realistischen Körpersprache und Mimik die Figur ihrem Untergang entgegen, windet sich in Ängsten, Ekstasen und purer Verzweiflung, lässt viel in den Wutanfällen angestaute Aggression heraus, findet in seinem entäußerten Spiel zu existentiellem Ausdruck.
Rund achtzig Minuten dauert die Passion dieses einsamen, gottverlassenen und geschundenen Borderliners, die sich auf einer gegen Ende immer leerer werdenden Bühne vollendet. Und in keiner Sekunde stellt sich der Eindruck ein, dass das alles ja nur kunstvoll gemachte Oper ist. Sondern Musiktheater, wie es sein soll: bewegend für Herz und Hirn.
Besuchte Premiere am 23. Juni, Erstabdruck im Feuilleton des Fränkischen Tags. Weitere Vorstellungen am 25. und 30. Juni sowie am 4., 8. und 17. Juli 2019. Tickets unter Telefon 0180/1344-276, zusätzliche Infos auf der Homepage des Staatstheaters
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