Jakub Hrůša und die Bamberger Symphoniker mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9 und Valentin Silvestrovs „Gebet für die Ukraine“ beim Sonderkonzert am 12. März 2022. Ein Gastbeitrag von Frank Piontek.
Natürlich sind der Krieg, der Tod und das Leiden allgegenwärtig. Wer ein Konzert mit Valentin Silvestrovs „Gebet für die Ukraine“ beginnt, setzt ein Zeichen, das sich in den Gehirnen der Zuhörer in Bildern und Gedanken festsetzt – schon als Vorspiel zu Gustav Mahlers 9. Symphonie bedarf das von Eduard Resatsch orchestrierte Werk des ukrainischen Komponisten, das er nach den Protesten auf dem Majdan-Platz als Teil eines großen Zyklus schrieb, keiner Rechtfertigung. Denn Mahler komponierte, wie nicht allein Leonard Bernstein bemerkte, im Schlussatz der Neunten die metaphysischen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts – beginnend mit dem fünf Jahre später angefachten Ersten Weltkrieg. Falls Mahler ein „Zeitgenosse der Zukunft“ war, wie das populäre Wort lautet, hätte Bernstein Recht gehabt, der an Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, an die Apokalypse und an Sigmund Freuds Seelenzergliederung erinnerte. So verband sich Mahlers persönliche Krise mit der Krise der Epoche, die offensichtlich immer noch andauert.
Dass die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša just jetzt Mahlers vorletztes Weltabschiedswerk zur Aufführung bringen, mag Zufall sein; ein Gastspiel in Hong Kong musste entfallen, nachdem das Werk bereits vor einigen Wochen in Bamberg gespielt worden war. Doch handelt‘s sich um eine jener sinnreichen Koinzidenzen, für die der Konzertbesucher dankbar sein muss, auch wenn sich mit dem augenblicklichen Anhören der Musik eines vor 111 Jahren gestorbenen Komponisten die Frage verbindet, welche Relevanz ein europäisches Symphoniekonzert in Zeiten eines in Europa stattfindenden Vernichtungskriegs haben kann. Abgesehen davon, dass sie in Hinblick auf die Kunst an sich vermutlich kaum zufriedenstellend beantwortet werden kann, ist ein Schluss doch möglich: Dass Mahler mit seiner Neunten Symphonie die Erinnerung an eine Gegenwart gleich mitkomponiert hat, macht Aufführungen dieser Art zugleich schmerzhaft und bannend. Man schreibt nicht grundlos am Ende das Wort „ersterbend“ in die Noten.
Dass und wie die Bamberger – bleiben wir zunächst beim Technischen – ein vierfaches Piano realisieren können, zeigen sie nicht erst in den letzten Takten der Symphonie (die ersten Geigen spielen pppp, die anderen Streicher immerhin noch ppp), sondern bereits im Gebet. Mit dem äußerst leise einsetzenden Violoncello beginnt eine Parforcetour durch ein schon äußerlich anspruchsvolles Großwerk der symphonischen Literatur, das sich zunächst aus Bruchstücken zusammensetzt: ausgerechnet mit einem Seufzermotiv als innerem Rückhalt. Die Bamberger spielen ihren Mahler quasi ohne „Nebenstimmen“. Wo alles Bedeutung hat, wird Mahlers Forderung nach Distinktion – in der Ausführung müsse jede Note deutlich vernehmbar sein – genau erfüllt. Die deliziösesten dynamischen Abstufungen machen die Entwicklung – und den Zusammenbruch von Phrasen und Episoden so deutlich, dass die Bilder von Krieg und Gewalt (der Tod reitet fahl über ein Schlachtfeld: Man hört das), von auffahrenden Gesten und Zusammenbrüchen, von Erinnerungen und einer Katastrophe, die wir fatalerweise mit den Gegenwartseindrücken assoziieren, auf eigene Weise „logisch“ sind, obwohl Musik niemals „logisch“ zu sein vermag. Bei den Bambergern wirkt und klingt Mahlers Neunte auf tatsächlich ungewöhnliche Weise psychophysisch, weil die Musikerinnen und Musiker genau wissen, was sie da spielen. Um nur zwei von ihnen stellvertretend zu nennen: Die Soloflötistin Daniela Koch und der erste Hornist Christoph Eß repräsentieren ein Orchesterkollektiv, das unter Jakub Hrůša den Ruf befestigen konnte, den es sich unter Jonathan Nott erspielt hat.
Ist der zweite Satz Im Tempo eines gemächlichen Ländlers „logisch“? Ja – weil die Bauernhochzeit chaotischerweise unmerklich in die Sphäre eines schlechthin „Anderen“ mündet, bevor ein totentanzhafter Teufelswalzer den Kehraus ins Mephistophelische treibt. Wenn die Bamberger Symphoniker am Ende der Rondo-Burleske des dritten Satzes noch einmal das Presto-Tempo anziehen, haben wir es erstens mit einem überragenden Orchester und zweitens mit dem Beweis zu tun, dass Mahlers Polyphonie auch unter den härstesten Anforderungen an Tempo und Deutlichkeit realisiert werden kann. Es spricht ja schon für die Intelligenz des Ensembles, dass das verzerrte Lehár-Zitat, demgemäß das Studium der Weiber, wohl auch der Ehefrauen, schwer sei, nicht ausgestellt, sondern der symphonisch-thematischen Gestalt integriert wird.
Vom Trauerkondukt des ersten Satzes zum Adagio ist es nicht weit. Die Bamberger spielen dieses scheinbar in irgendeiner Unendlichkeit mündende „Leb wohl“, das Bruckners letztes Adagio aus dessen letzter vollendeter Symphonie, die eben erst an der Regnitz zu hören war, erinnert – die Bamberger spielen diesen letzten Satz so erregend, dass mit ihm eine Bemerkung bestätigt wird, die Alban Berg über den ersten Satz schrieb: dieser sei „der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt“. Schon im 3. Satz klingt das wichtigste Motiv des Finalsatzes an. Er endlich bringt die „Erlösung“ vom Chaos, doch um den Preis des ewigen Schlafs: Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend. Stärkste Expression trifft auf Passagen mit der Vortragsbezeichnung Ohne Ausdruck. Der Rest des Variationssatzes ist Wehmut, auskomponiert in einer zerbröckelnden Musik. In Bamberg denkt der Hörer, der seinen Wagner ein wenig kennt, daran, dass Richard Wagner 1871 für die im 1870/71er-Krieg Gefallenen eine Trauermusik komponieren wollte. Mahler hat diese Musik für ihn, nachher und noch für uns, geschrieben. Die Bamberger Symphoniker spielen sie an diesem Mittag auf eine Weise, die auch ohne den momentanen Krieg des russischen Diktators gegen die Ukraine eindringlich wäre – die Zeitumstände machen es, dass Mahler heute, für uns Mitteleuropäer, noch wesentlich tiefgreifender klingt als intendiert. Die Zeitumstände – und das exzellente, technisch vollkommene und inhaltlich reflektierende Orchester unter seinem Chefdirigenten, der über 90 Minuten die Spannung zu halten weiß.
Frank Piontek
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