Lotte Lehmann war keine technisch perfekte Sängerin, wusste aber Musik ungemein intensiv, lebendig und plastisch zu gestalten. Sie starb am 26. August 1976 hochgeehrt in Santa Barbara.
„Wer will schon die Biographie einer Sängerin lesen? Sogar ihre Platten, auch die besten, geben nur einen unvollkommenen Eindruck ihrer Persönlichkeit. Aber wer das Glück hatte, einmal die Lehmann zu erleben (was mehr ist, als sie zu hören und zu sehen), der denkt daran sein ganzes Leben.“ Was der deutsch-amerikanische Essayist Joseph Wechsberg über Lotte Lehmann schrieb, ist nur eine der zahlreichen Hymnen von namhaften Zeitgenossen an die legendäre Sopranistin. Als sie am 26. August 1976 in ihrer kalifornischen Wahlheimat in Santa Barbara starb, stellte Plattenproduzent Walter Legge fest, dass sie für die Geschichte des Singens ebenso bedeutend sei wie María Malibran und Adelina Patti. Experte Jürgen Kesting betitelt sie in seinem Standardwerk Die großen Sänger denn auch als ein Opernwunder. Und das, obwohl ihre Technik keineswegs perfekt gewesen sei. Aber: „Lehmann sang nicht Töne, sondern Gebärden, nicht Phrasen, sondern Empfindungen – mit einer Intensität und Eloquenz, die sie unter den zentralen Sängerinnen zu einer Ausnahmeerscheinung macht.“
Lotte Lehmann stammt aus Perleberg, einer Kleinstadt in Brandenburg, die heute eher bekannt ist, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer frühen Kindheit auch dort war. Lehmanns Weg zur Bühne war gepflastert mit monetären Problemen und schwierigen Lehrern, bis sie in Berlin auf Mathilde Mallinger traf, die Eva der Meistersinger-Uraufführung. Im Herbst 1910 debütierte sie in Hamburg als zweiter Knabe in der Zauberflöte, nach kleinen und mittleren Partien gelang ihr der Durchbruch in der Saison 1912/13 als Lohengrin-Elsa unter Otto Klemperer. 1914 folgte ihr Debüt an der Wiener Staatsoper, wo sie sich erneut gegen manche Konkurrentin durchsetzen musste. An der Seite des einzigartigen Baron Ochs von Richard Mayr war sie erst Octavian und später die berühmteste Marschallin ihrer Zeit.
1927, zum 100. Todestag von Beethoven, sang sie ihre erste Fidelio-Leonore, die sie anschließend für ein Jahrzehnt auch in Salzburg gab, wo Arturo Toscanini sogar erlaubte, die Arie von E nach Es zu transponieren. „Sie hielt“, so Walter Legge, „eine unglaubliche Spannung durch, vom ersten gesprochenen Wort bis zu den letzten Akkorden der Oper. Dass fünf grausame Takte in der Arie von einigen anderen exakter vokalisiert worden sind, ist nebensächlich. Lehmann war Leonore.“
Franz Schalk, Bruno Walter und Clemens Krauss: Sie alle schätzten sie nicht nur als Fidelio, als souveräne Strauss-Interpretin und in den eher lyrischen Wagner-Rollen, sondern wollten neben Sieglinde auch Isolde von ihr – eine Partie, die sie zwar einstudierte und geradezu verzweifelt liebte, sich aber nach entsprechenden Ratschlägen ihrer Wagner-Partner Lauritz Melchior und Leo Slezak versagte. Lotte Lehmann war international auf dem Gipfel ihrer Kunst, als Generalintendant Heinz Tietjen und Reichsminister Hermann Göring sie exklusiv nach Berlin holen wollten. Sie, die mit einem jüdischen Bankier liiert war, sich eher in Wien zuhause fühlte und weiterhin frei sein wollte für Engagements weltweit, sagte Nein.
Nach dem Anschluss Österreichs emigrierte sie mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten. In Chicago hatte sie bereits 1930 debütiert, an der Met trat sie 1934 im Alter von 46 Jahren erstmals als Sieglinde auf. Elf Jahre später verabschiedete sie sich dort als Marschallin unter George Szell. 1945 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin, sechs Jahre darauf verabschiedete sie sich selbstkritisch auch als Lied-Sängerin: „Alle Leute sagen: Sie könnten immer weiter singen, es ist nicht die Stimme, es ist Ihre Interpretation. Doch meine Stimme ist das Instrument, auf dem ich spiele, und dieses Instrument klingt mir fade geworden, fade und langweilig.“
Schon 1937 hatte sie mit Orplid mein Land ihren ersten Roman herausgegeben, jetzt schrieb sie weitere Bücher, gab an der Musikakademie in Santa Barbara Meisterklassen und unterrichtete spätere Opernstars wie Eleanor Steber und Grace Bumbry. Nach ihrem Tod fand die zu Lebzeiten und auch posthum hoch geehrte Künstlerin ihre letzte Ruhestätte wunschgemäß in Wien, wo sie ihre wohl glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hat. Auf ihrem Ehrengrab im Wiener Zentralfriedhof steht eingemeißelt ein Zitat von Richard Strauss: „Sie hat gesungen, dass es Sterne rührte.“
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