Moderner Kosmopolitismus

„Als Ger­ma­nis­ten“, sag­te Fio­na Wal­ter, Stu­den­tin des Lehr­stuhls für Deut­sche Phi­lo­lo­gie des Mit­tel­al­ters an der Bam­ber­ger Otto-Fried­rich-Uni­ver­si­tät, ein­gangs ih­res Kurz­vor­trags zu un­se­rer Par­si­fal-Werk­statt, „hof­fen wir, die li­te­ra­ri­sche Ra­dix von Wag­ners Oper, also gleich­sam die mit­tel­al­ter­li­che Text­grund­la­ge, in den Fo­kus der Be­trach­tung ein­be­zie­hen zu kön­nen und da­mit die ge­mein­sa­me Aus­ein­an­der­set­zung um die­sen Ge­sichts­punkt ge­winn­brin­gend zu er­wei­tern.“ Hier Fio­na Wal­ters Be­trach­tun­gen zum Par­zi­val Wolf­rams von Eschen­bach aus sub­jek­ti­ver Sicht:

Wie wir alle wis­sen, sind vie­le pro­mi­nen­te und ka­no­ni­sche Zeug­nis­se der Neue­ren deut­schen Li­te­ra­tur so­wie der Opern­tra­di­ti­on des 19. Jahr­hun­derts ge­prägt durch die ex­pli­zi­te wie im­pli­zi­te Re­zep­ti­on mit­tel­al­ter­li­cher und früh­neu­zeit­li­cher Stof­fe. Die Ur­sprün­ge die­ser Stof­fe, wie auch frü­he­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit ih­nen, ha­ben al­ler­dings oft so sehr an Be­kannt­heit ein­ge­büßt, dass die neu­zeit­li­chen Re­zep­ti­ons­pro­duk­te sie in die­ser Hin­sicht längst über­strah­len. So lässt sich bei­spiels­wei­se leicht glau­ben, Goe­the sei der geis­ti­ge Va­ter der Faust­fi­gur oder, pas­send zu un­se­rem The­ma, Ri­chard Wag­ner der Ur­he­ber des Par­zi­val­stoffs. Die mit­tel­al­ter­li­che Quel­len selbst of­fen­ba­ren na­tür­lich an­de­res: dies führt mich zu­rück auf den ur­sprüng­li­chen Par­zi­val, die An­griffs­flä­che für uns Phi­lo­lo­gen, d.h. den Ro­man Wolf­rams von Eschen­bach, da­tiert zwi­schen 1200 und 1210, mit ei­nem Um­fang von knapp 25 000 paar­ge­reim­ten mit­tel­hoch­deut­schen Versen.

Wag­ners Büh­nen­weih­fest­spiel ent­spinnt sich als Mensch­wer­dungs- und Er­lö­sungs­pro­zess Par­si­fals mit dem Gral als ideel­lem Dreh- und An­gel­punkt. In der text­li­chen Vor­la­ge al­ler­dings schal­tet Wolf­ram von Eschen­bach eine kom­ple­xe Hin­füh­rung vor, die bei Wag­ner zwar kom­plett aus­ge­spart wird, im Ro­man je­doch die ers­ten bei­den und die zwei letz­ten der ins­ge­samt  sech­zehn Bü­cher ein­nimmt (d.h. un­ge­fähr ein Vier­tel des Ge­samt­um­fangs). Ne­ben der Be­deu­tung der Fi­gur Par­zi­vals als Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt der Hand­lung möch­te ich hier auf die­se al­lein dem Ro­man vor­be­hal­te­ne Rah­men­hand­lung hin­deu­ten, die selbst für ei­ni­ge un­ge­ahn­te Ent­de­ckun­gen dient.

Es ver­hält sich tat­säch­lich so, dass noch be­vor der Prot­ago­nist über­haupt ge­bo­ren wird, und noch be­vor die Ar­tus- und Grals­welt als Ku­lis­se von Par­zi­vals ei­gent­li­chem Ent­wick­lungs­pro­zess er­öff­net wird, die Rah­men­hand­lung – um ge­nau zu sein – nicht we­ni­ger als ei­nen Streif­zug durch den Groß­teil der ge­sam­ten um 1200 be­kann­ten Welt bie­tet. Es ist eine au­ßer­or­dent­li­che räum­lich-geo­gra­phi­sche Ge­stal­tung, die spe­zi­ell die­se be­sag­te rah­men­de Hand­lungs­strang rund um Par­zi­vals Va­ter Gah­mu­ret und sei­nen Halb­bru­der Fei­re­fiz of­fen­bart: Wolf­ram hat ihn mit ei­ner fas­zi­nie­ren­den, ja wie ich fin­de ge­ra­de­zu ver­blüf­fen­den Weit­läu­fig­keit aus­ge­stat­tet, die ich hier ger­ne her­vor­he­ben möch­te. Zur Il­lus­tra­ti­on ein kur­zer Ab­riss: nach den ers­ten 400 Ver­sen nimmt der Text sei­nen Le­ser zu­nächst mit zum Ba­ruc, dem Ka­li­fen von Bag­dad, dar­auf­hin ohne Um­schwei­fe in das von Bel­a­ka­ne be­herrsch­te fik­ti­ve Kö­nig­reich Zaza­manc in Afri­ka. Zwi­schen­sta­tio­nen in Ma­rok­ko, Per­si­en, und meh­re­ren Städ­ten des Na­hen Os­tens, dar­un­ter Da­mas­kus, wer­den schlicht in Halb­sät­zen ab­ge­han­delt. Über das mau­risch ge­präg­te To­le­do in Spa­ni­en fin­det Gah­mu­ret schließ­lich nach West­eu­ro­pa auf heu­te fran­zö­si­schen Bo­den zu­rück, wo er nun­mehr auf Her­zeloy­de (bei Wag­ner „Her­ze­lei­de“ trifft). Sein ers­ter Sohn Fei­re­fiz lässt sich am Ende des Ro­mans zu­letzt als neu­er­dings ge­tauf­ter, christ­li­cher Herr­scher im fer­nen In­di­en nieder.

Es ist hier ein, wie ich fin­de, be­ein­dru­ckend mo­der­ner Kos­mo­po­li­tis­mus, der be­reits auf den ers­ten Sei­ten aus Wolf­rams Par­zi­val spricht. Die Rah­men­hand­lung rund um Gah­mu­ret und Fei­re­fiz ist eine Neu­schöp­fung Wolf­rams ab­seits der Au­to­ri­tät sei­ner fran­zö­si­schen Vor­la­ge, sie wur­de von Wag­ner im Par­si­fal – mit Aus­nah­me zwei­er mi­ni­ma­ler An­deu­tun­gen Kundrys – nicht re­zi­piert, aber ge­ra­de hier be­weist sich die oft aus­ge­mach­te Li­be­ra­li­tät und die kul­tu­rel­le Of­fen­heit, die der hoch­mit­tel­al­ter­li­chen Epik ei­gen ist. Ähn­li­che Be­trach­tun­gen sind bei­spiels­wei­se auch zu Wolf­rams Ro­man Wil­le­halm, dort be­son­ders in Ver­bin­dung mit dem Ge­dan­ken re­li­giö­ser To­le­ranz, ge­macht wor­den. Auch das Viel­völ­ker­tref­fen des Hun­nen­kö­nigs Et­zel im Ni­be­lun­gen­lied ist hier wohl in ge­wis­ser Wei­se an­schluss­fä­hig. Im Par­zi­val be­rüh­ren sich auf die­se Art ganz ne­ben­bei Ori­ent und Ok­zi­dent in ei­ner fast uto­pisch an­mu­ten­den Syn­the­se; vor al­lem am Ende in der Ver­bin­dung von Par­zi­vals heid­ni­schem Halb­bru­der Fei­re­fiz und der Schwes­ter des Gral­skö­nigs wird dies be­son­ders deut­lich. Die An­nah­me, die da­hin­ter steht, ist wohl die, dass kul­tu­rel­le Eli­ten, d.h. im Hoch­mit­tel­al­ter der Feu­dal­adel, sich auf habituelle

Ge­mein­sam­kei­ten und den Vor­bild­cha­rak­ter ih­rer Kul­tur­leis­tun­gen, z.B. die Pracht­ent­fal­tung ih­rer Hof­hal­tung, un­ge­ach­tet geo­gra­phi­scher Gren­zen be­ru­fen kön­nen, oder frei nach Goe­the: „Ein ed­ler Mensch zieht edle Men­schen an“, weil ein Zu­sam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl durch ähn­li­che ade­li­ge Le­bens­füh­rung so­wohl im Mor­gen- als auch im Abend­land besteht.