Eine Frage der Perspektive

Un­ser Mit­glied An­dre­as H. Höl­scher hat in Leip­zig die Pre­mie­re der „Meistersinger“-Neuinszenierung von Daivd Po­un­teny be­sucht. Hier sei­ne Kritik.

Schus­ter­stu­ben-Quin­tett mit Ja­mes Ru­ther­ford (Sachs), Ma­gnus Vi­gi­li­us (Stolz­ing), Eli­sa­beth Strid (Eva), Kath­rin Gö­ring (Mag­da­le­ne) und Mat­thi­as Stier (Da­vid) – Foto: Kirs­ten Nijhof

Kaum ein an­de­res Werk in der Opern­li­te­ra­tur ist po­li­tisch so be­las­tet wie Wag­ners „Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“ aus dem Jah­re 1868, und kaum ein an­de­res Werk ist so häu­fig als Ziel­schei­be ge­schicht­li­cher Auf­ar­bei­tung durch Re­gis­seu­re be­nutzt wor­den wie eben die­ses Werk, lei­der oft un­ter Ver­ken­nung der ur­sprüng­li­chen his­to­ri­schen und mu­si­ka­li­schen In­ter­pre­ta­ti­on. Die­se wun­der­ba­re mu­si­ka­li­sche Ko­mö­die spielt im mit­tel­al­ter­li­chen Nürn­berg, wo sich der ver­wit­we­te Schus­ter Hans Sachs, der Stadt­schrei­ber Six­tus Beck­mes­ser und der jun­ge ad­li­ge Drauf­gän­ger Walt­her von Stolz­ing sin­gend, dich­tend und auch prü­gelnd um Eva strei­ten. War­um? Weil der Gold­schmied Po­gner sei­ne be­gehr­te Toch­ter als Preis im jähr­li­chen Sän­ger­wett­be­werb aus­ge­schrie­ben hat, um deut­lich zu ma­chen, wie wich­tig ihm die Kunst ist. Und so wer­den „Die Meis­ter­sin­ger von Nürn­berg“ zu ei­nem mu­si­ka­li­schen Meis­ter­werk, das die Fra­ge nach der Be­deu­tung von Kunst – hier der Mu­sik – für un­ser Le­ben und die Ge­sell­schaft stellt.

In Bay­reuth hat Bar­rie Kos­ky mit sei­ner In­sze­nie­rung der „Meis­ter­sin­ger“ von 2017 bis 2021 ei­nen neu­en Maß­stab ge­setzt, an dem sich zu­künf­ti­ge In­sze­nie­run­gen mes­sen las­sen müs­sen. In Leip­zig hat es jetzt Re­gis­seur Da­vid Po­unt­ney mit ei­nem ganz an­de­ren per­spek­ti­vi­schen An­satz ver­sucht, und als Leit­mo­tiv das Wag­ner-Zi­tat „Hier gilt’s der Kunst“ in den Vor­der­grund ge­stellt. Für Po­unt­ney steht vor al­lem die Hu­ma­ni­tät der Fi­gu­ren im Vor­der­grund, und er sieht es als sei­ne ei­gent­li­che Haupt­auf­ga­be, den kom­ple­xen De­tail­lie­rungs­grad der Cha­rak­te­re her­aus­zu­ar­bei­ten, was ihm im Grund­satz auch ge­lingt. In Be­zug auf den his­to­ri­schen Kon­text sieht er den Na­tio­na­lis­mus in die­sem Werk „als ein so­zia­lis­ti­sches Ide­al“. Er habe des­halb ver­sucht, noch eine an­de­re Per­spek­ti­ve zu zei­gen, näm­lich wie wir als heu­ti­ge Men­schen mit der Ge­schich­te um­ge­hen. Er wol­le, „ohne den Zei­ge­fin­ger zu he­ben“, in den „Meis­ter­sin­gern“ ei­nen Kon­text schaf­fen, wor­in man dar­über zu­min­dest nach­den­ken kann. Po­unt­ney ist als Bri­te si­cher frei von al­len Ver­däch­ti­gun­gen, die­ses Werk deutsch­tü­melnd und die jün­ge­re Ge­schich­te igno­rie­rend auf die Büh­ne zu brin­gen. Doch ge­lingt ihm der in­ter­es­san­te und nach­den­kens­wer­te An­satz nur zum Teil, zu sehr ver­mischt er Ge­schich­te und Ge­gen­wart, als dass ihm da­mit ein strin­gen­ter Re­gie­an­satz ge­lun­gen wäre.

Be­vor sich je­doch der Vor­hang he­ben kann, tritt Opern­di­rek­to­rin Fran­zis­ka Se­ve­rin auf die Büh­ne und teilt dem Pu­bli­kum mit, dass Ma­thi­as Haus­mann, der den Six­tus Beck­mes­ser ver­kör­pern soll­te, kurz­fris­tig er­krankt ist und de­fi­ni­tiv nicht sin­gen kön­ne. Für ihn springt der aus Bay­reuth stam­men­de Ralf Lu­kas ein, der die Par­tie von der seit­li­chen Büh­ne aus singt, wäh­rend Haus­mann den Beck­mes­ser auf der Büh­ne mimt. Das ist schon eine her­be Ent­täu­schung, denn vie­le Leip­zi­ger Zu­schau­er ha­ben sich auf das Rol­len­de­büt Haus­manns ge­freut, der mit sei­nem sehr ed­len Ba­ri­ton und sei­ner stimm­li­chen Viel­sei­tig­keit si­cher ei­nen Glanz­punkt ge­setzt hät­te. Aber durch die­se „Not­lö­sung“ kann im­mer­hin die Pre­mie­re ge­ret­tet werden.

Wohl­tu­end zu Be­ginn, dass der Vor­hang im Ge­gen­satz zu den heu­ti­gen Ge­pflo­gen­hei­ten wäh­rend des Vor­spiels zum ers­ten Auf­zug ge­schlos­sen bleibt, so dass man die­se wun­der­ba­re Ou­ver­tü­re, vom Ge­wand­haus­or­ches­ter Leip­zig un­ter der Lei­tung ih­res GMD Ulf Schirm­er in mo­de­ra­tem Tem­po und ei­nem gran­dio­sen Klang­tep­pich dar­ge­bo­ten, ohne Ab­len­kung pur ge­nie­ßen kann, mit ei­nem wun­der­vol­len Über­gang zur Chor­sze­ne in der Ka­tha­ri­nen­kir­che. Das Büh­nen­bild von Les­lie Tra­vers zeigt di­rekt, in wel­che Rich­tung die­se In­sze­nie­rung ge­hen wird. Im Vor­der­grund steht eine Art grie­chi­sches Am­phi­thea­ter, wie Wag­ner es selbst für sei­ne Wer­ke woll­te und wie es zu Be­ginn der Ära Neu­bay­reuth Wie­land Wag­ner für sei­ne In­sze­nie­run­gen ger­ne be­nutzt hat. Ob Po­unt­ney eine di­rek­te As­so­zia­ti­on zu Wie­land Wag­ner her­stel­len woll­te, ist nicht be­kannt. Für ihn ist der Schlüs­sel zum Werk die Fest­wie­sen­sze­ne im drit­ten Auf­zug, wenn das Volk ent­schei­den soll, was Kunst ist und was nicht.

Stolzings An­kunft in Nürn­berg im 1. Akt – Foto: Kirs­ten Nijhof

Für Po­unt­ney geht das auf das an­ti­ke grie­chi­sche Thea­ter zu­rück, „wo sich das Volk in gro­ßen Am­phi­thea­tern ver­sam­melt hat und wo Kunst als ein Wett­be­werb statt­fand, bei dem das Volk das end­gül­ti­ge Ur­teil fällt.“ Das sei der de­mo­kra­ti­sche Ge­dan­ke, der da­hin­ter steht. Laut Po­unt­ney sei Nürn­berg für Wag­ner „ei­gent­lich im grie­chi­schen Sin­ne eine Po­lis und die Fest­wie­se der an­ti­ke Thea­ter­platz“. Von die­sem Aus­gangs­punkt ist auf der Büh­ne des Am­phi­thea­ters ein pit­to­res­kes mit­tel­al­ter­li­ches Nürn­berg im Mi­nia­tur­for­mat auf­ge­baut, das zum Teil im Lau­fe der zwei­ten Sze­ne noch er­gänzt und er­wei­tert wird. Der Chor trägt ge­wöhn­li­che All­tags­klei­dung der heu­ti­gen Zeit, ei­ni­ge Sän­ger fal­len durch wei­ße Over­alls auf. Es sind die Lehr­bu­ben, die, nach­dem sie sich der Over­alls ent­le­digt ha­ben, in mit­tel­al­ter­li­cher bun­ter Tracht auf der Büh­ne ste­hen. Die Kos­tü­me für die­se In­sze­nie­rung ent­warf Ma­rie Jean­ne Lec­ca. Wäh­rend die Meis­ter in pracht­vol­len mit­tel­al­ter­li­chen Ge­wän­dern auf­tre­ten, ist Stolz­ing ganz jetzt­zeit­lich ge­klei­det, wäh­rend Eva ein eher zeit­lo­ses Dirndl trägt und als nai­ves Blond­chen rü­ber­kommt und Mag­da­le­ne die Gou­ver­nan­te mit Er­zie­hungs­auf­trag gibt. Hier gibt es also auch un­ter­schied­li­che zeit­li­che Per­spek­ti­ven, nicht nur die Grö­ßen­re­la­ti­on zu den Miniaturgebäuden.

Beck­mes­ser fällt ganz aus die­sem Sche­ma her­aus, sein schwar­zes Kos­tüm ver­leiht ihm fast et­was me­phis­to­phe­li­sches, zu­min­dest ist er im Ver­gleich zu den be­ein­dru­cken­den Meis­tern eher eine schä­bi­ge Ka­ri­ka­tur. Da­vid hebt sich eben­falls op­tisch von den an­de­ren Lehr­bu­ben ab, er trägt schon eine Art Fest­ge­wand und ragt als Schus­ter­ge­sell hier­ar­chisch deut­lich her­aus. Wäh­rend der Sing­stun­de bau­en die Lehr­bu­ben das Mi­nia­tur-Nürn­berg um, und aus so man­chem Haus wird dann der Stuhl für den Meis­ter. Veit Po­gner, trägt mit dem präch­tigs­ten Ge­wand sei­nen Reich­tum zur Schau und legt ein ähn­lich über­heb­li­ches Ver­hal­ten an den Tag wie Da­land im „Flie­gen­den Hol­län­der“, der für Geld sei­ne Toch­ter ver­scha­chert, auch wenn er es we­sent­lich kunst­vol­ler um­schreibt. Als Stolz­ing nun das ers­te Mal vor­sin­gen darf, sitzt Beck­mes­ser in ei­nem klei­nen Türm­chen, das Ge­sicht von ei­nem Vor­hang be­deckt, und merkt auf ei­ner klei­nen Schul­ta­fel mit Krei­de die ver­meint­li­chen Feh­ler Stolzings an. Zum Schluss des ers­ten Auf­zu­ges, nach dem To­hu­wa­bo­hu des Vor­sin­gens, ist Hans Sachs al­lei­ne auf der Büh­ne, greift sich die voll­ge­krit­zel­te Ta­fel, spuckt drauf und wischt sie sau­ber und löscht da­mit die Notizen.

Sze­ne aus dem 1. Akt mit Ma­gnus Vi­gi­li­us (Stolz­ing) und Mat­thi­as Stier (Da­vid) – Foto: Kirs­ten Nijhof

Der zwei­te Auf­zug setzt büh­nen­tech­nisch noch ei­nen drauf. Zu den Mi­nia­tu­ren sind jetzt auf der lin­ken Büh­nen­sei­te ein über­di­men­sio­na­les Fens­ter, das das Haus Po­gners sym­bo­li­sie­ren soll, und auf der rech­ten Sei­te eine gleich­gro­ße Tür, die den Ein­gang zur Schus­ter­stu­be von Hans Sachs zeigt. Durch die un­ter­schied­li­chen Grö­ßen er­ge­ben sich so­wohl für die Ak­teu­re als auch für die Zu­schau­er im­mer wie­der neue Per­spek­ti­ven auf das Ge­sche­hen. Wäh­rend des Ständ­chens von Beck­mes­ser sitzt Mag­da­le­ne in der Ver­klei­dung Evas auf ei­ner gro­ßen Schau­kel vor dem rie­si­gen Fens­ter, wäh­rend Eva und Stolz­ing auf den Stu­fen des Am­phi­thea­ters sit­zen und die gan­ze Sze­ne­rie wie un­be­tei­lig­te Zu­schau­er ver­fol­gen. Der Nacht­wäch­ter, der oben auf der Tri­bü­ne er­scheint, geht an Krü­cken. Er scheint ein Kriegs­ver­sehr­ter zu sein, der als Nacht­wäch­ter ein kar­ges Da­sein fris­ten darf.

Fast schon ro­man­tisch da­ge­gen das Mi­nia­tur-Nürn­berg, mit er­leuch­te­ten Fens­tern, und aus ei­nem klei­nen Ka­min kommt so­gar Rauch her­aus. Et­was ver­stö­rend dann die Prü­gel­sze­ne zum Schluss des zwei­ten Auf­zu­ges. Die Nürn­ber­ger, die sich da eine hand­fes­te Aus­ein­an­der­set­zung leis­ten, sind alle im Ge­sicht grell-weiß ge­schminkt, und sie tra­gen ent­we­der schwar­ze, wei­ße oder rote Over­alls, die Far­ben der deut­schen Reichs­flag­ge. Ob po­li­tisch so ge­wollt oder Zu­fall, das muss je­der Zu­schau­er für sich al­lein ent­schei­den. Zu den Horn­ru­fen des Nacht­wäch­ters fal­len alle Streit­häh­ne zu Bo­den, und mit ei­ner ein­drucks­vol­len Pro­jek­ti­on hat man die As­so­zia­ti­on, als ob Nürn­berg in Trüm­mern lie­ge. Für die Licht­re­gie zeich­net Fa­bri­ce Ke­bour verantwortlich.

Im drit­ten Auf­zug wird es zu­nächst hei­me­lig. Auf der Büh­ne eine rie­si­ge Schus­ter­stu­be, ganz aus Holz, mit But­zen­fens­ter, auf dem Dach eine noch klei­ne­re Mi­nia­tur­aus­ga­be von Nürn­berg, das jetzt nur noch eine Art Mo­dell ist. Po­unt­ney lässt in sei­ner Per­so­nen­re­gie kei­nen Zwei­fel dar­an, dass Sachs Eva liebt, und auch Eva liebt ih­ren Sachs. Doch die­ses Glück hat kei­ne Zu­kunft, nicht um­sonst hat Wag­ner hier sein Zi­tat aus „Tris­tan und Isol­de“ ein­ge­baut, wenn Hans Sachs singt: „Mein Kind, von Tris­tan und Isol­de kenn ich ein trau­rig Stück. Hans Sachs war klug und woll­te nichts von Herrn Mar­kes Glück.“ Sachs um­armt Ev­chen in­nig­lich, um sie dann in Stolzings Arme zu füh­ren. Das ist viel­leicht der be­rüh­rends­te Mo­ment der Auf­füh­rung, groß­ar­tig gespielt.

Ja­mes Ru­ther­ford (Sachs) und Eli­sa­beth Strid (Eva) – Foto: Kirs­ten Nijhof

Zum Schluss der Fest­wie­sen­sze­ne kommt dann aber der in­sze­na­to­ri­sche Bruch. Die Schus­ter­stu­be wird in die Un­ter­büh­ne her­ab­ge­las­sen, so dass nur noch das klei­ne Nürn­ber­ger Stadt­mo­dell zu se­hen ist. Doch ein rie­si­ger De­ckel kommt von oben und be­deckt das Mo­dell. Man kann es auch sim­pel for­mu­lie­ren, Pout­ney macht über Nürn­berg den De­ckel zu. Üb­rig bleibt jetzt das lee­re Am­phi­thea­ter, in das die Zünf­te in teil­wei­se ei­er­scha­len­far­be­nen An­zü­gen pa­ra­mi­li­tä­risch ein­mar­schie­ren. Die­se Sze­ne ist nun wahr­lich kein gro­ßer Wurf, mehr eine Ver­ball­hor­nung des Wer­kes als se­riö­se Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Stoff. Doch es wird noch bes­ser. Für das Preis­lied wer­den wie­der Holz­tei­le auf die Büh­ne ge­bracht und von den Lehr­bu­ben zu­sam­men­ge­baut. Es ist aber nicht mehr das Mi­nia­tur-Nürn­berg aus dem ers­ten und zwei­ten Auf­zug, son­dern es ist der Ber­li­ner Reichs­tag, der als Holz­mo­dell ent­steht. Wenn man es po­si­tiv in­ter­pre­tie­ren möch­te, dann könn­te man sa­gen, als Wahr­zei­chen von Deutsch­land ist das das Sym­bol, dass die Kunst weit über die Gren­zen der Stadt Nürn­berg das gan­ze Land ver­eint, wenn Hans Sachs in sei­ner Schluss­an­spra­che for­mu­liert: „Drum sag ich Euch: Ehrt Eure deut­schen Meis­ter! Dann bannt Ihr gute Geis­ter; und gebt Ihr ih­rem Wir­ken Gunst, zer­ging in Dunst das heil’ge röm’sche Reich, uns blie­be gleich die heil’ge deut­sche Kunst!“

Viel­leicht ist es aber auch ein frei in­ter­pre­tier­ter Hin­weis an un­se­re Po­li­ti­ker, die Kunst mehr zu ach­ten, die ja wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie qua­si kei­ne Rol­le mehr ge­spielt hat. Als nach der Schluss­an­spra­che von Hans Sachs der mit ei­nem wei­ßen Frack be­klei­de­te Stolz­ing nun doch die Meis­ter­ket­te emp­fängt, wen­det sich Eva un­be­merkt von ihm ab und ver­lässt die Büh­ne. Stolz­ing war für sie der Frei­geist, der Re­vo­luz­zer, der sie aus dem spie­ßi­gen und klein­geis­ti­gen Le­ben in Nürn­berg be­frei­en soll­te, und jetzt ist er am Schluss selbst ein Teil des Es­tab­lish­ments ge­wor­den, ein Meis­ter­sin­ger. Ein sehr poin­tier­ter und ge­wag­ter Schluss, aber wie schon ge­sagt, ist al­les eine Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Und viel­leicht soll­te man Da­vid Po­unt­ney auch den ty­pisch bri­ti­schen Hu­mor zu­ge­ste­hen, mit dem er sich die­ser herr­li­chen Ko­mö­die Ri­chard Wag­ners an­ge­nom­men hat.

Sze­ne mit Ma­gnus Vi­gi­li­us (Stolz­ing), Ja­mes Ru­ther­ford (Sachs), den Meis­tern und dem Volk auf der Fest­wie­se – Foto: Kirs­ten Nijhof

Sän­ge­risch und mu­si­ka­lisch darf man den Abend mit klei­nen Ein­schrän­kun­gen auch meis­ter­lich nen­nen. Al­len vor­an Ja­mes Ru­ther­ford als Hans Sachs. Sein mar­kan­ter und kräf­ti­ger Bass-Ba­ri­ton ver­lei­hen dem Cha­rak­ter Wär­me und Aus­druck, aber er kann auch for­cie­ren und den Sachs mit Ecken und Kan­ten sin­gen. Wäh­rend er den Flie­der­mo­no­log im zwei­ten Auf­zug sehr ly­risch und ge­fühls­be­tont an­legt, ge­lingt der Wahn­mo­no­log im drit­ten Auf­zug als cha­ris­ma­ti­scher Aus­bruch mit ei­nem wun­der­bar­ten Ri­tar­dan­do. Und in sei­ner Schluss­an­spra­che bre­chen alle Emo­tio­nen aus ihm her­aus, fast schon ag­gres­siv re­agiert er auf die Wei­ge­rung Stolzings, die Meis­ter­eh­re an­zu­neh­men. Her­vor­zu­he­ben ist auch sei­ne be­ein­dru­cken­de Text­ver­ständ­lich­keit. Ma­gnus Vi­gi­li­us singt die Par­tie des Walt­her von Stolz­ing mit gro­ßer Ele­ganz und ei­nem ju­gend­li­chen Hel­den­te­nor, der sti­lis­tisch si­cher ist und trotz­dem Strahl­kraft in den Hö­hen ver­sprüht, auch wenn die Stimm­füh­rung in den dra­ma­ti­schen Hö­hen et­was eng wird, lei­der auch zum Schluss des Preisliedes.

Eli­sa­bet Strids Eva ist zwar ly­risch an­ge­legt, mit aus­drucks­star­ken und ins hoch­dra­ma­ti­sche Fach rei­chen­den Aus­brü­chen und rei­nen und un­ge­bro­che­nen Spit­zen­tö­nen. Man merkt, dass Strid mit ih­rer Stim­me als Sieg­lin­de und Sieg­fried-Brünn­hil­de deut­lich schon über dem ly­risch bis ju­gend­lich-dra­ma­ti­schen Fach ei­ner Eva liegt. Beim wun­der­ba­ren Quin­tett im drit­ten Auf­zug ragt sie stimm­lich deut­lich her­aus. Die Ent­de­ckung des Abends ist zwei­fels­oh­ne Mat­thi­as Stier in der Rol­le des Da­vid. Sein schö­ner ly­ri­scher Te­nor be­sitzt die not­wen­di­ge Durch­schlags­kraft und zeigt schon, dass sein Weg Rich­tung Hel­den­te­nor ge­hen wird, wenn er sorg­sam mit sei­nem Stimm­ma­te­ri­al um­geht. Kath­rin Gö­ring ist mit ih­rem wag­ne­r­er­prob­ten, dra­ma­ti­schen Mez­zo-So­pran als Mag­da­le­ne fast schon eine Lu­xus­be­set­zung, ge­stal­tet die Par­tie aber stimm­lich eher zurückhaltend.

Alle fünf Stim­men, so un­ter­schied­lich sie in ih­rer Aus­prä­gung an­ge­legt sind, mi­schen sich im gro­ßen Quin­tett „Die se­li­ge Mor­gen­traum­deut­wei­se“ im drit­ten Auf­zug zu ei­nem gro­ßen Cho­ral, der ne­ben der Schluss­an­spra­che des Hans Sachs zum mu­si­ka­li­schen Hö­he­punkt wird. Ralf Lu­kas gibt den Six­tus Beck­mes­ser mit wohl­tö­nen­dem Ba­ri­ton von der Sei­ten­büh­ne, wäh­rend der er­krank­te Ma­thi­as Haus­mann trotz­dem mit cou­ra­gier­tem Spiel und ko­mö­di­an­tisch vor­ge­tra­ge­ner Pe­dan­te­rie be­geis­tert. Se­bas­ti­an Pil­grim lässt stimm­ge­wal­tig sei­nen tief­schwar­zen Bass als Veit Po­gner er­klin­gen und über­zeugt auch durch sei­ne Text­ver­ständ­lich­keit. Die Meis­ter, un­ter de­nen To­bi­as Scha­bel als Fritz Koth­ner her­aus­ragt, sin­gen ihre Par­tien in­di­vi­du­ell cha­rak­te­ri­sie­rend auf ho­hem Ni­veau. Se­jong Chan gibt den Nacht­wäch­ter mit mar­kan­tem Bass. Chor und Zu­satz­chor der Oper Leip­zig sind von Tho­mas Eit­ler-de Lint her­vor­ra­gend ein­ge­stimmt und ge­fal­len durch gro­ße Har­mo­nie und Spiel­freu­de. Der Wach-auf!-Chor im drit­ten Auf­zug sei hier ex­em­pla­risch genannt.

Das Ge­wand­haus­or­ches­ter Leip­zig be­geis­tert durch eine be­ein­dru­cken­de Klang­ma­le­rei, aus der die Blä­ser bis auf zwei klei­ne Aus­nah­men do­mi­nant sau­ber her­vor­ste­chen. Ist das Vor­spiel zum ers­ten Auf­zug kraft­voll und dy­na­misch, so er­klingt das Vor­spiel zum drit­ten Auf­zug zart und fast me­lan­cho­lisch. Ulf Schirm­er am Pult führt die Or­ches­ter­mu­si­ker mit kla­rem Ges­tus durch die Par­tie. Er wech­selt im­mer wie­der klug die Tem­pi, fällt aber an ei­ni­gen Stel­len durch eine zu lau­te Or­ches­ter­füh­rung auf, die die Sän­ger an ihre akus­ti­schen Gren­zen führt. Die Ou­ver­tü­re kommt macht­voll, mit viel En­er­gie und ei­nem wun­der­ba­ren Über­gang zur ers­ten Sze­ne. Es ist be­ein­dru­ckend zu hö­ren, mit wel­cher Klang­äs­the­tik, reich an Schat­tie­run­gen und Far­ben, mit wel­cher Trans­pa­renz und dem Ge­spür fürs De­tail trotz fall­wei­ser recht brei­ter Tem­pi, die­ses Werk vom Ge­wand­haus­or­ches­ter un­ter Schirm­er in­ter­pre­tiert wird.

Das Leip­zi­ger Pu­bli­kum ho­no­riert die Ge­samt­leis­tung mit fast fünf­zehn­mi­nü­ti­gem, gro­ßem Bei­fall und Ju­bel für alle Be­tei­lig­ten. Es ist die vor­letz­te Wag­ner-Neu­pro­duk­ti­on in der Ära Ulf Schirm­er. Im März steht dann noch eine Neu­in­sze­nie­rung des „Lo­hen­grin“ in der Re­gie von Ka­tha­ri­na Wag­ner auf dem Pro­gramm, be­vor dann ab Ende Juni mit dem Fes­ti­val Wagner22 alle drei­zehn Opern Ri­chard Wag­ners in ei­nem Zeit­raum von drei Wo­chen ge­spielt wer­den, ein in die­ser Form si­cher ein­ma­li­ges Pro­jekt, dass dann auch das wür­di­ge Ende der Amts­zeit von Schirm­er markiert.

Be­such­te Pre­mie­re vom 23. Ok­to­ber 2021, Erst­ver­öf­fent­li­chung auf https://​o​-ton​.on​line/ mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Autors