Unser Mitglied Andreas H. Hölscher hat in Leipzig die Premiere der „Meistersinger“-Neuinszenierung von Daivd Pounteny besucht. Hier seine Kritik.
Kaum ein anderes Werk in der Opernliteratur ist politisch so belastet wie Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ aus dem Jahre 1868, und kaum ein anderes Werk ist so häufig als Zielscheibe geschichtlicher Aufarbeitung durch Regisseure benutzt worden wie eben dieses Werk, leider oft unter Verkennung der ursprünglichen historischen und musikalischen Interpretation. Diese wunderbare musikalische Komödie spielt im mittelalterlichen Nürnberg, wo sich der verwitwete Schuster Hans Sachs, der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser und der junge adlige Draufgänger Walther von Stolzing singend, dichtend und auch prügelnd um Eva streiten. Warum? Weil der Goldschmied Pogner seine begehrte Tochter als Preis im jährlichen Sängerwettbewerb ausgeschrieben hat, um deutlich zu machen, wie wichtig ihm die Kunst ist. Und so werden „Die Meistersinger von Nürnberg“ zu einem musikalischen Meisterwerk, das die Frage nach der Bedeutung von Kunst – hier der Musik – für unser Leben und die Gesellschaft stellt.
In Bayreuth hat Barrie Kosky mit seiner Inszenierung der „Meistersinger“ von 2017 bis 2021 einen neuen Maßstab gesetzt, an dem sich zukünftige Inszenierungen messen lassen müssen. In Leipzig hat es jetzt Regisseur David Pountney mit einem ganz anderen perspektivischen Ansatz versucht, und als Leitmotiv das Wagner-Zitat „Hier gilt’s der Kunst“ in den Vordergrund gestellt. Für Pountney steht vor allem die Humanität der Figuren im Vordergrund, und er sieht es als seine eigentliche Hauptaufgabe, den komplexen Detaillierungsgrad der Charaktere herauszuarbeiten, was ihm im Grundsatz auch gelingt. In Bezug auf den historischen Kontext sieht er den Nationalismus in diesem Werk „als ein sozialistisches Ideal“. Er habe deshalb versucht, noch eine andere Perspektive zu zeigen, nämlich wie wir als heutige Menschen mit der Geschichte umgehen. Er wolle, „ohne den Zeigefinger zu heben“, in den „Meistersingern“ einen Kontext schaffen, worin man darüber zumindest nachdenken kann. Pountney ist als Brite sicher frei von allen Verdächtigungen, dieses Werk deutschtümelnd und die jüngere Geschichte ignorierend auf die Bühne zu bringen. Doch gelingt ihm der interessante und nachdenkenswerte Ansatz nur zum Teil, zu sehr vermischt er Geschichte und Gegenwart, als dass ihm damit ein stringenter Regieansatz gelungen wäre.
Bevor sich jedoch der Vorhang heben kann, tritt Operndirektorin Franziska Severin auf die Bühne und teilt dem Publikum mit, dass Mathias Hausmann, der den Sixtus Beckmesser verkörpern sollte, kurzfristig erkrankt ist und definitiv nicht singen könne. Für ihn springt der aus Bayreuth stammende Ralf Lukas ein, der die Partie von der seitlichen Bühne aus singt, während Hausmann den Beckmesser auf der Bühne mimt. Das ist schon eine herbe Enttäuschung, denn viele Leipziger Zuschauer haben sich auf das Rollendebüt Hausmanns gefreut, der mit seinem sehr edlen Bariton und seiner stimmlichen Vielseitigkeit sicher einen Glanzpunkt gesetzt hätte. Aber durch diese „Notlösung“ kann immerhin die Premiere gerettet werden.
Wohltuend zu Beginn, dass der Vorhang im Gegensatz zu den heutigen Gepflogenheiten während des Vorspiels zum ersten Aufzug geschlossen bleibt, so dass man diese wunderbare Ouvertüre, vom Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung ihres GMD Ulf Schirmer in moderatem Tempo und einem grandiosen Klangteppich dargeboten, ohne Ablenkung pur genießen kann, mit einem wundervollen Übergang zur Chorszene in der Katharinenkirche. Das Bühnenbild von Leslie Travers zeigt direkt, in welche Richtung diese Inszenierung gehen wird. Im Vordergrund steht eine Art griechisches Amphitheater, wie Wagner es selbst für seine Werke wollte und wie es zu Beginn der Ära Neubayreuth Wieland Wagner für seine Inszenierungen gerne benutzt hat. Ob Pountney eine direkte Assoziation zu Wieland Wagner herstellen wollte, ist nicht bekannt. Für ihn ist der Schlüssel zum Werk die Festwiesenszene im dritten Aufzug, wenn das Volk entscheiden soll, was Kunst ist und was nicht.
Für Pountney geht das auf das antike griechische Theater zurück, „wo sich das Volk in großen Amphitheatern versammelt hat und wo Kunst als ein Wettbewerb stattfand, bei dem das Volk das endgültige Urteil fällt.“ Das sei der demokratische Gedanke, der dahinter steht. Laut Pountney sei Nürnberg für Wagner „eigentlich im griechischen Sinne eine Polis und die Festwiese der antike Theaterplatz“. Von diesem Ausgangspunkt ist auf der Bühne des Amphitheaters ein pittoreskes mittelalterliches Nürnberg im Miniaturformat aufgebaut, das zum Teil im Laufe der zweiten Szene noch ergänzt und erweitert wird. Der Chor trägt gewöhnliche Alltagskleidung der heutigen Zeit, einige Sänger fallen durch weiße Overalls auf. Es sind die Lehrbuben, die, nachdem sie sich der Overalls entledigt haben, in mittelalterlicher bunter Tracht auf der Bühne stehen. Die Kostüme für diese Inszenierung entwarf Marie Jeanne Lecca. Während die Meister in prachtvollen mittelalterlichen Gewändern auftreten, ist Stolzing ganz jetztzeitlich gekleidet, während Eva ein eher zeitloses Dirndl trägt und als naives Blondchen rüberkommt und Magdalene die Gouvernante mit Erziehungsauftrag gibt. Hier gibt es also auch unterschiedliche zeitliche Perspektiven, nicht nur die Größenrelation zu den Miniaturgebäuden.
Beckmesser fällt ganz aus diesem Schema heraus, sein schwarzes Kostüm verleiht ihm fast etwas mephistophelisches, zumindest ist er im Vergleich zu den beeindruckenden Meistern eher eine schäbige Karikatur. David hebt sich ebenfalls optisch von den anderen Lehrbuben ab, er trägt schon eine Art Festgewand und ragt als Schustergesell hierarchisch deutlich heraus. Während der Singstunde bauen die Lehrbuben das Miniatur-Nürnberg um, und aus so manchem Haus wird dann der Stuhl für den Meister. Veit Pogner, trägt mit dem prächtigsten Gewand seinen Reichtum zur Schau und legt ein ähnlich überhebliches Verhalten an den Tag wie Daland im „Fliegenden Holländer“, der für Geld seine Tochter verschachert, auch wenn er es wesentlich kunstvoller umschreibt. Als Stolzing nun das erste Mal vorsingen darf, sitzt Beckmesser in einem kleinen Türmchen, das Gesicht von einem Vorhang bedeckt, und merkt auf einer kleinen Schultafel mit Kreide die vermeintlichen Fehler Stolzings an. Zum Schluss des ersten Aufzuges, nach dem Tohuwabohu des Vorsingens, ist Hans Sachs alleine auf der Bühne, greift sich die vollgekritzelte Tafel, spuckt drauf und wischt sie sauber und löscht damit die Notizen.
Der zweite Aufzug setzt bühnentechnisch noch einen drauf. Zu den Miniaturen sind jetzt auf der linken Bühnenseite ein überdimensionales Fenster, das das Haus Pogners symbolisieren soll, und auf der rechten Seite eine gleichgroße Tür, die den Eingang zur Schusterstube von Hans Sachs zeigt. Durch die unterschiedlichen Größen ergeben sich sowohl für die Akteure als auch für die Zuschauer immer wieder neue Perspektiven auf das Geschehen. Während des Ständchens von Beckmesser sitzt Magdalene in der Verkleidung Evas auf einer großen Schaukel vor dem riesigen Fenster, während Eva und Stolzing auf den Stufen des Amphitheaters sitzen und die ganze Szenerie wie unbeteiligte Zuschauer verfolgen. Der Nachtwächter, der oben auf der Tribüne erscheint, geht an Krücken. Er scheint ein Kriegsversehrter zu sein, der als Nachtwächter ein karges Dasein fristen darf.
Fast schon romantisch dagegen das Miniatur-Nürnberg, mit erleuchteten Fenstern, und aus einem kleinen Kamin kommt sogar Rauch heraus. Etwas verstörend dann die Prügelszene zum Schluss des zweiten Aufzuges. Die Nürnberger, die sich da eine handfeste Auseinandersetzung leisten, sind alle im Gesicht grell-weiß geschminkt, und sie tragen entweder schwarze, weiße oder rote Overalls, die Farben der deutschen Reichsflagge. Ob politisch so gewollt oder Zufall, das muss jeder Zuschauer für sich allein entscheiden. Zu den Hornrufen des Nachtwächters fallen alle Streithähne zu Boden, und mit einer eindrucksvollen Projektion hat man die Assoziation, als ob Nürnberg in Trümmern liege. Für die Lichtregie zeichnet Fabrice Kebour verantwortlich.
Im dritten Aufzug wird es zunächst heimelig. Auf der Bühne eine riesige Schusterstube, ganz aus Holz, mit Butzenfenster, auf dem Dach eine noch kleinere Miniaturausgabe von Nürnberg, das jetzt nur noch eine Art Modell ist. Pountney lässt in seiner Personenregie keinen Zweifel daran, dass Sachs Eva liebt, und auch Eva liebt ihren Sachs. Doch dieses Glück hat keine Zukunft, nicht umsonst hat Wagner hier sein Zitat aus „Tristan und Isolde“ eingebaut, wenn Hans Sachs singt: „Mein Kind, von Tristan und Isolde kenn ich ein traurig Stück. Hans Sachs war klug und wollte nichts von Herrn Markes Glück.“ Sachs umarmt Evchen inniglich, um sie dann in Stolzings Arme zu führen. Das ist vielleicht der berührendste Moment der Aufführung, großartig gespielt.
Zum Schluss der Festwiesenszene kommt dann aber der inszenatorische Bruch. Die Schusterstube wird in die Unterbühne herabgelassen, so dass nur noch das kleine Nürnberger Stadtmodell zu sehen ist. Doch ein riesiger Deckel kommt von oben und bedeckt das Modell. Man kann es auch simpel formulieren, Poutney macht über Nürnberg den Deckel zu. Übrig bleibt jetzt das leere Amphitheater, in das die Zünfte in teilweise eierschalenfarbenen Anzügen paramilitärisch einmarschieren. Diese Szene ist nun wahrlich kein großer Wurf, mehr eine Verballhornung des Werkes als seriöse Auseinandersetzung mit dem Stoff. Doch es wird noch besser. Für das Preislied werden wieder Holzteile auf die Bühne gebracht und von den Lehrbuben zusammengebaut. Es ist aber nicht mehr das Miniatur-Nürnberg aus dem ersten und zweiten Aufzug, sondern es ist der Berliner Reichstag, der als Holzmodell entsteht. Wenn man es positiv interpretieren möchte, dann könnte man sagen, als Wahrzeichen von Deutschland ist das das Symbol, dass die Kunst weit über die Grenzen der Stadt Nürnberg das ganze Land vereint, wenn Hans Sachs in seiner Schlussansprache formuliert: „Drum sag ich Euch: Ehrt Eure deutschen Meister! Dann bannt Ihr gute Geister; und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst, zerging in Dunst das heil’ge röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!“
Vielleicht ist es aber auch ein frei interpretierter Hinweis an unsere Politiker, die Kunst mehr zu achten, die ja während der Corona-Pandemie quasi keine Rolle mehr gespielt hat. Als nach der Schlussansprache von Hans Sachs der mit einem weißen Frack bekleidete Stolzing nun doch die Meisterkette empfängt, wendet sich Eva unbemerkt von ihm ab und verlässt die Bühne. Stolzing war für sie der Freigeist, der Revoluzzer, der sie aus dem spießigen und kleingeistigen Leben in Nürnberg befreien sollte, und jetzt ist er am Schluss selbst ein Teil des Establishments geworden, ein Meistersinger. Ein sehr pointierter und gewagter Schluss, aber wie schon gesagt, ist alles eine Frage der Perspektive. Und vielleicht sollte man David Pountney auch den typisch britischen Humor zugestehen, mit dem er sich dieser herrlichen Komödie Richard Wagners angenommen hat.
Sängerisch und musikalisch darf man den Abend mit kleinen Einschränkungen auch meisterlich nennen. Allen voran James Rutherford als Hans Sachs. Sein markanter und kräftiger Bass-Bariton verleihen dem Charakter Wärme und Ausdruck, aber er kann auch forcieren und den Sachs mit Ecken und Kanten singen. Während er den Fliedermonolog im zweiten Aufzug sehr lyrisch und gefühlsbetont anlegt, gelingt der Wahnmonolog im dritten Aufzug als charismatischer Ausbruch mit einem wunderbarten Ritardando. Und in seiner Schlussansprache brechen alle Emotionen aus ihm heraus, fast schon aggressiv reagiert er auf die Weigerung Stolzings, die Meisterehre anzunehmen. Hervorzuheben ist auch seine beeindruckende Textverständlichkeit. Magnus Vigilius singt die Partie des Walther von Stolzing mit großer Eleganz und einem jugendlichen Heldentenor, der stilistisch sicher ist und trotzdem Strahlkraft in den Höhen versprüht, auch wenn die Stimmführung in den dramatischen Höhen etwas eng wird, leider auch zum Schluss des Preisliedes.
Elisabet Strids Eva ist zwar lyrisch angelegt, mit ausdrucksstarken und ins hochdramatische Fach reichenden Ausbrüchen und reinen und ungebrochenen Spitzentönen. Man merkt, dass Strid mit ihrer Stimme als Sieglinde und Siegfried-Brünnhilde deutlich schon über dem lyrisch bis jugendlich-dramatischen Fach einer Eva liegt. Beim wunderbaren Quintett im dritten Aufzug ragt sie stimmlich deutlich heraus. Die Entdeckung des Abends ist zweifelsohne Matthias Stier in der Rolle des David. Sein schöner lyrischer Tenor besitzt die notwendige Durchschlagskraft und zeigt schon, dass sein Weg Richtung Heldentenor gehen wird, wenn er sorgsam mit seinem Stimmmaterial umgeht. Kathrin Göring ist mit ihrem wagnererprobten, dramatischen Mezzo-Sopran als Magdalene fast schon eine Luxusbesetzung, gestaltet die Partie aber stimmlich eher zurückhaltend.
Alle fünf Stimmen, so unterschiedlich sie in ihrer Ausprägung angelegt sind, mischen sich im großen Quintett „Die selige Morgentraumdeutweise“ im dritten Aufzug zu einem großen Choral, der neben der Schlussansprache des Hans Sachs zum musikalischen Höhepunkt wird. Ralf Lukas gibt den Sixtus Beckmesser mit wohltönendem Bariton von der Seitenbühne, während der erkrankte Mathias Hausmann trotzdem mit couragiertem Spiel und komödiantisch vorgetragener Pedanterie begeistert. Sebastian Pilgrim lässt stimmgewaltig seinen tiefschwarzen Bass als Veit Pogner erklingen und überzeugt auch durch seine Textverständlichkeit. Die Meister, unter denen Tobias Schabel als Fritz Kothner herausragt, singen ihre Partien individuell charakterisierend auf hohem Niveau. Sejong Chan gibt den Nachtwächter mit markantem Bass. Chor und Zusatzchor der Oper Leipzig sind von Thomas Eitler-de Lint hervorragend eingestimmt und gefallen durch große Harmonie und Spielfreude. Der Wach-auf!-Chor im dritten Aufzug sei hier exemplarisch genannt.
Das Gewandhausorchester Leipzig begeistert durch eine beeindruckende Klangmalerei, aus der die Bläser bis auf zwei kleine Ausnahmen dominant sauber hervorstechen. Ist das Vorspiel zum ersten Aufzug kraftvoll und dynamisch, so erklingt das Vorspiel zum dritten Aufzug zart und fast melancholisch. Ulf Schirmer am Pult führt die Orchestermusiker mit klarem Gestus durch die Partie. Er wechselt immer wieder klug die Tempi, fällt aber an einigen Stellen durch eine zu laute Orchesterführung auf, die die Sänger an ihre akustischen Grenzen führt. Die Ouvertüre kommt machtvoll, mit viel Energie und einem wunderbaren Übergang zur ersten Szene. Es ist beeindruckend zu hören, mit welcher Klangästhetik, reich an Schattierungen und Farben, mit welcher Transparenz und dem Gespür fürs Detail trotz fallweiser recht breiter Tempi, dieses Werk vom Gewandhausorchester unter Schirmer interpretiert wird.
Das Leipziger Publikum honoriert die Gesamtleistung mit fast fünfzehnminütigem, großem Beifall und Jubel für alle Beteiligten. Es ist die vorletzte Wagner-Neuproduktion in der Ära Ulf Schirmer. Im März steht dann noch eine Neuinszenierung des „Lohengrin“ in der Regie von Katharina Wagner auf dem Programm, bevor dann ab Ende Juni mit dem Festival Wagner22 alle dreizehn Opern Richard Wagners in einem Zeitraum von drei Wochen gespielt werden, ein in dieser Form sicher einmaliges Projekt, dass dann auch das würdige Ende der Amtszeit von Schirmer markiert.
Besuchte Premiere vom 23. Oktober 2021, Erstveröffentlichung auf https://o-ton.online/ mit freundlicher Genehmigung des Autors
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