Kleine Exkursion über Theodor Reichmann, der dem optischen Leitmotiv unserer Parsifal-Werkstatt seinen Kopf geliehen hat.
In den Tagebüchern Cosima Wagners findet er vergleichsweise spät seine erste Erwähnung: Theodor Reichmann (Foto bzw. Autogrammkarte links: Wikipedia), Amfortas der Parsifal-Uraufführung 1882 in Bayreuth. Am 2. Juli, erst mit dem Beginn der Proben im Festspielhaus, notiert Cosima: „Um 5 Uhr Probe am Klavier des ersten Aktes; das ganze Personal auf der Bühne! (In der Frühe hatten wir nach der Orchester-Probe die Blumenmädchen in einem Zimmer versammelt gesehen, die einen reizenden Anblick gewähren) Und herrlichster Eindruck! … Ja überirdischer, die Seligkeit verwirklicht! H. Scaria als Gurnemanz wundervoll, Herr Reichmann [als] Amfortas ergreifend, und alle, alle so ernst, so begeistert dabei, ein einziger Lebensmoment.“
Geboren wurde Theodor Reichmann als Sohn eines Advokaten am 15. März 1849 in Rostock. Er sollte Kaufmann werden, arbeitete zunächst als Kontorist, entschloss sich dann zu einer Gesangsausbildung. 1869 debütierte er in Magdeburg als Freischütz-Ottokar, nach weiteren Engagements in Berlin, Rotterdam, Köln und Straßburg wirkte er von 1873 bis 1875 in Hamburg (Antrittsrolle: Telramund in Lohengrin) und setzte seine Ausbildung bei Francesco Lamperti in Mailand fort. Von 1875 bis 1882 gehörte er zum Ensemble der Hofoper München (unter Hermann Levi, dem Dirigenten der Parsifal-Uraufführung). 1882 gehörte er unter anderem dem reisenden Wagner-Theater Angelo Neumanns an, das eine große Tournee durch Europa veranstaltete, 1883 folgte er dem Ruf der Wiener Hofoper, der er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod angehörte. 1888 wurde Reichmann zum Kammersänger ernannt. Er wurde u. a. mit dem Franz-Joseph-Orden ausgezeichnet. In Wien ist die Reichmanngasse nach ihm benannt.
In seinen großen Wagner-Partien gastierte er unter Hans Richter (dem Dirigenten der Ring-Uraufführung) 1884 und 1892 in London, an der New Yorker Met trat er 1889 erstmals auf, blieb bis 1891 und feierte seine größten Erfolge sowohl im Wagnerfach als auch mit Rollen der italienischen und französischen Opernliteratur. Weitere Gastspiele führten ihn nach St. Petersburg sowie an mehrere englische und amerikanische Opernhäuser. In Bayreuth trat er nach seinem Debüt als Amfortas regelmäßig bis kurz vor seinem Tod auf – auch als Hans Sachs in den Meistersingern und Wolfram in Tannhäuser. Als er am 22. Mai 1903 – dem 90. Geburtstag von Richard Wagner – in Marbach am Bodensee im Alter von nur 54 Jahren starb, galt er als eine der größten Bühnenpersönlichkeiten seiner Zeit. Er wurde auf dem Friedhof III der Jerusalems und Neuen Kirchengemeinde in Berlin beerdigt, unter einem monumentalen Grabdenkmal.
In seinem hochgelobten Standardwerk Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit. Wagners Parsifal in Bayreuth 1882–1933 (© 2009 Bärenreiter-Verlag Kassel und J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar) schreibt unser Werkstatt-Referent Stephan Mösch über Theodor Reichmann:
Nimmt man die verschiedenen Quellen zusammen, so zeichnet sich bei Reichmann das Bild eines stimmschönen und konditionsstarken, aber eher phlegmatischen Sängernaturells ab. Zudem hatte der Bariton dauerhaft musikalische Schwierigkeiten. Ernst von Possart, Münchens allmächtiger Intendant, sprach von einem Defizit „in Bezug auf künstlerische Auffassung und korrekte Wiedergabe, aber auch von herrliche[m] Material“. Das wird durch viele Zeitzeugen bestätigt. Felix von Weingartner berichtet: Reichmann „liebte es, zu tief zu singen“. Wilhelm Kienzl erwähnt in seinem Tagebuch mehrfach Intonationsprobleme. Noch in seinen Erinnerungen, die zehn Jahre nach Reichmanns Tod und über vierzig Jahre nach der Uraufführung des Parsifal erschienen, bezeichnet Siegfried Wagner den Bariton als „bis jetzt unerreicht gebliebene[n] Sänger des Amfortas“. Er weist freilich auch darauf hin, „daß das Musikalische ihm viel Not machte“. Als Richard Wagner unangekündigt während der letzten Vorstellung 1882 nach der Verwandlungsmusik des dritten Akts am Dirigentenpult erschien, erschrak Reichmann mehr als alle anderen. Er hatte die nächste große Szene zu bestreiten und bangte, nach immerhin fünfzehn Vorstellungen, um Einsätze.
Dass Reichmann als Amfortas überzeugte, dürfte weniger mit einem bewusst gestaltenden Eindringen in die Archaik der Figur zu tun gehabt haben als mit einer künstlerischen Grunddisposition. Er verfügte über eine „weiche Stimme“, aber über ausreichend Stimmvolumen bzw. -Autorität und scheute sich nicht, das demonstrativ auszustellen. Eine Stelle wie die „Erbarmen!“-Rufe des Amfortas (Erster Akt, T.1388ff.) bot sich für diese Charakteristika besonders an, und sie war denn auch für Kienzl ein Höhepunkt in Reichmanns Gestaltung. Ein kluger, natürlicher Menschendarsteller dürfte der Bariton jedoch kaum gewesen sein. Albert von Puttkamer notiert bezeichnenderweise, dass Reichmann als Hans Sachs das Niveau seines Amfortas nicht erreichte, und die Gründe liegen nicht in der stimmlichen Kondition, sondern in der Wesensanlage: „Er mußte sich immer auf einem gewissen Kothurn bewegen, um wirken zu können.“ Es passt hierzu, wenn Felix Mottl die „Reichmannsche Süßlichkeit“ hervorhebt, und Hugo Wolf den Wiener Pizarro als „gemüthlich“ bezeichnet.
Dass Stephan Mösch ausführlich über die zwei Bariton-Partien Amfortas und Klingsor schreibt, kommt nicht von ungefähr und bestätigt gewissermaßen die szenische Lösung der Coburger Neuinszenierung:
Der sieche, zwar lyrisch grundierte, aber trotzdem zum großen vokalen Faltenwurf tendierende Gralskönig und der abtrünnige, heftig (und auskomponiert) deklamierende Gralsritter, sie werden bis heute gerne mit konträren Stimmtypen besetzt, wobei die Kategorie des „Charakterfaches“ oft zu prekären Ergebnissen führt. Klingsor ist dann – bestenfalls – jemand, der den Amfortas nicht (mehr) schafft, oder dessen Stimmschönheit nicht genügt. 1882 jedoch rückten beide Partien auf merkwürdige Weise zusammen. Carl Hill (1831–1893) war ab 1868 zweiundzwanzig Jahre lang in Schwerin engagiert; Wagner hatte ihn dort 1873 als Holländer gehört und als Alberich nach Bayreuth geholt. Cosimas Tagebuch lässt sich entnehmen, dass Wagner beim Klingsor „immer an Hill“ dachte, was umso mehr überrascht, als spezifische Vokalprofile ihn sonst beim Komponieren kaum beschäftigten. Interessanterweise sang Hill 1882 nicht nur den Klingsor, sondern war auch als Amfortas-Cover vorgesehen. Man kann das als Notlösung abtun. Weil Reichmann nie absagte, kam Hill als Gralskönig öffentlich nie zum Zuge. […] Es bleibt Spekulation, aber doch eine reizvolle, dass Wagner sich vom Stimmtypus her einen Klingsor im Amfortas und folglich auch einen Amfortas im Klingsor vorstellen konnte. Die dramaturgische Hauptachse des Stücks wäre damit stärker gewichtet als alle Einzelcharakteristik der Figuren.
Zurück zu Cosimas Tagebuch, wo sie am 29. August 1882 die letzte Parsifal-Aufführung der zweiten Bayreuther Festspiele beschreibt, die gleichzeitig die letzte Festspielvorstellung zu Wagners Lebzeiten sein sollte:
Um 4 Uhr fahre ich mit meinem Vater in’s Theater. In meiner Loge wohnen Frl. Malten [Therese Malten, eine von drei Kundry-Interpretinnen 1882] und H. Siehr [Gustav Siehr, Gurnemanz-Interpret 1882 ff. neben Emil Scaria] der Aufführung bei, „glühende Kohlen auf die Häupter der andren sammelnd“, wie R. sagt, der erst zum Zwischenakt (1–2) kommt. – Leider verursacht ihm das Durchgehen des Großherzogs und das Eintreten von einer der anwesenden fürstlichen Frauen in sein[en] Salon eine sehr üble Laune! Auf der Bühne aber befriedigt ihn alles, und im dritten Akt, nach der Wandeldekorations-Musik, nimmt er den Stab und dirigiert bis zum Schluß! Dann nimmt er vom Orchester aus Abschied von seinen Künstlern, nachdem der Beifallssturm unaufhörlich sich erzeigt. Nicht vieles von seinen Worten vernimmt man im Saal, und er selbst sagt mir, er wisse nie, was er sage.[…] – Unsere Heimfahrt ist still-feierlich, ich meine, wir können danken, wenn auch gewiß das Erreichte schwer erkauft ward und beinahe das ganze Lebensbehagen des geopfert wird. Gewiß auch ist R. diese Wirksamkeit ein Bedürfnis und bei allem Kummervollen doch die einzige ihm entsprechende Tätigkeit. – Abends haben wir noch ein Gespräch mit den Kindern über das soeben Erlebte; es wird bemerkt, wie anders das Orchester unter seiner Leitung gespielt habe, wie unvergleichlich anders H. Reichmann das: „Sterben, einzige Gnade“ gesungen. – Ich erzähle, wie ich Papa [=Franz Liszt], Grog trinkend, in seiner Garderobe mit dem Kmeister [=Hermann Levi] gefunden habe, wie einige Blumenmädchen draußen auf ihn gewartet hätten, um ihn noch einmal zu sehen. – Leider bringt die Nachricht der morgenden Abreise meines Vaters ein großes Auflodern von Entrüstung hervor.
Ach ja, die Väter.
Ähnliche Beiträge
- Einfach und schlicht 18. Juni 2019
- Pausenjahre gab’s schon immer 1. April 2020
- „Es gibt nichts Ewiges …“ 18. Juli 2017
- Stelldichein der Szenen-Macher 9. August 2019
- Werkstatt-Referenten aktuell 5. April 2017