Die „Siegfried“-Premiere des Landestheaters Niederbayern in Landshut, für die unser Mitglied Karlheinz Beer das Bühnenbild geschaffen hat, stand unter keinem guten Stern.
Dass Premierenvorstellungen abgebrochen werden müssen, passiert wirklich nur alle heiligen Zeiten. Im Theaterzelt in Landshut, wo das Landestheater Niederbayern in einer „Übergangslösung“ seit sage und schreibe acht (!) Jahren spielt, gab es am 6. November gewissermaßen einen Abbruch mit Zugabe. Die niederbayerische Erstaufführung von Richard Wagners „Siegfried“ stand auf dem Programm – und ausgerechnet der Titelheld schwächelte.
Der Tenor Michael Heim hatte sich schon während der Endproben im Zelt eine Erkältung geholt. Bei der Generalprobe am Freitag trat er überhaupt nicht an, um offenbar für sein Rollendebüt in der Premiere am Sonntag wieder fit sein zu können. Die Regieassistentin spielte seinen Part, den Gesang übernahm in einer bewundernswerten Rettungsaktion der Dirigent der „Ring“-Produktion, Basil H. E. Coleman. Vor der ersten Vorstellung infomierte Intendant Stefan Tilch das Publikum darüber, dass der Siegfried-Solist erkältet war und sei, aber dennoch die Premiere singen werde.
Den 1. Akt schaffte Heim sängerisch in der Tat mehr als beachtlich (wobei die Tatsache hilfreich war, dass die Solisten im Zelt in meinen Ohren unnötigerweise mikrofoniert sind, was je nach Platz sehr unterschiedliche Hörerlebnisse zur Folge hat; auf der Mittel-Tribüne hinten und den angrenzenden Plätzen links und rechts hört man jedenfalls sehr gut). Das war durchaus ein stimmlich kraftvoller Jung-Siegfried, dem mit Jeff Martin ein ebenso kraftvoller und darstellerisch überlegener Mime gegenüber stand.
In der 2. Szene des 2. Akts war plötzlich die Indisposition des Siegfried-Solisten unüberhörbar da. Nachdem der noch unsichtbare Drache Fafner ein paar Takte hatte singen können, war es beim potenziellen Drachentöter stimmlich vorbei. Nach ein paar Seitenblicken teilte der Tenor selbst mit, dass es ihm leid tue, er aber nicht mehr weiter singen könne. Der Vorhang ging zu, nach kurzer Pause infomierte der Intendant, dass die Vorstellung beendet sei, das Publikum den Eintritt zurückbekomme oder seine Karten gegen eine weitere Vorstellung eintauschen könne. Gleichzeitig bot er für diejenigen, die noch bleiben wollten – nicht wenige hatten bei der Theatergastronomie ja für die zwei Pausen vorbestellt und bezahlt –, ein „Best-of“ aus dem 3. Akt an.
Tatsächlich blieben viele. Und wurden belohnt mit einem ganz außergewöhnlichen Wagner-Erlebnis. Nach dem musikalisch und szenisch beeindruckenden Auftritt von Erda und Wanderer mit Tiina Penttinen, Stephan Bootz und den an der überlangen Erda-Robe nestelnden Nornen kam zur nächsten Szene tatsächlich wieder Michael Heim als Siegfried auf die Bühne. Diesmal fast stumm, denn er flüsterte seinen Text nur, dafür war er aber darstellerisch deutlich besser – vielleicht ist Multitasking nicht unbedingt sein Ding. Wie auch immer: Für Peggy Steiner, die im niederbayerischen „Ring“ schon als Sieglinde beeindruckt hatte und jetzt nur eine sehr kleine Kostprobe ihrer ersten und vielversprechenden Brünnhilde geben konnte, war der leider nur stumme Partner auf der Bühne unverzichtbar (der übrigens im realen Leben ihr Ehemann ist). Ein kurzes Finale, das sicher nicht nur mir offenbarte, wie wichtig jede einzelne Gesangsnote bei Wagner ist. Wenn wie hier im Gesamtgewebe eine Stimme ersatzlos fehlt – nein, der seit der Generalprobe heldenhaft gestählte Dirigent sang diesmal notwendigerweise nur an einer einzigen Stelle, um gewissermaßen den Übergang zwischen der zweiten und der stark gekürzten dritten Szene musikalisch abzufedern, was auch gelang –, tun sich Lücken auf, die man so krass nicht vermutet hätte. Ich jedenfalls bin dankbar für diese Erfahrung, bin auch dankbar, gehört zu haben, mit wieviel Einfühlung Basil Coleman, der keine Tenorstimme hat, die „Selige Öde auf wonniger Höh“ gesungen hat. Und das empathische Publikum hat bei diesem außergewöhnlichen „Best-of“ zumindest besser verstanden, dass und wie vulnerabel Sängerstimmen sind.
Bleibt natürlich kritisch anzumerken, dass das Theater offenbar keinen Plan B hatte, obwohl die Erkrankung des Heldentenors ja nicht urplötzlich auftrat. Die Zeit, einen Ersatz zu suchen, war vorhanden. Natürlich ist das Engagement von Doubles für ein kleines Haus grundsätzlich eine finanzielle Frage, vielleicht wurde auf die Schnelle auch gar kein Einspringer gefunden – Heldentenöre, die gern mal eben einen ungeprobten Siegfried singen würden, sind nunmal unabhängig von der Honorarfrage höchst rar. Dennoch verwundert, dass Intendant Stefan Tilch sich beim Ernstfall unvorbereitet zeigte und erst beratschlagen musste. Das Publikum jedenfalls nahm’s überwiegend gelassen und freundlich.
Hier noch Links zu einem Bericht der Passauer Neuen Presse (PNP) sowie zu den Kritiken von Markus Thiel im Münchner Merkur, von Peter Jungblut vom Bayerischen Rundfunk (der zu den wenigen Besuchern gehörte, die gleich nach dem 1. Akt gegangen sind) und der weniger freundlichen und reichlich oberlehrerhaften von Raimund Meisenberger in der PNP (nur für registrierte Nutzer und Abonnenten zugänglich). Wie es weitergeht, ist offen. Die für 15. November geplante einzige „Siegfried“-Vorstellung in Straubing ist schon mal ins nächste Jahr auf 17. Januar verschoben, der nächste Termin in Landshut wäre am 27. November. Man darf gespannt sein.
Besuchte Premiere in Landshut am 6. November 2022; weitere geplante Aufführungen vermutlich zeitnah in Landshut, im Januar 2023 in Straubing und im Mai 2023 in Passau.
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