Wo das Grauen der Shoah aufscheint

Ki­rill Pe­tren­ko, das Staats­or­ches­ter und groß­ar­ti­ge So­lis­ten bril­lie­ren zur Er­öff­nung der Münch­ner Opern­fest­spie­le in ei­ner „Salome“-Inszenierung, die das Pu­bli­kum rat­los macht und spal­tet. Für das Re­gie­team gab es bei der Pre­mie­re am Don­ners­tag im Na­tio­nal­thea­ter hef­ti­ge Buhrufe.

En­sem­ble­sze­ne mit ei­ner Art Abend­mahls­tisch, un­ter den Sa­lo­me (Mar­lis Pe­ter­sen) kriecht. Alle Sze­nen­fo­tos: Wil­fried Hösl.

Gleich zwei ak­tu­el­le Pu­bli­ka­tio­nen der Baye­ri­schen Staats­oper soll­te man le­sen, be­vor man die Neu­in­sze­nie­rung der 1906 ur­auf­ge­führ­ten „Sa­lo­me“ von Ri­chard Strauss be­sucht: Denn ohne die gut 16-sei­ti­ge Be­fra­gung von Krzy­sz­tof War­li­kow­ski durch sei­ne Dra­ma­tur­gen im Pro­gramm­heft, ohne das Zwie­ge­spräch des Re­gis­seurs im Hoch­glanz­ma­ga­zin Max Jo­seph mit sei­nem Kol­le­gen Bar­rie Kos­ky, der mit Hän­dels „Agrip­pi­na“ die zwei­te Groß­pro­duk­ti­on der Münch­ner Opern­fest­spie­le be­sorgt, wür­de ei­nem ei­ni­ges an Er­kennt­nis­sen entgehen.

Klingt nicht ge­ra­de er­mu­ti­gend. Nor­ma­ler­wei­se gilt:  Eine In­ter­pre­ta­ti­on soll­te für sich selbst spre­chen und ohne re­gie­li­che Ge­brauchs­an­wei­sun­gen ver­stan­den wer­den. Für War­li­kow­skis be­reits vier­te Ar­beit und zwei­te Strauss-Oper für Mün­chen sei eine Aus­nah­me ge­macht, weil die­ser sper­ri­ge Abend ei­nen auf un­er­war­te­te Wei­se packt, gründ­lich auf­räumt mit ein­schlä­gi­gen Kli­schees, da­für bis­her ge­mie­de­ne As­so­zia­ti­ons­räu­me öff­net und Denk­an­stö­ße gibt, die lan­ge nachhallen.

War­um ein­fach, wenn es kom­pli­ziert geht? Die In­sze­nie­rung be­ginnt mit ei­nem zu­sätz­li­chen sze­ni­schen Pro­log und Gus­tav Mahlers Kin­der­to­ten­lied Nr. 1 mit Kath­le­en Fer­ri­er un­ter Bru­no Wal­ter aus ei­ner Mu­sik­kon­ser­ve. Die in ei­ner herr­schaft­li­chen Bi­blio­thek (Büh­ne und Kos­tü­me: Mał­gorza­ta Szc­zęś­ni­ak) ver­sam­mel­te Ge­sell­schaft führt sich erst eine klei­ne Ka­ba­rett­sze­ne vor, be­vor als nächs­tes Spiel im Spiel die „Salome“-Handlung anhebt.

Ka­ba­rett­sze­ne des Pro­logs mit Racha­el Wil­son (Page der He­ro­di­as), Pa­vol Bres­lik (Nar­ra­bo­th) und Wolf­gang Ab­lin­ger-Sper­r­ha­cke (He­ro­des).

Das ver­zer­ren­de Ka­ba­rett, über das sich ein Teil der Prot­ago­nis­ten amü­siert und an­de­rer Teil em­pört, will zei­gen, dass die­se Men­schen as­si­mi­lier­te Ju­den in den frü­hen 1940-er Jah­ren sind, die sich vor den Na­zis ver­steckt ha­ben. Am Ende, wenn sie ent­deckt wor­den sind, wer­den alle kol­lek­ti­ven Selbst­mord be­ge­hen. Kei­ner wird am Le­ben blei­ben. Hier herrscht also nicht nur, was Nar­ra­bo­th, Joch­a­na­an und Sa­lo­me be­trifft, Todesnähe.

An­ders als in der bi­bli­schen Vor­la­ge und im Li­bret­to Os­car Wil­des sind alle Fi­gu­ren be­droht, be­fin­den sich im Aus­nah­me­zu­stand. So über­nimmt der Rab­bi der Zwangs­ge­mein­schaft eher un­gern die Rol­le des He­ro­des, so spielt eine jun­ge Frau den Pa­gen der He­ro­di­as als eine zwi­schen Angst­star­re und ne­kro­phi­lem Aus­bruch un­glück­lich Lie­ben­de. Und das Ju­den­quin­tett ge­winnt eine an­de­re Be­deu­tung, wenn es in eine Art Abend­mahl­sze­ne mündet.

Sa­lo­me (Mar­lis Pe­ter­sen), He­ro­des (ste­hend: Wolf­gang Ab­lin­ger-Sper­r­ha­cke) so­wie an der Ta­fel ei­ni­ge Na­za­re­ner und Ju­den, dar­un­ter Ro­man Pay­er (zwei­ter von rechts).

Der Mann, dem die Rol­le des Joch­a­na­an zu­fällt, muss be­reits Schreck­li­ches ge­ra­de noch über­stan­den ha­ben. Er ist schwer trau­ma­ti­siert und hat, an­ders als die wei­te­ren Mit­glie­der die­ser Schick­sals­ge­mein­schaft, längst alle Acht­sam­keit für Äu­ßer­lich­kei­ten fah­ren las­sen: In schlabb­ri­gem  Out­fit und sträh­ni­gem Haar kommt er nur, wenn es denn sein muss, aus sei­nem Ver­steck im Kel­ler, raucht jede Zi­ga­ret­te, als wäre sie die letz­te sei­nes Le­bens und ist bei sei­nem al­ler­letz­ten Auf­tritt, weil die „Salome“-Handlung nur ein Spiel im Spiel ist, mit­nich­ten ei­nen Kopf kürzer.

Sa­lo­me (Mar­lis Pe­ter­sen) und Joch­a­na­an (Wolf­gang Koch)

Sa­lo­me darf, schon weil die Opern­hand­lung hier nur ein Spiel im Spiel ist, eine er­wach­se­ne, ele­gan­te, selbst­be­wuss­te Frau in Rot sein, eine küh­le Schön­heit, die Män­ner­fan­ta­sien be­flü­geln kann. Das Span­nen­de an ihr ist ihre Ent­wick­lung. Mar­lis Pe­ter­sen macht die Brü­che ih­rer Figur(en) spür­bar, ist auf der ers­ten Ebe­ne ein Op­fer, das auf der zwei­ten Ebe­ne umso deut­li­cher er­kennt, wie die­ses Pro­dukt miss­ra­te­ner El­tern all­mäh­lich vom Op­fer zur Tä­te­rin mu­tiert. Nein, sie braucht kei­ne Sil­ber­schüs­sel mit ab­ge­schla­ge­nem Kopf, um das Dra­ma zu voll­enden. Eine Kis­te mit blut­ge­tränk­tem Stoff­bal­len ge­nügt, um all die Sehn­sucht, Hoff­nungs­lo­sig­keit und Ver­zweif­lung, das Ent­set­zen und den Schmerz an un­tilg­ba­rer Schuld zu offenbaren.

Sa­lo­me (Mar­lis Pe­ter­sen) mit ei­ner Kis­te statt der Silberschüssel.

Scha­de nur, dass sich der An­spie­lungs­reich­tum und die Tie­fe der sze­ni­schen Ein­fäl­le dem Pu­bli­kum zu sel­ten un­mit­tel­bar mit­tei­len. Lei­der ha­ben der Re­gis­seur und sei­ne glei­cher­ma­ßen be­triebs­blin­den Dra­ma­tur­gen Mi­ron Ha­ken­beck und Mal­te Kras­ting es ver­säumt, die au­ßer­ge­wöhn­li­che Aus­gangs­si­tua­ti­on, das Set­ting, di­rekt in der Auf­füh­rung ver­ständ­lich zu ma­chen – und nicht nur im aus­führ­li­chen Pro­gramm­heft­bei­trag. Da­bei hät­te War­li­kow­ski, der sich im Opern­fest­spiel­ma­ga­zin mit Bar­rie Kos­ky durch­aus er­hel­lend über skan­da­lö­se Opern­frau­en aus­tauscht, nur ab­schau­en brau­chen, wie sein Kol­le­ge das Pro­blem in sei­nen ge­nia­len Bay­reu­ther „Meis­ter­sin­gern“ ge­löst hat: mit ein paar Ort und Si­tua­ti­on er­läu­tern­den Sät­zen auf dem Zwischenvorhang.

Bei die­ser „Sa­lo­me“ wäre dann zwar mit­nich­ten al­les schlüs­sig, denn zu sehr ver­liert die Re­gie die ei­gent­li­che Ge­schich­te aus dem Blick. Aber man wür­de zum Bei­spiel die den To­ten­tanz be­glei­ten­de Ani­ma­ti­on (Vi­deo: Ka­mil Po­lak) ein­ord­nen kön­nen. So bleibt der un­an­ge­neh­me Bei­geschmack, als Pu­bli­kum nach dem Mot­to „Friss, Vo­gel, oder stirb“ ab­ge­fer­tigt zu wer­den. Kein Wun­der, dass es hef­ti­ge Buhs für den Re­gis­seur gab, die des­sen Aus­stat­te­rin bei der Pre­mie­re üb­ri­gens mit ei­ner ar­ro­gan­ten Ges­te kom­men­tier­te, die schwer an Frank Cas­torfs pein­li­chen Vor­hang-Auf­tritt 2013 in Bay­reuth erinnerte.

Die mu­si­ka­li­sche Sei­te der Pro­duk­ti­on hin­ge­gen lässt kaum Wün­sche of­fen. Di­ri­gent Ki­rill Pe­tren­ko schafft mit dem Baye­ri­schen Staats­or­ches­ter in Höchst­form die Strauss-Qua­dra­tur des Krei­ses. Er trägt die sorg­sam aus­ge­wähl­ten Sän­ger, de­ren Stär­ken und Schwä­chen er ge­nau kennt, auf Hän­den. So­bald sie schwei­gen, ent­lockt er den In­stru­men­ta­lis­ten Far­ben und Nu­an­cen, Klän­ge, Rhyth­men, Har­mo­nien und Dis­so­nan­zen in ei­ner Dy­na­mik zwi­schen hauch­zar­ter Trans­pa­renz und ar­chai­scher Wucht, die ein­fach un­er­hört ist. Es ist ein gro­ßes, schmerz­haft be­we­gen­des Ge­schenk, Pe­tren­kos In­ter­pre­ta­ti­on in ei­ner „Sa­lo­me“ zu er­le­ben, in der das Grau­en der Sho­ah aufscheint.

Dass sein Di­ri­gat un­trenn­bar mit der In­sze­nie­rung ver­wo­ben ist, ver­steht sich von selbst und wird nicht nur durch die über­ra­gen­de, wie mit ei­nem Auf­schrei vom Pu­bli­kum ge­fei­er­te Ti­tel­prot­ago­nis­tin er­fahr­bar. Auf ho­hem sän­ger­dar­stel­le­ri­schen Ni­veau be­we­gen sich auch Wolf­gang Ab­lin­ger-Sper­r­ha­cke (He­ro­des), Mi­chae­la Schus­ter (He­ro­di­as), Wolf­gang Koch  (Joch­a­na­an), Pa­vol Bres­lik (Nar­ra­bo­th), Racha­el Wil­son als der zu ei­ner Haupt­rol­le auf­ge­wer­te­te Page, Ro­man Pay­er, den  hie­si­ge Opern­freun­de aus Co­burg ken­nen, als Zwei­ter Jude so­wie alle wei­te­ren So­lis­ten und der Tän­zer Pe­ter Jo­lesch als Tod.

Be­such­te Pre­mie­re am 27. Juni 2019, Erst­druck im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags. Für die schon lan­ge aus­ver­kauf­ten Vor­stel­lun­gen am 2., 6. und 10. Juli gibt es Ti­ckets nur noch in der Kar­ten­bör­se der Staats­oper. Am 6. Juli läuft auf www​.staats​oper​.tv ein kos­ten­lo­ser Live-Stream, am 3. Au­gust sen­det Ra­dio hr2 Kul­tur eine Aufzeichnung. 

Mar­lis Pe­ter­sen als Sa­lo­me und ihr Tanz­part­ner Pe­ter Jo­lesch als Tod. Foto: Wil­fried Hösl