Beklemmende Aktualität

Dass Fak (Fa­bri­ce de Fal­co) es auf Clai­re (Mi­chae­la Ma­ria May­er) ab­ge­se­hen hat, sieht man ihm an: Sze­ne aus der Ur­auf­füh­rung der Oper „Quai West“ im Opern­haus Nürn­berg. Foto: Lud­wig Olah

Na­tür­lich war es ein Zu­fall, dass nur zehn Tage zu­vor die Ter­ror­an­schlä­ge in Pa­ris pas­siert wa­ren. Der „Je suis Charlie“-Abdruck im Pro­gramm­heft zur deut­schen Fas­sung der Oper Quai West (Quai Quest) von Ré­gis Cam­po in Nürn­berg war trotz­dem kei­ne auf­ge­setz­te Re­ak­ti­on, son­dern an­ge­mes­sen. Denn die­ser Opern­abend wirkt be­klem­mend ak­tu­ell, ob­wohl das zu­grun­de lie­gen­de Sprech­thea­ter von Ber­nard-Ma­rie Kol­tès schon rund drei­ßig Jah­re alt ist. Die auf drei­ßig Se­quen­zen und ein­ein­halb Stun­den Spiel­dau­er ein­ge­dampf­te, ei­gent­lich hand­lungs­ar­me Hand­lung hat nicht kon­kret mit dem ak­tu­el­len Ge­sche­hen in Frank­reich zu tun, aber sie skiz­ziert die Ursachen.

Die Ko­pro­duk­ti­on der Opé­ra Na­tio­nal du Rhin Stras­bourg und des Staats­thea­ters Nürn­berg ist eine dop­pel­te Ur­auf­füh­rung. Das Ori­gi­nal-Li­bret­to von Kris­ti­an Fréd­ric und Flo­rence Dou­blet liest sich in der deut­schen Fas­sung von Ca­ro­lyn Sit­tig zwangs­läu­fig an­ders. Dar­über hin­aus hat der Kom­po­nist – der 1968 ge­bo­re­ne Ré­gis Cam­po ist der­zeit com­po­ser in re­si­dence an der Peg­nitz – nach den Er­fah­run­gen der Vor­stel­lun­gen in Frank­reich im Herbst 2014 ger­ne auf die neue Spra­che re­agiert. Die deut­sche, für ihn gül­ti­ge­re Ver­si­on ist „schmut­zi­ger“, hat mehr Kon­tras­te in den Sing­stim­men, mehr Sprech­ge­sang und mehr Chromatik.

Dass Cam­po ge­ne­rell of­fen ist für die un­ter­schied­lichs­ten Ein­flüs­se, hört man sei­ner ers­ten gro­ßen Oper an: ein at­mo­sphä­risch dich­ter, oft hell iri­sie­ren­der Stil­mix aus Postro­man­tik, Mi­ni­mal-Mu­sic und Film­mu­sik, mit Rock-, Blues- und Fla­men­co-Ein­spreng­seln und ei­nem ma­gi­schen Fern­chor. Die Staats­phil­har­mo­nie Nürn­berg un­ter Ge­ne­ral­mu­sik­di­rek­tor Mar­cus Bosch, der den Ein­ak­ter schon in Straß­burg mit aus der Tau­fe ge­ho­ben hat, tritt in Mo­zart-Stär­ke an, hin­zu kom­men ober­ton­rei­che Per­cus­sion-Klän­ge, E-Gi­tar­re, E-Bass und Syn­the­si­zer. Die vor al­lem rhyth­misch an­spruchs­vol­len So­lo­par­tien wech­seln zwi­schen Sprech­ge­sang, Vo­ka­li­sen und ario­sen Tei­len – in ei­ner be­stechen­den Wort­ver­ständ­lich­keit, so dass es Über­ti­tel nur in den En­sem­ble­sze­nen braucht.

Bull­shit lau­tet ein von al­len Prot­ago­nis­ten ge­sun­ge­ner zen­tra­ler Aus­druck. Was na­tür­lich am Stück liegt, be­zie­hungs­wei­se am (Un-)Ort. Der an Aids früh ver­stor­be­ne Kol­tès kann­te die rea­le, von al­len gu­ten Geis­tern ver­las­se­ne und ver­rot­ten­de West-Side-Sto­ry-Sze­ne­rie aus ei­ge­ner Er­fah­rung. Sein Quai Ouest muss aber nicht in New York spie­len, son­dern passt letzt­lich über­all hin. Es ist eine von vie­len End­sta­tio­nen, wo die­je­ni­gen stran­den, die die Ge­sell­schaft aus­spuckt: Klein- und Groß­kri­mi­nel­le, Mi­gran­ten, Ent­wur­zel­te und Ge­schei­ter­te al­ler Art, Un­der­dogs egal wel­chen Al­ters und Ge­schlechts, egal wel­cher Her­kunft und Haut­far­be (Büh­nen­bild: Bru­no de La­ven­è­re, Kos­tü­me: Ga­brie­le Heimann).

Ge­nau dort­hin kommt der rui­nier­te Ge­schäfts­mann Mau­rice Koch (Pa­vel Sh­mu­le­vich), be­glei­tet von Mo­ni­que Pons (Leah Gor­don), sei­ner Se­kre­tä­rin und Ex-Ge­lieb­ten. Sie tref­fen auf den ge­heim­nis­voll schwei­gen­den Schwarz­afri­ka­ner Abad (Au­gus­tin Di­kon­gué), ei­nen tes­to­ste­ron­ge­beu­tel­ten Mann na­mens Fak (Fa­bri­ce di Fal­co) und eine Ein­wan­de­rer­fa­mi­lie mit in­dia­ni­schen Wur­zeln: die hier nie hei­misch ge­wor­de­ne Cé­ci­le (Lei­la Pfis­ter), ihr in je­der Hin­sicht kriegs­ver­sehr­ter Mann Ro­dol­fe (Tae­hy­un Jun), der sei­nen Sohn Charles (Hans Kit­tel­mann) fühl­los auf­lau­fen lässt und die blut­jun­ge Toch­ter Clai­re (Mi­chae­la Ma­ria May­er) der Ver­ge­wal­ti­gung preisgibt.

Am Ende sind drei Fi­gu­ren tot. Koch, der sich durch ei­nen Sprung ins Was­ser aus der Ver­ant­wor­tung steh­len woll­te, wird um­ge­bracht, Ce­ci­le stirbt ohne Ge­walt­ein­wir­kung, Charles un­ter ei­ner MP-Sal­ve. In das Ent­set­zen über das sinn­lo­se Ster­ben mischt sich die Er­kennt­nis, dass ge­nau­so gut die an­de­ren hät­ten drauf­ge­hen kön­nen. Die Tren­nung zwi­schen Tä­ter und Op­fer scheint auf­ge­ho­ben in die­ser Welt, wo je­der nur noch sich selbst der Nächs­te ist und alle ver­lo­ren sind. Nur in den Frau­en­fi­gu­ren steckt ein Hauch von Hoff­nung und Uto­pie. Ih­nen hat Ré­gis Cam­po ein be­tö­rend kon­tem­pla­ti­ves Ter­zett kom­po­niert, das inne- und gleich­sam die Zeit an­hält. Es braucht den Ver­gleich mit dem wohl vor­bild­haf­ten Ro­sen­ka­va­lier-Schluss­ter­zett nicht zu scheu­en, zu­mal wenn drei so aus­drucks­star­ke wie kost­ba­re Stim­men zur Ver­fü­gung ste­hen. Auch dar­stel­le­risch ist die Nürn­ber­ger Be­set­zung erstklassig.

Ein­fühl­sam und kun­dig die Re­gie von Kris­ti­an Fré­drik, der Quai West als eine my­thi­sche Pa­ra­bel in­sze­niert, aus der zu er­fah­ren ist, dass eine Ge­sell­schaft dem Ter­ror den Bo­den selbst be­rei­tet, wenn sie au­ßer Ei­gen­nutz und Gier kei­ne Wer­te mehr hat, wenn sie Mi­gran­ten al­lein lässt und aus­grenzt, wenn Ju­gend­li­che ori­en­tie­rungs- und ar­beits­los in ghet­to­ar­ti­gen Vor­städ­ten auf­wach­sen müs­sen. Um in den Him­mel zu kom­men, singt der jun­ge Charles, be­vor er ab­ge­knallt wird, muss man eine Steu­er­erklä­rung in aus­rei­chen­der Höhe mit­brin­gen. „Das ist kein ele­men­ta­rer Pes­si­mis­mus, das ist ein ele­men­ta­rer Rea­lis­mus“, stell­te Dra­ma­ti­ker Kol­tès schon 1988 fest. Und: „Die ein­zi­ge Mo­ral, die uns bleibt, ist die Mo­ral der Schön­heit.“ Ge­nau das hat Ré­gis Cam­po mit sei­ner Ver­ope­rung eingelöst.

Be­such­te Vor­stel­lung am 17. Ja­nu­ar 2015 (Pre­mie­re). Wei­te­re Auf­füh­run­gen nur noch am 7., 15., 18. und 26. Fe­bru­ar so­wie am 7. März. Kar­ten gibt es per Te­le­fon un­ter 0180-5-231 600 so­wie on­line auf der Home­page des Staats­thea­ters.