Farbrinnsale des Seins

Un­ser Mit­glied Lu­ci­en Kay­ser aus Lu­xem­burg pil­gert als fran­zö­sisch­spra­chi­ger Kri­ti­ker seit Jahr­zehn­ten nach Bay­reuth und zu Auf­füh­run­gen von Her­mann Nit­schs Or­gi­en-Mys­te­ri­en-Thea­ter, ist also prä­de­sti­niert da­für, uns hier­mit auf die Bay­reu­ther „Mal­kü­re“ ein­zu­stim­men – auf drei kon­zer­tan­te Auf­füh­run­gen der „Wal­kü­re“ un­ter Pie­ta­ri In­ki­nen bei den Fest­spie­len 2021, die der ös­ter­rei­chi­sche Ak­ti­ons­künst­ler mit Mal­ak­tio­nen ge­stal­ten wird.

Her­mann Nit­sch 2013 im Mu­seo Cor­rer in Ve­ne­dig Foto: Lu­ci­en Kayser

Selbst se­riö­se Feuil­le­tons ka­men nicht am „Blutkünstler“-Schlagwort vor­bei, als be­kannt wur­de, Her­mann Nit­sch wer­de im Som­mer die „Wal­kü­re“ auf dem Grü­nen Hü­gel (mit)gestalten. Nur zur Be­ru­hi­gung: In Bay­reuth wird kein Blut flie­ßen, drei Wo­chen vor­her wird es in Prin­zen­dorf nach zwan­zig Jah­ren eine Neu­auf­füh­rung des 6-Tage-Spiels ge­ge­ben ha­ben – kei­ne Ver­mi­schung also von Ri­chard Wag­ner und dem Or­gi­en-Mys­te­ri­en-Thea­ter von Her­mann Nit­sch. Der Ak­tio­nis­mus wird wohl auf die Ma­le­rei be­schränkt blei­ben, das heißt, die­je­ni­gen, die Nit­sch nicht ken­nen oder schlecht und falsch, wer­den ei­nen gran­dio­sen Ko­lo­ris­ten ent­de­cken kön­nen, Klang­far­ben und Farb­klän­ge wer­den zusammenfinden.

Den ste­ten und in­ten­si­ven Um­gang mit Mu­sik kann man Nit­sch nicht ab­spre­chen, denn er kom­po­niert selbst, spielt Or­gel und hat mehr­fach auch schon Mu­sik­thea­ter in­sze­niert und mit Farb­rinn­sa­len aus­ge­stat­tet, dar­un­ter Ju­les Mas­se­nets „Hé­ro­dia­de“ in Wien, Ro­bert Schu­manns „Faust“-Szenen in Zü­rich,  Oli­vi­er Mes­siaens „Saint Fran­çois d’Assise“ in Mün­chen und die Ghan­di-Oper „Sa­tyag­ra­ha“ von Phil Glass in St. Pöl­ten. Von Wag­ners Mu­sik ist Nit­sch schon lan­ge be­son­ders an­ge­tan – und von des­sen Hang zum Ge­samt­kunst­werk. Nicht ver­wun­der­lich, dass in der hü­ge­li­gen Land­schaft nahe der ös­ter­rei­chisch-tsche­chi­schen Gren­ze, also auch fern von Lärm und Haupt­stadt, ein Prin­zen­dorf als Pen­dant zu Bay­reuth ent­ste­hen konn­te. Phi­lo­so­phen, die das Werk Wag­ners be­glei­ten oder bes­ser ge­sagt: fast be­herr­schen, sind auch bei Nit­sch maß­ge­bend – von der Le­bens­er­fah­rung Nietz­sches bis zur Welt­ver­nei­nung Scho­pen­hau­ers, si­cher in um­ge­kehr­ter Abfolge.

Was wir im Fest­spiel­haus (wahr­schein­lich) er­le­ben wer­den, darf man viel­leicht am ehes­ten auf Charles Bau­de­lai­re und auf sein Er­leb­nis von „Tann­häu­ser à Pa­ris“* zu­rück­füh­ren, auf die syn­äs­the­ti­sche Ver­schmel­zung in den Zei­len der „Cor­re­spond­an­ces“ aus „Les Fleurs du Mal“ (zi­tiert nach der Ta­schen­buch­aus­ga­be von Gar­nier-Flamm­a­ri­on, Pa­ris 1964):

COR­RE­SPOND­AN­CES

La Na­tu­re est un temp­le où de vi­vants piliers
Lais­sent par­fois sor­tir de con­fu­ses paroles;
L’homme y pas­se à tra­vers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des re­gards familiers.

Com­me de longs échos qui de loin se confondent
Dans une té­néb­reu­se et pro­fon­de unité,
Vas­te com­me la nuit et com­me la clarté,
Les par­fums, les cou­leurs et les sons se répondent.

Il est des par­fums frais com­me des chairs d’enfants,
Doux com­me les haut­bo­is, verts com­me les prairies,
— Et d’autres, cor­rom­pus, ri­ches et triomphants,

Ayant l’expansion des cho­ses infinies,
Com­me l’ambre, le musc, le ben­join et l’encens,
Qui chan­tent les trans­ports de l’esprit et des sens.

Deut­sche Über­tra­gung von Car­lo Schmid (zi­tiert nach der Ta­schen­buch­aus­ga­be von Charles Bau­de­lai­re: „Die Blu­men des Bö­sen“ aus dem In­sel Ver­lag Frank­furt 1976):

BEZOGENHEITEN

Es ist Na­tur ein Tem­pel, des­sen Pfei­ler leben
Und dann und wann ein Wort von dun­kelm Sinn verwehen;
Drin muß der Mensch durch ei­nen Wald von Bil­dern gehen,
Die auf­merk­sa­men Augs ihm trau­te Bli­cke geben.

Wie lan­ger Wi­der­hall, der fer­ne sich vermenge
Und sich in tie­fen Ein­klangs Däm­mer­to­ne bricht
– Weit wie die Näch­te sind und grund­los wie das Licht –
Ant­wor­ten sich im Ruf die Düf­te, Far­ben, Klänge.

Da gibt es Düf­te, wie die Haut von Kin­dern frische,
Süß wie Obo­en, grün wie eine jun­ge Wiese
– Und an­de­re, ver­derbt und reich, gebieterische,

Die wie Un­end­li­ches in letz­te Grün­de dringen;
So Am­ber, Mo­schus und der Weih­rauch, alle diese,
Die un­se­res Flei­sches und des Geists Ent­rü­ckung singen.

„Les par­fums, les cou­leurs et les sons se re­joig­n­ent“: Ent­spre­chung, Ver­knüp­fung, Wi­der­hall, Wi­der­spie­ge­lung, vie­le Über­set­zun­gen sind mög­lich. Die Klän­ge bei Nit­sch sind ka­lei­do­sko­pi­sche Farb­kom­po­si­tio­nen, Farb­rinn­sa­le des Seins, Farb­schüt­tun­gen der am Bo­den lie­gen­den Lein­wän­de. Ganz kurz sei an eine Sze­ne aus Mes­siaens „Saint Fran­çois d’Assise“ im Münch­ner Na­tio­nal­thea­ter 2011 er­in­nert: die Lei­che des Fran­zis­kus, gold­far­ben ge­klei­det, am Bo­den die glei­chen wei­ßen und gel­ben Far­ben, die Büh­ne in gol­de­nem Licht.

„Wenn schon kein Blut“, wird man fra­gen, „auf Rot wird Nit­sch wohl nicht ver­zich­ten?“ Nun ja, vie­les in der „Wal­kü­re“ schreit gleich­sam nach die­ser Far­be – die ek­sta­ti­sche Ge­schwis­ter­lie­be, der Kampf zwi­schen Sieg­mund und Hun­ding (be­vor Wo­tan den schwar­zen Vor­hang fal­len lässt), ein letz­tes Auf­glü­hen des Feu­ers auf dem Fel­sen. Die Far­be Rot ist halt die in­ten­sivs­te, Far­be des Blu­tes, ein ganz be­son­de­rer Saft nach Me­phis­to, Far­be der Lie­be, Far­be von Le­ben und Tod.

Eine Sze­ne zum Ab­schluss, über die „Wal­kü­re“ hin­aus. Zwei Aben­de spä­ter, Sieg­fried ver­wei­gert den Rhein­töch­tern den Ring, hebt eine Erd­schol­le vom Bo­den auf und wirft sie hin­ter sich mit den Wor­ten „Denn Le­ben und Leib, seht: so – werf ich sie weit von mir!“ Die­se ver­schwen­de­ri­sche Ges­te, mit Ge­or­ges Ba­tail­le in An­nä­he­rung zum Pot­latch bzw. Pot­latsch** eine „dé­pen­se im­pro­duc­ti­ve“ oder Gabe ohne Ge­gen­leis­tung, ist sie nicht ver­gleich­bar mit der Schütt­kunst von Nit­sch, wo­bei letz­te­rer eine hohe Sinn­lich­keit in­ne­wohnt und in den Bil­dern zur Ver­geis­ti­gung ge­führt wird?

*Charles Bau­de­lai­re: „Ri­chard Wag­ner und Tann­häu­ser in Paris“
**Ge­or­ges Ba­tail­le: „Über die Theo­rie der Verschwendung“

Nit­sch in Ve­ne­dig, Mu­seo Cor­rer, 2013 Foto: Lu­ci­en Kayser

LU­CI­EN KAY­SER (SELBST­AUS­KUNFT)
Mein ers­ter Zu­gang zu Wag­ner ge­schah über die Li­te­ra­tur, bei den Fran­zo­sen Bau­de­lai­re und Ju­li­en Gracq, auch stu­di­en­hal­ber die Re­vue wag­né­ri­en­ne, bei den Deut­schen an ers­ter Stel­le Tho­mas Mann; wäh­rend der Pa­ri­ser Jah­re, Sor­bon­ne, Éco­le nor­ma­le supé­ri­eu­re, dann das tie­fe Er­leb­nis, hoch oben im Pa­lais Gar­nier, von Wie­land Wag­ners „Tris­tan“, beim Gast­spiel der Bay­reu­ther Fest­spie­le, mit Bir­git Nils­son und Wolf­gang Wind­gas­sen, am Pult Ge­or­ge Sebastian.
Zehn Jah­re ver­stri­chen bis zum ers­ten Bay­reuth-Auf­ent­halt, zu Ché­re­aus „Ring“, und ich wur­de zum „Per­fect“ Wag­ne­ria­ner à la Ge­or­ge Ber­nard Shaw. Was bis heu­te, Jahr für Jahr, mit un­zäh­li­gen Ar­ti­keln, an­ge­dau­ert hat.
Die ers­ten Be­su­che in Prin­zen­dorf fan­den statt wäh­rend mei­ner Gast­pro­fes­su­ren an der Salz­bur­ger Uni­ver­si­tät, zu Be­ginn der 80-er Jah­re, und wie bei Wag­ner gab es seit­her kein Loslassen.
Was folgt ist mar­gi­nal, hat aber mein Le­ben span­nen­der ge­macht in den Ge­gen­sätz­lich­kei­ten: ei­ner­seits in­ter­na­tio­na­ler Fuß­ball-Schieds­rich­ter, UEFA-Be­ob­ach­ter und -De­le­gier­ter, an­de­rer­seits noch heu­te Vor­sit­zen­der der Lu­xem­bur­ger Sek­ti­on der AICA (As­so­cia­ti­on In­ter­na­tio­na­le des Cri­ti­ques d’Art) so­wie der Sec­tion des Arts et Let­t­res des In­sti­tut grand-ducal.

Zwei Fest­spiel­kri­ti­ker (und spä­te­re Mit­glie­der des Ri­chard-Wag­ner-Ver­bands Bam­berg) 1980 beim letz­ten Chéreau-„Ring“: Mo­ni­ka Beer und Lu­ci­en Kay­ser Foto: privat

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