Adventskalender 1871 (10)

Öd al­les! Für Co­si­ma ist die Ab­we­sen­heit R.’s nur schwer zu er­tra­gen. Sie küm­mert sich um die Kin­der und ver­sinkt an­sons­ten in Küm­mer­nis. Wag­ner ver­sucht, sie in sei­nen Brie­fen aufzuheitern.

Um­schlag ei­nes Briefs von Ri­chard Wag­ner an sei­nen ehe­ma­li­gen Haus­die­ner Franz Mra­zek 1871 – Vor­la­ge: Baye­ri­sche Staatsbibliothek

Sonn­tag 10ten [De­zem­ber 1871] Öder Tag, Sehn­sucht und Schwe­re! – Von R. eine De­pe­sche, daß er wohl­erhal­ten an­ge­kom­men ist und daß er so­gleich mir ei­nen klei­nen Brief[1] ge­schrie­ben. – Brief von Cle­mens[2], ich kann nie­man­dem schrei­ben und las­se Lusch[3] ant­wor­ten. Weih­nachts­ka­ta­log[4] durch­ge­se­hen. Mit den Kin­dern aus­ge­gan­gen. Mit ih­nen ge­le­sen, ge­spielt, ge­speist, al­les, nur mit mir al­lein ge­trau­ert. Das Herz ist mir schwer, schwer, schwer. Ich schrei­be an R., weiß aber nicht, wo der Brief ihn trifft! – Zei­tung aus Flo­renz, daß die Na­tio­nal­gar­de die Lo­hen­grin-Bo­lo­gne­ser Trup­pe[5] am Bahn­hof emp­fan­gen hat.

[1] Nach sei­ner An­kunft in Mün­chen am 9. De­zem­ber schreibt Wag­ner noch ei­nen klei­nen Gruß, um 10 Uhr abends aus dem Ho­tel Baye­ri­scher Hof. Dass er das Stern­bild des gro­ßen Wa­gen dar­in er­wähnt, er­klärt Brief­her­aus­ge­ber An­dre­as Miel­ke wie folgt: „Wag­ner fühl­te sich seit lan­gem vom Stern­bild des gro­ßen Wa­gen an­ge­zo­gen und nahm es in sein selbst­ge­wähl­tes Wap­pen auf.“ Kennt je­mand das Wap­pen? Der Ver­si­on von Pro He­ral­di­ca traue ich ehr­lich ge­sagt nicht über den Weg. Bleibt noch der Franz, der in dem Brief­lein vor­kommt: Das ist na­tür­lich sein ehe­ma­li­ger Kam­mer­die­ner in Pen­zing und Mün­chen Franz Mra­zek (1828–1874), mit dem er we­gen sei­ner An­wei­sun­gen vor Be­su­chen usw. häu­fig und auch 1871 in Brief­kon­takt stand, sie­he Ab­bil­dung oben, sie­he Brief­ver­öf­fent­li­chung hier. Jetzt aber end­lich Wag­ners Kurzliebesbrief:

Lie­be Er­ha­be­ne, Theu­re! Wundervolle! –
Schnell noch ei­nen Gruss vor dem Zu­bett­ge­hen, wie ich Dir ihn durch den Te­le­gra­phen nicht sen­den durfte! –
Ein­zi­ge, Lie­be! Sei gu­ten Mu­thes! Ich lie­be Dich im­mer, im­mer mehr! – Blau­er Him­mel von Bay­ern an. Hel­le Ster­ne! Der „Wa­gen“ von der Rech­ten zu Linken! –
– Con­fu­si­on bei der in­fa­men An­kunft: Franz mich erst um 10 Uhr er­war­tend. Doch im Baye­ri­schen Hof Al­les or­dent­lich be­stellt. Franz im­mer noch nicht da; doch ich gehe zu Bett, weil ich sehr er­schöpft bin und mich um­klei­den will! – Lie­be, Lie­be! Mor­gen schrei­be ich Dir recht viel! – Noch bin ich nur un­ter­wegs, habe sehr viel ge­dacht, und Al­les Schö­ne mit Dir be­spro­chen! – Gute, Gute Nacht! –
Lie­be! Lie­be! Schö­ne! Edle! Dein R.

[2] Cle­mens Brock­haus (1837–1877), Sohn von Wag­ners Schwes­ter Ot­ti­lie und de­ren Mann Her­mann. Der pro­tes­tan­ti­sche Theo­lo­ge und Pri­vat­do­zent hat­te die Wag­ners erst Ende Sep­tem­ber und An­fang Ok­to­ber 1871 in Trib­schen besucht.

[3] Lusch = Da­nie­la von Bülow, Co­si­mas äl­tes­te Tochter.

[4] Wie ein sol­cher Weih­nachts­ka­ta­log aus dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert aus­sieht, wür­de mich bren­nend in­ter­es­sie­ren. Hat je­mand ei­nen übrig?

[5] Das Tea­t­ro Co­mu­na­le aus Bo­lo­gna gas­tier­te mit sei­ner „Lohengrin“-Aufführung auch in Florenz.

Quel­len: Co­si­ma Wag­ner: Die Ta­ge­bü­cher: Band I, S. 1570. Di­gi­ta­le Bi­blio­thek Band 107: Ri­chard Wag­ner: Wer­ke, Schrif­ten und Brie­fe, S. 34731 (vgl. Co­si­ma-Ta­ge­bü­cher 1, S. 467); Ri­chard Wag­ner: Sämt­li­che Brie­fe, Band 23 (hg. v. An­dre­as Mielke).

Nach­trag vom 10.12.2021: Ich hät­te schon ges­tern mit Wag­ners au­then­ti­schem Wap­pen glän­zen kön­nen, wenn ich mei­nen Göt­ter­gat­ten, den ich zu­wei­len für nie­de­re Auf­ga­ben, sprich fürs Kor­rek­tur­le­sen in An­spruch neh­me, ge­fragt hät­te. Denn er wuss­te na­tür­lich, wo er es schon ein­mal ge­se­hen hat­te, näm­lich als klei­ne Dar­stel­lung im  Fak­si­mi­le­an­hang der 1963 im List Ver­lag von Mar­tin Gre­gor Del­lin her­aus­ge­ge­be­nen Aus­ga­be von Wag­ner Au­to­bio­gra­fie (sie­he fol­gen­de Abbildung).

Der Holz­schnei­der Kas­si­an Knaus in Ba­sel schuf das Wap­pen mit ei­nem Gei­er, der ei­nen Schild mit dem Stern­bild des Gro­ßen Wa­gens trägt.

„Mein Le­ben“ ist be­kannt­lich zu­erst als Pri­vat­druck er­schie­nen, in vier Tei­len, von de­nen drei bei Gio­van­ni Bon­fan­ti­ni in Ba­sel und der letz­te bei Th. Bur­ger in Bay­reuth ge­druckt wur­de. Bei den ex­trem we­ni­gen, näm­lich nur fünf­zehn bis ma­xi­mal acht­zehn Ex­em­pla­ren die­ses Pri­vat­drucks wur­de das Wap­pen als Vi­gnet­te je­weils auf der in­ne­ren Ti­tel­sei­te der vier Bän­de erst­mals ab­ge­bil­det (sie­he Ab­bil­dung un­ten). Den ers­ten Band des ex­klu­si­ven Vier­tei­lers konn­te Wag­ner um Weih­nach­ten 1870 an die aus­ge­wähl­ten Adres­sa­ten sen­den: ne­ben Kö­nig Lud­wig II. wa­ren das un­ter an­de­rem Franz Liszt, Grä­fin Ma­rie von Sch­le­i­nitz, Otto We­sen­don­ck, An­ton Pu­si­nel­li und der Zür­cher Freund Ja­kob Sul­zer. Die Erst­ver­öf­fent­li­chung der Au­to­bio­gra­fie er­folg­te, mit klei­nen in­hal­ti­chen Re­tu­schen, im Jahr 1911.

Ver­wen­de­te Quel­len: Ri­chard Wag­ner: Sämt­li­che Brie­fe, Bd. 22, hg. von Mar­tin Dür­rer; Ri­chard Wag­ner: Mein Le­ben, voll­stän­di­ge kom­men­tier­te Aus­ga­be, hg. von Mar­tin Gregor-Dellin.

Nach­trag vom 11.12.2021: Ach, ich nicht nur far­ben­blin­des Huhn! Na­tür­lich gibt es be­sag­tes Wap­pen auch in ei­ner spä­te­ren Ver­si­on, die heu­te noch zu se­hen ist: als far­bi­ges Ober­licht links über dem Haupt­ein­gang von Wahn­fried. Hein­rich Ha­bel zi­tiert in sei­ner Bau­ge­schich­te Carl Fried­rich Gla­sen­app dazu wie folgt: Die bei­den Wap­pen über der Tür sei­en „kei­ne tra­di­tio­nel­len Fa­mi­li­en­wap­pen, son­dern der ei­ge­nen sinn­rei­chen Wahl und Er­fin­dung des Er­bau­ers ent­sprun­gen. Das eine ist das Haus­wap­pen von Trib­schen bei Lu­zern, wel­ches dem Meis­ter im vor­ge­rück­ten Al­ter die ers­te, wahr­haft hei­mi­sche Häus­lich­keit bot (…). Das an­de­re, der Gei­er mit dem Stern­bild des ‚Wa­gens‘, dem Sie­ben­ge­stirn im blau­en Schil­de, als glück­ver­hei­ßen­dem Him­mels­zei­chen, ist zu­gleich der sym­bo­li­sche Aus­druck un­ver­gäng­li­cher Dank­bar­keit Wag­ners für sei­nen Stief­va­ter Gey­er.“ Und in Wolf-Sieg­fried Wag­ners Fa­mi­li­en­bil­der­buch steht: „Die Sie­ben­zahl, das Sie­ben­ge­stirn steht über sei­nem Le­ben, sag­te Ri­chard von sei­ner Fa­mi­lie und er­wähl­te sich das Stern­bild des Gro­ßen Wa­gen, das spä­ter in Wahn­fried als Wap­pen an­ge­bracht wurde.“

Links das Glas­fens­ter mit dem Fa­mi­li­en­wap­pen, das rech­te Trib­sche­ner Wap­pen mit dem Koch­löf­fel ist dem der Be­sit­zer­fa­mi­lie Am Rhyn ent­lehnt. – Vor­la­ge: Chris­ti­an Bühr­le, Mar­kus Kie­sel, Joa­chim Mild­ner: Pracht­ge­mäu­er. Wag­ner-Ort in Zü­rich, Lu­zern, Tribschen.