Der viel gespielte und preisgekrönte Dramatiker Tankred Dorst, der als Regisseur unter anderem mit seiner Inszenierung der Ring-Tetralogie von 2006 bis 2010 bei den Bayreuther Festspielen als seiner ersten und einzigen Operninszenierung für Schlagzeilen sorgte, ist am 1. Juni 2017 im Alter von 91 Jahren in Berlin gestorben. Hier der Link zum Nachruf von Ernst August Klötzke, Komponist und Musikologe, der in Bamberg an der Veranstaltung zum 90. Geburtstag Dorsts im E.T.A.-Hoffmann-Theater mitwirkte.
Tankred Dorst stammte aus einer Fabrikantenfamilie in Oberlind (heute ein Ortsteil von Sonneberg), erlebte seine ersten Theater- und Opernabende in Coburg, studierte zeitweise in Bamberg und blieb der Stadt durch seine aus Bamberg stammende Frau Ursula Ehler auch später verbunden. Im Folgenden sei an diesen wunderbaren und großzügigen Künstler und Menschenfreund erinnert durch ein Interview, das aus Anlass seines 80. Geburtstags am 19. Dezember 2005 im Fränkischen Tag erschienen ist.
Erinnern Sie sich an einen Ihrer Kindergeburtstage?
Tankred Dorst: Nein. Geburtstag wurde bei uns nicht so gefeiert, dass das ein besonderes Erlebnis war. Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück in den Sommer, in unseren Garten in Oberlind – und später zum Fluss Steinach hinter unserer Fabrik. Wir bauten ein Floß, setzten uns mit Bürschli, dem Dackel, drauf und haben uns vorgestellt, wie wir von der Steinach in die Itz, in den Main und den Rhein fahren, schließlich in die Niederlande kommen und von dort weiter nach Indien – auf nur drei aneinander gebundenen Balken.
Was ist Alter für Sie?
Eine subjektive Sache. Früher habe ich mich nicht jung gefühlt. Mit 23 Jahren zum Beispiel fand ich mich richtig erwachsen. Und bin mit den fortschreitenden Jahren eigentlich immer jünger geworden. Es gibt eine Szene in Merlin, in der zwei Junge sich über Alte lustig machen. Und plötzlich ist der eine selber neunzig Jahre alt, bewegt sich völlig anders, redet anders, hat ein langes Leben hinter sich und fragt sich, wo die Zeit geblieben ist. Es bleibt geheimnisvoll. Was ist Zeit? Was ist vergehende Zeit? Zeit, die sich langsam, fast unmerklich dreht, dieses Thema hat mich schon lange interessiert.
Wie sind Ihre 80 Jahre vergangen?
Das frage ich mich manchmal selber. Und denke, das kann ich doch gar nicht gewesen sein – damals, als ich mit fünfzehn in Coburg ins Theater ging und den ersten Tasso erlebte. Mit fünfzehn lebt man in einem Stück, in dem Buch, das man gerade liest. Es geht durch die Haut, in die Haut rein: Es wird ein Teil von einem, ist wie das Leben selber. Später nimmt man die Dinge in ganz anderer Weise auf und reflektiert alles. Als Gymnasiast habe ich angefangen zu schreiben, weil ich Abenteuer erleben wollte und merkte, ich kann ja das, was ich erleben möchte, selber schreiben.
Was ist schön am Alter?
Mit gewissem Vergnügen sage ich, dass mir auffällt, wie Menschen sich verändern. Wenn man jemanden lange kennt, merkt man, dass er zu dem einen oder anderen Thema früher ganz anders dachte als heute. Wenn man jung ist, glaubt man, es gibt junge und alte Leute und kann sich nicht vorstellen, dass es ein und dieselbe Person ist, die sich langsam verändert. Man denkt, es ist eine andere Menschenart. Erst mit zunehmendem Alter ist mir das bewusst geworden. Es macht mir Vergnügen zu sehen, wie Menschen sind.
Haben Sie Kinder?
Meine Frau hat einen Sohn mitgebracht, der damals vier Jahre alt war.
Und Ihre Stücke? Sind das nicht auch Ihre Kinder?
Ich hoffe natürlich, dass sie gut behandelt werden, indem man sie spielt – und indem man sie so spielt, dass ihr Geist sichtbar wird. Ich bin jetzt mit dem Ring sozusagen auf der anderen Seite und sehe, dass man ein Stück dem Regisseur und seiner Fantasie überlassen muss. Voraussetzung ist, dass der Regisseur das Stück genau kennt und als aufmerksamer Leser seine besonderen Qualitäten entdeckt. Dann kann er sich verhalten, wie er will. Er hat die Freiheit. Und es hat keinen Zweck, sich darüber zu streiten.
Was liegt Ihnen am Herzen?
Am Herzen liegt mir am meisten das, was ich gerade mache. Im Moment sind das Wotan und Brünnhilde. Und am Herzen liegen mir die Stücke, die ich noch nicht geschrieben habe – Entwürfe, Stoffe, Fragmente von einer Geschichte. Es geht immer darum, Geschichten zu erzählen, das beschäftigt mich am meisten.
Was ist Zeit für Sie?
Ich weiß nicht. Sie geht durch uns durch. Dass sich etwas ändert, das wäre ein Thema. Eines der noch nicht geschriebenen Stücke heißt Das Blau an der Wand. Es hat auch zu tun mit dem Haus, das meine Frau in Bamberg geerbt hat und das unter Denkmalschutz steht. Im Stück geht es darum, dass das Freilegen der blauen Farbe unter den Tapetenschichten zugleich ihre Zerstörung bedeuten würde. Das Blau ist immer da, aber man darf es nicht sehen – bis zum Weltuntergang, wenn die Atombombe fällt.
Sehen Sie den Untergang konkret so?
Es gibt inzwischen mehrere Möglichkeiten, den kleinen blauen Planeten in die Luft zu sprengen, gibt Entwicklungen in der Medizin, dass man austauschbare Organe wie aus dem Wandschrank holt, und genauso kann man bald auch Ideologien hineinpflanzen. Die große Umerziehung, bisher stets verbunden mit Massenmorden, geht dann vielleicht auch mit zwei Tabletten. Am Horizont erscheint, dass man Menschen klonen, so herstellen kann, dass sie den gesellschaftlichen Zwecken genügen. Gewünscht sind nur die, die wie alle sind, denn damit kann man am leichtesten umgehen. »Wer lebt, stört«, heißt es in Herr Paul. Unsere Welt wird schon jetzt immer mehr von Statistiken bestimmt, von Befragungen, Umfragen, nach Kategorien der Werbung und der Politik. Alles ist gegen das Individuelle gerichtet. Für das Eigene ist das eine Fehlentwicklung.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein. Ich habe Millionen Jahre vor meiner Geburt auch nicht existiert. Das kann gar nicht so schlimm sein. Für mich geht es eher um die Frage, wie lange die Neugierde anhält im Leben, wenn man seine Fühler noch ausstrecken möchte, wenn man begierig ist zu sehen, wie es weiter geht. Ich habe noch eine ganze Menge im Kopf. Und durch den Ring mussten einige Stücke erst mal liegen bleiben.
Wie schreiben Sie? Womit fangen Sie an?
Ich habe nie eine Vorstellung, wie ein Stück sein muss, denke immer, es wird sich finden. Ich gehe von den Personen und der Geschichte aus, will erzählen, wie es vielleicht noch nicht erzählt worden ist: das Neue und andere zu machen, nicht das, was es schon gibt oder was gerade opportun ist oder was vollkommen ist. Nicht wenn etwas makellos ist, an Fehlern entzündet sich die Fantasie!
Was ist Ihr größter Fehler?
Eigentlich bin ich faul. Ich möchte da sitzen und nichts tun. Für jemanden, der faul ist, sind das aber vielleicht doch zu viele Stücke, die ich geschrieben habe. Ich muss es eben immer noch meiner Mutter recht machen. Das ist ein lebenslanger Stachel, ihr »Du sollst deinen Doktor machen«. Und man sieht, es braucht dazu nicht die physische Anwesenheit, denn meine Mutter ist schon lange tot. Man folgt Anweisungen aus einer ganz anderen Zeit. Ich bin puritanisch erzogen und kann vielleicht deshalb nichts liegen lassen. Wenn es schwierig wird, darf ich nicht aufgeben.
Wie halten Sie sich geistig fit?
Ich habe im Moment nicht das Gefühl, dass die Lebensgeister schwächer sind als vor zwanzig oder vor fünfzig Jahren. Ich sehe mich selber in einer Kontinuität, die mit dem Schreiben zu tun hat, mit der Beschäftigung mit Menschen im Leben und in den Stücken. Und vielleicht liegt es auch an Ursula.
Kann man sich Ihre Künstlerehe so vorstellen wie bei Richard und Cosima Wagner?
Natürlich nicht. Wir sind weit davon entfernt. Gegenseitige Anbetung ist für mich kein wünschenswerter Zustand. Wir sind ein Gespräch. Wir fangen morgens an zu reden und murmeln noch im Schlaf miteinander. Ich hoffe, dass das einfach so weiter geht.
Interview und Fotos: Monika Beer
Hier noch Links zu den ebenfalls im Fränkischen Tag erschienenen Kritiken der Wiederaufnahmepremieren aus dem letzten Aufführungsjahr der Ring-Inszenierung von Tankred Dorst und Ursula Ehler 2010:
Das Rheingold
Die Walküre
Siegfried
Götterdämmerung
Das in der letzten Kritik erwähnte Buch Die Fußspur der Götter ist ebenso wie das gleichnamige, von Tankred Dorst, Wagner-Urenkelin Daphne Wagner und Hanns Zischler eingesprochene Hörbuch über den Shop der Süddeutschen Zeitung noch direkt lieferbar. Lesenswert sind auch der Geburtstagsartikel von Andreas Rossmann in der F.A.Z. und der Nachruf von Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland.
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