Der folgende Beitrag über Wolfgang Wagner von Friedrich Dieckmann ist unter dem Titel „Wagner-Hydraulik“ zuerst in der September/Oktober-Ausgabe 1999 der Fachzeitschrift „Theater der Zeit“ erschienen. Dieser und weitere Texte des Essayisten, Kritikers und Autors über die Bayreuther Festspiele finden sich in dem empfehlenswerten Band „Bilder aus Bayreuth. Festspielberichte 1977–2006“, Verlag Theater der Zeit, darunter die wahrscheinlich längste und beste Besprechung von Patrice Chéreaus „Jahrhundert-Ring“, denn sie gibt die Eindrücke der Epoche machenden Inszenierung so genau, differenziert und unmittelbar wieder, dass zumindest alle, die diesen „Ring“ von 1976 bis 1980 erleben durften, bei der Lektüre nochmal Gänsehaut bekommen. Friedich Dieckmann hat zahlreiche Auszeichnungen bekommen, darunter 2013 den ersten Richard-Wagner-Preis der Richard-Wagner-Stiftung Leipzig.
Patriarchendämmerung
Wolfgang Wagner hat die „Meistersinger“ im Lauf eines langen Intendantenlebens immer wieder inszeniert. Sie sind sein Bezugs-, sein Identifikationswerk in dem Oeuvre des Großvaters, und wenn er seinen Sachs-Darsteller in der gleißenden Schusterstube (sie macht in Grell-Weiß nach, was Jügen Roses Holländer-Stube in Leuchtend-Geld vormacht) lärmend lospoltern läßt, um die Aufmerksamkeit der Jungen auf seine eigenen Probleme zu lenken (da knallt der Foliant auf den Tisch und der Holzsessel donnert auf den Estrich), dann ist es ganz, als ob der Festspielleiter seinem Bühnenhelden aufgebe, seinen eigenen Groll über die gründlich verfahrenen Nachfolge-Verhältnisse auf dem grünen Hügel Ausdruck zu geben; das Preissingen, das hier sich anbahnt, ist nicht nach seinem Gusto.
Der jüngere der beiden Wagner-Brüder hat als ein Festspielleiter, der seiner eigenen künstlerischen Grenzen bald inne wurde, immer Hans Sachs sein wollen, der Wegbereiter einer Jugend, die jenes schöpferischen Regelverstoßes mächtig war, der seine eigene Sache nicht war, und in den Sternstunden seiner 48jährigen Bayreuther Intendanz und 33jährigen Alleinherrschaft ist ihm das mehr als einmal exemplarisch geglückt, nicht nur mit Patrice Chéreau, sondern auch mit Regisseuren wie Götz Friedrich, Jean-Pierre Ponnelle oder Harry Kupfer. Sein Blick nach jenem Osten, der von Bayreuth aus im Norden lag, war, wenn es sich nicht gerade um Ruth Berghaus handelte, immer offen; politische Anwürfe, an denen es nicht fehlte, haben sein Werkstattprogramm nicht erschüttern können. Doch je älter er wurde, um so mehr entglitt ihm die Hans-Sachs-Rolle, und gänzlich mißriet sie ihm auf dem engeren wie dem weiteren Familienfelde; hier agierte er, so scheint es, eher wie Fritz Kothner, der zu autoritären Gesten neigende Innungsvorstand, als wie der ideenreich ausgleichende Schuster-Poet.
Dies konnte der Festspielleiter so lange für seine Privatangelegenheit ansehen, als er die Nachfolgefrage von sich fernhielt; er tat dies noch 1997 mit dem Hinweis auf die Satzung der 1973 von allen Festspielbeteiligten begründeten Richard-Wagner-Stiftung und wies „mit der gebotenen Nachdrücklichkeit“ darauf hin, daß „die Stiftung nicht zuletzt auch deshalb geschaffen“ worden sei, „um Familien-Willkür auszuschalten“: „Die Bayreuther Festspiele sind kein Familienbetrieb der Wagners, ein dynastisches Erbrecht gibt es nicht.“
Inzwischen macht er Miene, die Festspielleitung, wenn überhaupt, nur an seine ihm seit langem zur Seite stehende Frau Gudrun übergeben zu wollen, womöglich im Verbund mit seiner einundzwanzig Jahre alten Tochter Katharina: das Festspielbayreuth als sein eigener Familienbetrieb. Dazu muß man dann alle anderen Kandidaten der jüngeren Wagner-Generation für unkundig, unfähig, unerfahren erklären; das Spiel ist nicht schön und provoziert Gegenreaktionen.
Das von dem Festspielleiter mitgeschaffene Grundgesetz der weitgehend aus öffentlichen Haushalten finanzierten Bayreuther Festspiele verfügt vernünftigerweise, daß das Festspielhaus „grundsätzlich an ein Mitglied, gegebenenfalls auch an mehrere Mitglieder der Familie Wagner“ zur Abhaltung der Festspiele zu vermieten sei; das solle „nur dann nicht“ gelten, „wenn andere, besser geeignete Bewerber auftreten“. Nach welchem Modus solche außerfamiliären Bewerber in Erscheinung treten können, läßt die an dieser Stelle sonderbar schlampig formulierte Satzung im Dunkeln; sie verfügt aber (§ 8/2), daß diese andern Bewerber erst dann auftreten können, wenn der Stiftungsrat, in dem außer der Familie die Stadt, das Land, der Bund und weitere Geldgeber vertreten sind, einen Kandidaten zurückgewiesen hat, den die vier stimmberechtigten Siegfried-Wagner-Stämme zuvor mehrheitlich unter sich ausgemacht haben. Das letztere hat sich inzwischen als illusorisch erwiesen.
Hat die Stiftung also ihre Satzung geändert? Sie hat dem amtierenden Festspielleiter im März dieses Jahres die Erklärung abgerungen, daß das Nachfolgeverfahren eingeleitet werden könne; das ist ungefähr so, als ob der Papst dazu veranlaßt würde, das Konklave zur Ermittlung seines Nachfolgers einzuberufen. Wolfgang Wagners Position gleicht der des Papstes insofern, als die Stiftungsgründung versäumt hat, seine Amtszeit zu begrenzen; wenn ihm der vom Stiftungsrat bestimmte Nachfolger nicht gefiele, könnte ihn juristisch niemand hindern, noch weitere zehn Jahre zu amtieren.
Statt die Satzung zu präzisieren, hat die Stiftung (ihr Geschäftsführer ist der Bayreuther Oberbürgermeister) im März 1999 erklärt, „die von Siegfried Wagner abzuleitenden vier Stämme der Familie Wagner“ seien „auf ihr in der Stiftungssatzung verbrieftes Recht hingewiesen“ worden, „einen Vorschlag für die Nachfolge in der Festspielleitung an die Stiftung einzureichen“. Das entspricht dem Wortlaut der Satzung keineswegs; es läßt überdies offen, ob Wolfgang Wagner für seinen Familienstamm das alleinige Vorschlagsrecht innehabe oder ob auch seine Kinder aus erster Ehe – Eva, eine international erfahrene Opernbetriebsdirektorin, also mit ähnlicher Qualifikation wie die gleichaltrige zweite Frau ihres Vaters, oder Gottfried, der weit vom Vater entfernte Sohn – ein Vorschlagsrecht ausüben können. Alles dies ist mindestens so unklar und kompliziert wie die Thronfolgeverhältnisse im Hause Brabant.
Brauchen die Festspiele einen Gralsboten, um diese Wirrnis zu lösen? Der 24köpfige Stiftungsrat fungiert gleichsam als ein kollektiver Schwanenritter. Im Oktober wird er sich zur Soitzung versammeln und feststellen mössen, daß die vier Familienstimmen keinen mehrheitlich fundierten Vorschlag eingebracht haben; nach § 8/3 der Satzung müßte er dann einen Intendantenrat zusammenrufen (die Chefs der Münchner, Wiener und der Berlin-Charlottenburger Oper), um sich von ihm beraten zu lassen. Da die Festspiele selbst dann nicht gut von Betriebsdirektorinnen künstlerisch geleitet werden können, wenn diese „Mitglieder der Familie Wagner“ (die Satzung vermeidet es, diesen Status zu definieren) und in ihrem Fach bewährt sind, zwei denkbare Prätendenten, Wielands Sohn Wolf-Siegfried und Wolfgangs Sohn Gottfried, aber nicht als Bewerber auftreten, wird sich die Aufmerksamkeit des Gremiums dem einzigen Mitglied der Familie zuwenden, das nicht nur in der Lage ist, das künstlerische Erbe der Familie geistig zu vertreten, sondern – namens aller Wieland-Kinder – auch als Bewerberin auftritt. Das ist die Publizistin und Musikwissenschaftlerin Dr. Nike Wagner, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Autorin zahlreicher Essays, Vorträge, Aufsätze sowie eines kürzlich preisgekrönten Wagner-Theater-Buches.
Die gehört jener kritischen Nachkriegsgeneration an, die man mit der Jahreszahl ’68 belegt, und war und ist als eine Durchleuchterin gerade auch des Bayreuther Erbes keineswegs bequem. Sie ist es um so weniger, als sie seit den Tagen ihres Urgroßvaters das erste Familienmitglied ist, das sich literarische Kompetenz hat erwerben können, obschon auf ganz andern Pfaden als jener. Nicht an ihm, sondern an einem Wiener Meister, Karl Kraus, der wußte, warum er nie etwas gegen Wagner sagte, der ihm nicht wenige Blößen bot, hat sie ihre Prosa geschult: „Ein guter Meister!“ könnte Hans Sachs hier zwischenrufen. Ihr Antritt gegen den autokratischen Onkel gleicht ein wenig dem Verhältnis der grün-roten Opposition zu Helmut Kohl, diesem jüngeren Urgestein der alten BRD, das nun gute Figur auf den Abgeordnetenbänken macht; eine Wahl gab ihm diese Freiheit.
Daß Nike Wagner nicht inszenieren oder gar Bühnenbilder entwerfen werde, ist ebenso klar, wie, daß sie alles Praktisch-Organisatorische der Festspielleitung in die Hände eines erfahrenen Theatermannes legen würde; ihre Bewerbung, hört man, nennt ihn bereits. Wie wenig man ändern kann an Bayreuth, wird ihr im Fall einer Berufung bald ebenso klar werden, wie es, auf anderm Feld, der grün-roten Koalition klar wurde; in Interviews versucht sie sich gelegentlich darüber hinwegzusetzen. Der Spielplan ist von der Stiftungssatzung faktisch bis zum Jahre 2052 festgelegt: das Festspielhaus darf „einzig der festlichen Aufführung der Werke Richard Wagners“ gelten. Natürlich könnte man es mal mit den „Feen“ oder dem „Liebesverbot“ versuchen, aber schon der „Holländer“ paßt ja akustisch im Grunde nicht unter den Schalldeckel.
Auch musikalisch gibt es nur einen Spielraum: die bestmöglichen Sänger, Dirigenten, Orchestermitglieder heranzuholen und zu versuchen, sie zur Sommergemeinschaft zusammenzufügen. Weit mehr als die Partiturauslegung gibt das inszenatorische Moment Spielräume zeit- und werkgemäßer Auslegung. Nicht auf die Strapazierung, sondern auf die Aneignung, die Aufhellung eines längst kanonisch gewordenen Oeuvres wird es dabei ankommen, so wie für Wieland Wagner in den fünfziger und sechziger, wie für Patrice Chéreau und andere in den siebziger und achtziger Jahren. Wagners Werk in seiner anarchischen Friedenssehnsucht, seinem verzweifelt-ausdrucksmächtigen Rebellentum zu einem Verbündeten der Zukunft zu machen ist die einzige Möglichkeit, den Festspielen Zukunft zu gewinnen; dazu bedarf es der Geschmeidigkeit des Geistes ebenso wie des Mutes zur Repräsentanz.
So spannend, so konfliktreich geht es derzeit zu hinter und vor den hydraulischen Kulissen von Bayreuth; mit Rührung aber sieht der „Meistersinger“-Zuschauer am Ende einer bejubelten Aufführung den schlohweißen Prinzipal sich unter die Sängerschar mischen; noch im August feiert er seinen achtzigsten Geburtstag. Längst ist er der Nestor seines Metiers, eine Intendantenspezies verkörpernd, die in der verwalteten Welt nicht nachwachsen kann; dies gibt seiner Gestalt einen Hauch von Tragik. Nach Patriarchenweise erklärt er sich gern für unersetzbar, aber natürlich weiß er, daß er das Maß seiner Verdienste längst erfüllt hat. Eins der größten liegt darin, daß Bayreuth unter seiner geschäftskundigen Leitung niemals zum High-Society-Festival wurde. Kraft relativ niedrig gehaltener Eintrittspreise blieb es offen für alle die, welche statt Jaguar und Mercedes Volkswagen und Peugeot fahren oder wohl gar mit der Eisenbahn kommen. Nicht zuletzt deshalb ist dieses einzigartige Festival auf Jahre hin ausverkauft: ein Opernfest der Liebhaber, nicht der Angeber. Aber es wäre verloren ohne den permanenten Anstoß zu innerer Erneuerung.
Mit wahrem Kampfesmut ist Wolfgang Wagner immer wieder den Schwarzhändlern von Festspielkarten in den Arm gefallen; was er hier verteidigte, war die Substanz seines Lebenswerks. Wie fern er damit einem neoliberalen Zeitgeist steht, bescheinigen ihm zuweilen die Kenner. Erst kürzlich ließ ein Frankfurter Leitartikler durchblicken, daß der Festspielleiter heute ohne weiteres seine Frau als Nachfolgerin einsetzen könnte, wenn er weniger links gedacht und Bayreuth, ohne Rücksicht auf die dann nicht mehr gestützten Kartenpreise, als reines Privattheater aufrechterhalten hätte; „die Nichte Nike“, so Roswin Finkenzeller, könnte ihm dann nicht in die Quere kommen. Hier waltet ein Trugschluß, denn nicht, um seine Vollmachten zu beschneiden, sondern um sie sicherzustellen, hat Wolfgang Wagner die Eigentümerin des Festspiel- und Wahnfriedhauses, seine Mutter Winifred, vor einem Vierteljahrhundert dazu bewogen, dieses Grundvermögen der Gesamtfamilie in eine Stiftung einzubringen. Im übrigen ist es die Frage, ob Leute, die siebenhundert Mark für einen mittleren Platz ausgeben könnten, ein Werk wie den „Ring“ wirklich zu Tausenden hören wollten; sie würden bestimmt bessere Stühle verlangen.
Im Kulturteil derselben F.A.Z.-Ausgabe (7. August 1999) bekundet Nike Wagner mit einem Essay über Richard Wagners Folgen und Wirkungen in der europäischen Kunst, wie sehr sie der Last wie der Lust der Aufgabe bewußt ist. Mit Sympathie zitiert sie Mallarmé, der Bayreuth eine „heilige Stätte gegen das Ungenügen am eigenen Selbst und gegen die Mittelmäßigkeit der Vaterländer“ genannt hat, und fördert beiläufig zutage, daß die „Meistersinger“ die Lieblingsoper von James Joyce gewesen seien. Am Ende sind Onkel und Nichte näher beieinander, als sie ahnen und vermeinen. Ihr mit einer Inbrunst, wie nur Verwandte sie aufbringen, ausgetragener Streit nützt auf die Dauer weder Bayreuth noch der Wagner-Familie; spätestens, wenn das kollektive Votum gefallen ist, sollten sie aufeinander zugehen.
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