Adventskalender 1871 (9)

Es ging frü­her auch ohne di­gi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­on: Wenn die Wag­ners ge­trennt wa­ren, schick­ten sie sich mehr­fach am Tag Te­le­gram­me und Brie­fe. Und nicht alle lan­de­ten spä­ter im Wahn­fried-Au­to­da­fé[1].

Dies­mal un­zwei­fel­haft von Wag­ner: Ein chro­ma­ti­scher Mor­gen­gruß für Cosima.

Sonn­abend 9ten [De­zem­ber 1871] Um fünf Uhr R. nach dem Bahn­hof ge­bracht; grim­mi­ge Käl­te; letz­ter Kum­mer. Al­lein heim, zu Bett. In Got­tes Na­men sei al­les er­tra­gen! Um 10 Uhr De­pe­sche R.’s aus Zü­rich, Brief an­kün­di­gend[2]. Mit­tag mit den Kin­dern. An Hans ge­schrie­ben[3], nach­her mei­nen Brief[4] mir ge­holt; er kam und spä­ter noch eine De­pe­sche aus Lin­dau[5]! – R. hat aber kalt ge­habt, sehr kalt, nur ’sein Herz hat ihn ge­wärmt‘. Frau W.[6] schickt Pup­pen. Lol­di[7] dik­tiert ei­nen Brief, ich schrei­be an R.[8] – De­pe­sche Lucca’s[9] aus Flo­renz, daß Lo­hen­grin dort fa­na­ti­siert hat! – Al­les mit den Kin­dern geteilt.

[1] Nein, kei­ne Angst! Das Wahn­fried-Café ist seit 3. De­zem­ber 2021 um­funk­tio­niert zu ei­nem Co­ro­na-Schnell­test­zen­trum mit be­son­ders lan­gen Öff­nungs­zei­ten auch am Sonn­tag. Dort brennt also nichts an. Und die ge­ziel­te Ver­nich­tung von Brie­fen und Do­ku­men­ten, ins­be­son­de­re der Kor­re­spon­denz zwi­schen Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner durch Co­si­ma selbst und/​oder ei­ni­ge ih­rer Töch­ter am sel­ben Ort liegt be­kannt­lich schon sehr lan­ge zurück …

[2] Sie­he Ab­bil­dung. Den klei­nen Mor­gen­gruß no­tier­te Wag­ner ver­mut­lich auf der Fahrt nach Zü­rich und gab ihn dort gleich zur Post, die da­mals, wie man weiß, schnel­ler war als heu­ti­ge. Das Te­le­gramm Nr. 293 ist nicht erhalten.

[3] In die­sem Brief an Hans von Bülow, ih­ren ers­ten Ehe­mann, bit­tet Co­si­ma un­ter an­de­rem um Rat, wie sie mit der ge­mein­sa­men Toch­ter Da­nie­la um­ge­hen soll, die sie ur­sprüng­lich mit nach Mann­heim neh­men woll­te, aber bei ei­ner Lüge er­tappt hat­te. Bülows Ant­wort kam erst am 21. De­zem­ber an, also nach der Mann­heim-Rei­se, die Co­si­ma ohne die Toch­ter un­ter­neh­men sollte.

[4] Der Brief Wag­ners aus Zü­rich, den Co­si­ma sich an der Post­stel­le ab­hol­te, hier aus­zugs­wei­se im kur­si­ven Wortlaut:
Zü­rich!! –
O mein Weib!! –
Es folgt eine No­ten­zei­le mit ei­nem Haupt­mo­tiv aus dem Sieg­fried-Idyll, die dem spä­te­ren „Ewig war ich, ewig bin ich“ Brünn­hil­dens gleicht:

Das hat mei­nen – Trost?? – abgegeben! –
Noch ges­tern wa­ren wir für ei­nen Au­gen­blick über das Cha­os un­ei­nig, ob wir im Cha­os sei­en, oder die­ses da draus­sen lie­ge. Ich kann Dir ganz be­stimmt sa­gen, dass es da draus­sen, al­ler­dings – rings her­um liegt. Aber da in­nen ist fes­te Mas­se, die al­ler­so­li­des­te Form, die vor­stell­bar ist! Als end­lich der Tag an­brach, dach­te ich, nun wür­de es ein bi­schen Licht ge­ben: – es war ein schö­nes Licht!! Wenn es in den Sphä­ren, de­nen Wir an­ge­hö­ren, und de­nen wir – Gott weiss – zu wel­cher Prü­fung? – auf eine Zeit, viel­leicht auf Jahr­hun­der­te ent­rückt wa­ren, und wohl noch sind, – nicht bes­ser aus­sä­he, dann wäre vie­le Mühe ver­ge­bens ge­we­sen. Aber so kann es dort nicht sein, wo­hin wir ge­hö­ren: nein! nein! – Die dum­me Me­lo­die da oben sagt es mir deut­lich. Ge­wiss sind auch uns­re lie­ben Kin­der mit uns in je­ner Sphä­re ge­bo­ren: die Ar­men dür­fen nie von uns ge­trennt wer­den. Was sage ich? Sie sind ja doch nur wir selbst, nur der Schein gie­bt ih­nen Verschiedenheit!
Dann folgt ein klei­ner Fidi-Ruf, also nach Sohn Siegfried:

Wie soll­te ich Dich, Wun­der­ba­re! beim letz­ten Ab­schie­de ver­ste­hen. Du schie­nest völ­lig un­wil­lig ge­gen mich und mei­ner Be­rüh­rung aus­zu­wei­chen? Ich sann nach – da fiel mir ein, was nach uns­rer Um­ar­mung vor­ge­gan­gen war. Ja­cob zeig­te sich so wun­der­lich er­grif­fen, dass er – mir die Hand küss­te, was mich nun so über­rasch­te, dass ich ihm da­für ei­nen leich­ten Kuss auf die Wan­ge gab. Nun lief ich Dir nach, um noch eine letz­te Um­ar­mung von Dir zu ha­ben: die­se wei­ger­test Du mir. Ich grü­bel­te lan­ge, und – half mir end­lich mit der Melodie. – […]
Ich habe lei­der viel ge­fro­ren. Der elen­de Ofen in dem Wag­gon er­wies sich als Trug­bild. Ich weiss nun, wie ich es ma­che wenn ich wei­ter­rei­se. Ver­sor­ge Du, Lie­be, Dich nur mit ei­nem enor­men Fuss­sack für die Rei­se. Mich hat diess­mal wirk­lich nur mein Herz ge­wärmt. – Aber hier in den neu­en „Lo­ka­len“ ist es schön warm: Luft­hei­zung! Sie soll auch uns der­einst wohlthun! – […]
Der Neu­bau des Zü­ri­cher Haupt­bahn­hofs mit sei­nen Sä­len und Re­stau­rants wur­de 1871 fer­tig­ge­stellt. Die dor­ti­ge Luft­hei­zung scheint ihm für sein künf­ti­ges Wohn­haus in Bay­reuth vorzuschweben.
Sei mir ge­seg­net, wie Du mir ge­liebt bist, mein Weib, mein theu­res, herr­li­ches Weib! – Küs­se alle Kin­der von mir, alle – die um mich wein­ten! Sei gü­tig und hoff­nungs­voll auch für das, was Dei­ne Sor­ge am schwär­zes­ten er­füllt: Ei­nes an die­sen ge­ret­tet, so ist Al­les ge­ret­tet: „wer kann lie­ben??“ Das ist die Fra­ge. Und – sieh’, ich hof­fe ge­wiss – Al­les liebt Dich! –
Trös­te Dich, sei ver­trau­ungs­voll, so wir Dir auch die Mil­de nicht mehr als Schwä­che er­schei­nen! […] Leb’ wohl! Tau­send in­ni­ge Küs­se von Dei­nem Richard.

[5] Das Te­le­gramm aus Lin­dau, ver­mut­lich den nächs­ten Brief an­kün­di­gend, ist nicht erhalten.

[6] Ver­mut­lich Mat­hil­de We­sen­don­ck, sie­he Fuß­no­te 1 vom 5.12.1871.

[7] Lol­di = Isol­de, ers­tes Wag­ner­kind von Cosima.

[8] Der Brief ist nicht erhalten.

[9] Wag­ners ita­lie­ni­scher Mu­sik­ver­le­ger Fran­ces­co Luc­ca aus Mai­land, aus na­he­lie­gen­dem Grün­den glück­lich über die Er­fol­ge der „Lohengrin“-Erstaufführungen in Bo­lo­gna und Florenz.

Quel­len: Co­si­ma Wag­ner: Die Ta­ge­bü­cher: Band I, S. 1569. Di­gi­ta­le Bi­blio­thek Band 107: Ri­chard Wag­ner: Wer­ke, Schrif­ten und Brie­fe, S. 34730 (vgl. Co­si­ma-Ta­ge­bü­cher 1, S. 466-467); Ri­chard Wag­ner: Sämt­li­che Brie­fe, Band 23 (hg. v. An­dre­as Mielke).