Mit „Siegfried“ hatte am 3. August der vorletzte Teil der „Ring“-Neuinszenierung von Valentin Schwarz im Festspielhaus Premiere. Die Buhrufer übten schon mal für ihr letztes Gefecht.
Mime ist in meiner „Rheingold“-Kritik etwas untergegangen, obwohl er eine meiner wagner’schen Lieblingsfiguren ist. Umso größer sein Gewicht in „Siegfried“. Hier zeigt sich eindrücklich, dass dieser Nibelunge, anders als sein Bruder, Kinder einfach auch mag. Der bange Gedanke, dass in Alberichs Hort sexueller Kindesmissbrauch im Spiel sein könnte, hat sich mir nicht bestätigt. Zwar instrumentalisiert Alberich seinen kurzzeitigen Ziehsohn Hagen im „Rheingold“ gezielt für seine Rache- und Machtspiele, indem er den offenbar hochbegabten, nicht nur den Zauberwürfel virtuos beherrschenden, womöglich autistischen Jungen auf Gewalt trimmt. Und auch Mime missbraucht jetzt Siegfried für seine Pläne. Aber die Schwarzalben in dieser Macho-Welt sind wenigstens keine Päderasten.
Mime ist ein Möchtergern-Magier mit Sternenmantel und Zauberhut, der Ziehsohn Siegfried und etlichen selbst gebastelten Puppen in seiner versifften Bude immer wieder etwas bieten möchte. Zum anstehenden Kindergeburtstag hat sogar ein Treppenhausfenster zum Kasperltheater umfunktioniert. Der 1. Akt spielt übrigens in Hundings Hütte, über die natürlich die Zeitläufte gegangen sind. Der entwurzelte Baumriese und die Familienfotos unter dem Sicherungskasten sind verschwunden, es gibt einen Treppenlift und eine weitere Treppe, ein kleines Aquarium, eine Mikrowelle. Und die Schießscheiben im früheren Bügelzimmer sind garantiert nicht nur Deko.
Die Räumlichkeiten (Bühne: Andrea Cozzi) haben in dieser Tetralogie eine eigene Geschichte. Sie ziehen sich weiter, verändern sich von der Perspektive her und im Zeitrahmen, wandeln – wie so manches Requisit – ihre Bedeutung. Sobald Siegfried auftritt, wird der Abend eher ungemütlich. Es liegt Gewalt in der Luft, und zwar nicht wenig.
Der langhaarige und wie sein „Göttervater“ trinkfreudige Junge mit Survival-Weste ist kein Feinmotoriker. Doch selbst er hat eine fürsorgliche, fast liebende Seite, wenn er Mimes Morgenwäsche im Wortsinn durchzieht und mit seiner Mutter-Puppe ein Tänzchen wagt. Beim Schwert-Schmieden entdeckt das pubertäre Kraftpaket seine Sexualität, Mime springt ihm mit seiner Onaniervorlage bei.
Kein Wald, keine Drachenhöhle! Stattdessen spielt der 2. Akt wiederum in Walhall, aus dem der Wotan-Clan längst ausgezogen ist. Eingezogen in das aus einem anderen Winkel gezeigten Atrium ist der vormalige Bauriese Fafner, inzwischen ein sehr reicher, aber sterbenskranker alter Mann, der fast so viel Personal und Security um sich hat wie vormals die Lichtalben.
Alberich und Wotan machen mit Blumen ihren Besuch am Krankenbett, wo folgerichtig auch der groß gewordene Hagen (Branko Buchberger) in seinem gelben T-Shirt sitzt und nicht verhindern kann, dass Fafner sich gern an seiner jungen Altenpflegerin, dem Waldvogel, vergreift. Verständlich, dass die junge Frau dann lieber dem stürmischen Siegfried ein bisschen Benimm nach #MeToo beibringt.
Den sichtlich hinfälligen Fafner zu besiegen, bedarf es nicht viel. Er stirbt einen Herztod, alle schauen zu, keiner hilft. Mime, der zappelige Zausel, stirbt zweifach. Erst wird er von Siegfried mit dem Krückstockdegen à la James Bond abgestochen, dann noch mit dem Sofakissen erstickt – fast schon brüderlich begleitet von Hagen, der Fafners Schlagring, eine Swarovski-Version des Leipziger Rings von Joachim Herz, an sich genommen hat.
Was um Himmels Willen ist das für eine Welt? Offensichtlich eine grausame, kalte, schreckliche, in der sich Gewalt potenziert, im Hier und Jetzt. Die inzwischen erblindete Erda, begleitet von dem groß gewordenen Mädchen, das also nicht Brünnhilde ist, macht zu Beginn des 3. Akts dem zum Wanderer mutierten Wotan sein Scheitern klar. Spontan greift er in Selbstmordabsicht zum Revolver, drückt aber nicht ab. Die nächste, letzte Erniedrigung zumindest dieses großen alten weißen Mannes folgt auf dem Fuß.
Dass Brünnhilde – ihren Pyramiden-Felsen sieht man links in die Bühne hereinragen – wie die Walküren ein Lifting hinter sich haben muss, liegt bei den Generationensprüngen nahe. Hier ist sie zugleich Siegfrieds Stiefschwester und Tante, erscheint aber gleichaltrig, wenn sie aus ihrem Verband geschält ist.
Grane (Igor Schwab) hingegen, Brünnhildes empathischer Begleiter auch in einer köstlichen Erinnerungsszene an ihre Walkürenzeit, ist bereits ergraut. Ihr Kleid (Kostüme: Andy Besuch) ist eine Verbeugung vor dem Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ und Jacques Schmidts Albatros-Gewand für Gwyneth Jones. Das Publikum ist froh, sich endlich in etwas Schönes retten zu können.
Die dem Erwachen folgende Liebesszene, erst giftig grün beleuchtet, dann in Abenddämmerung-Bellini-Rosé (Licht: Reinhard Traub), ist szenisch und musikalisch beglückend zart, auch wenn Andreas Schagers kraftprotzender, ja zu potenter Jung-Siegfried an diesem Abend nur Lautstärke kann. Schade, dass er auch Daniela Köhlers aufblühende Brünnhilde niederbrüllt.
Arnold Bezuyens Mime ist als Figur glaubhaft, sängerisch aber nur noch die Karikatur eines Charaktertenors, Olafur Sigurdarsons Alberich hingegen erweist sich als Zugewinn im Festspielensemble. Tomasz Koniecznys Wanderer wirkte nach dem Bühnenunfall in der „Walküre“ leicht beeinträchtigt, was dessen Leistung als Wotan nachträglich aufwertet.
Okka von der Damerau ist auch als „Siegfried“-Erda eine Wucht, solide Wilhelm Schwinghammers Fafner und der Waldvogel von Alexandra Steiner. Dirigent Cornelius Meister schwamm diesmal mehr zwischen manieristischen Tempi und Eigenheiten sowie Koordinationsproblemen mit der Bühne, das Orchester folgte ihm entsprechend. Eine Neuinterpretation war und ist nach der sehr kurzfristigen Umbesetzung am Pult allerdings nicht zu erwarten.
Die Buhrufer nutzten die Zeitspanne zwischen dem Schließen des Vorhangs und dem ersten Öffnen diesmal schon beängstigend intensiv, bejubelten aber mehrheitlich die Solisten. Am Freitag, nach der „Götterdämmerung“, dürfte das ehrwürdige Festspielhaus zu Bayreuth mal wieder wackeln, wenn die Gegner der Neuinszenierung ihre Ablehnung endlich direkt an Regisseur Valentin Schwarz adressieren können.
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