Unser Mitglied Lucien Kayser aus Luxemburg pilgert als französischsprachiger Kritiker seit Jahrzehnten nach Bayreuth und zu Aufführungen von Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, ist also prädestiniert dafür, uns hiermit auf die Bayreuther „Malküre“ einzustimmen – auf drei konzertante Aufführungen der „Walküre“ unter Pietari Inkinen bei den Festspielen 2021, die der österreichische Aktionskünstler mit Malaktionen gestalten wird.
Selbst seriöse Feuilletons kamen nicht am „Blutkünstler“-Schlagwort vorbei, als bekannt wurde, Hermann Nitsch werde im Sommer die „Walküre“ auf dem Grünen Hügel (mit)gestalten. Nur zur Beruhigung: In Bayreuth wird kein Blut fließen, drei Wochen vorher wird es in Prinzendorf nach zwanzig Jahren eine Neuaufführung des 6-Tage-Spiels gegeben haben – keine Vermischung also von Richard Wagner und dem Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Der Aktionismus wird wohl auf die Malerei beschränkt bleiben, das heißt, diejenigen, die Nitsch nicht kennen oder schlecht und falsch, werden einen grandiosen Koloristen entdecken können, Klangfarben und Farbklänge werden zusammenfinden.
Den steten und intensiven Umgang mit Musik kann man Nitsch nicht absprechen, denn er komponiert selbst, spielt Orgel und hat mehrfach auch schon Musiktheater inszeniert und mit Farbrinnsalen ausgestattet, darunter Jules Massenets „Hérodiade“ in Wien, Robert Schumanns „Faust“-Szenen in Zürich, Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ in München und die Ghandi-Oper „Satyagraha“ von Phil Glass in St. Pölten. Von Wagners Musik ist Nitsch schon lange besonders angetan – und von dessen Hang zum Gesamtkunstwerk. Nicht verwunderlich, dass in der hügeligen Landschaft nahe der österreichisch-tschechischen Grenze, also auch fern von Lärm und Hauptstadt, ein Prinzendorf als Pendant zu Bayreuth entstehen konnte. Philosophen, die das Werk Wagners begleiten oder besser gesagt: fast beherrschen, sind auch bei Nitsch maßgebend – von der Lebenserfahrung Nietzsches bis zur Weltverneinung Schopenhauers, sicher in umgekehrter Abfolge.
Was wir im Festspielhaus (wahrscheinlich) erleben werden, darf man vielleicht am ehesten auf Charles Baudelaire und auf sein Erlebnis von „Tannhäuser à Paris“* zurückführen, auf die synästhetische Verschmelzung in den Zeilen der „Correspondances“ aus „Les Fleurs du Mal“ (zitiert nach der Taschenbuchausgabe von Garnier-Flammarion, Paris 1964):
CORRESPONDANCES
La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.
Comme de longs échos qui de loin se confondent
Dans une ténébreuse et profonde unité,
Vaste comme la nuit et comme la clarté,
Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.
Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants,
Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,
— Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,
Ayant l’expansion des choses infinies,
Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens,
Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.
Deutsche Übertragung von Carlo Schmid (zitiert nach der Taschenbuchausgabe von Charles Baudelaire: „Die Blumen des Bösen“ aus dem Insel Verlag Frankfurt 1976):
BEZOGENHEITEN
Es ist Natur ein Tempel, dessen Pfeiler leben
Und dann und wann ein Wort von dunkelm Sinn verwehen;
Drin muß der Mensch durch einen Wald von Bildern gehen,
Die aufmerksamen Augs ihm traute Blicke geben.
Wie langer Widerhall, der ferne sich vermenge
Und sich in tiefen Einklangs Dämmertone bricht
– Weit wie die Nächte sind und grundlos wie das Licht –
Antworten sich im Ruf die Düfte, Farben, Klänge.
Da gibt es Düfte, wie die Haut von Kindern frische,
Süß wie Oboen, grün wie eine junge Wiese
– Und andere, verderbt und reich, gebieterische,
Die wie Unendliches in letzte Gründe dringen;
So Amber, Moschus und der Weihrauch, alle diese,
Die unseres Fleisches und des Geists Entrückung singen.
„Les parfums, les couleurs et les sons se rejoignent“: Entsprechung, Verknüpfung, Widerhall, Widerspiegelung, viele Übersetzungen sind möglich. Die Klänge bei Nitsch sind kaleidoskopische Farbkompositionen, Farbrinnsale des Seins, Farbschüttungen der am Boden liegenden Leinwände. Ganz kurz sei an eine Szene aus Messiaens „Saint François d’Assise“ im Münchner Nationaltheater 2011 erinnert: die Leiche des Franziskus, goldfarben gekleidet, am Boden die gleichen weißen und gelben Farben, die Bühne in goldenem Licht.
„Wenn schon kein Blut“, wird man fragen, „auf Rot wird Nitsch wohl nicht verzichten?“ Nun ja, vieles in der „Walküre“ schreit gleichsam nach dieser Farbe – die ekstatische Geschwisterliebe, der Kampf zwischen Siegmund und Hunding (bevor Wotan den schwarzen Vorhang fallen lässt), ein letztes Aufglühen des Feuers auf dem Felsen. Die Farbe Rot ist halt die intensivste, Farbe des Blutes, ein ganz besonderer Saft nach Mephisto, Farbe der Liebe, Farbe von Leben und Tod.
Eine Szene zum Abschluss, über die „Walküre“ hinaus. Zwei Abende später, Siegfried verweigert den Rheintöchtern den Ring, hebt eine Erdscholle vom Boden auf und wirft sie hinter sich mit den Worten „Denn Leben und Leib, seht: so – werf ich sie weit von mir!“ Diese verschwenderische Geste, mit Georges Bataille in Annäherung zum Potlatch bzw. Potlatsch** eine „dépense improductive“ oder Gabe ohne Gegenleistung, ist sie nicht vergleichbar mit der Schüttkunst von Nitsch, wobei letzterer eine hohe Sinnlichkeit innewohnt und in den Bildern zur Vergeistigung geführt wird?
*Charles Baudelaire: „Richard Wagner und Tannhäuser in Paris“
**Georges Bataille: „Über die Theorie der Verschwendung“
LUCIEN KAYSER (SELBSTAUSKUNFT)
Mein erster Zugang zu Wagner geschah über die Literatur, bei den Franzosen Baudelaire und Julien Gracq, auch studienhalber die Revue wagnérienne, bei den Deutschen an erster Stelle Thomas Mann; während der Pariser Jahre, Sorbonne, École normale supérieure, dann das tiefe Erlebnis, hoch oben im Palais Garnier, von Wieland Wagners „Tristan“, beim Gastspiel der Bayreuther Festspiele, mit Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, am Pult George Sebastian.
Zehn Jahre verstrichen bis zum ersten Bayreuth-Aufenthalt, zu Chéreaus „Ring“, und ich wurde zum „Perfect“ Wagnerianer à la George Bernard Shaw. Was bis heute, Jahr für Jahr, mit unzähligen Artikeln, angedauert hat.
Die ersten Besuche in Prinzendorf fanden statt während meiner Gastprofessuren an der Salzburger Universität, zu Beginn der 80-er Jahre, und wie bei Wagner gab es seither kein Loslassen.
Was folgt ist marginal, hat aber mein Leben spannender gemacht in den Gegensätzlichkeiten: einerseits internationaler Fußball-Schiedsrichter, UEFA-Beobachter und -Delegierter, andererseits noch heute Vorsitzender der Luxemburger Sektion der AICA (Association Internationale des Critiques d’Art) sowie der Section des Arts et Lettres des Institut grand-ducal.
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