Ach, die Taube! Zu den legendären Bayreuth-Anekdoten zählt jene von Hans Knappertsbusch und der „Parsifal“-Taube, die laut Richard Wagners Libretto zum Schluss des Bühnenweihfestspiels aus der Gralskuppel herabschweben und über dem Haupt des Titelhelden verweilen soll. In Wieland Wagners entrümpelter „Parsifal“-Inszenierung von Neubayreuth war die Taube nur aus Licht, was den Dirigenten dazu bewog, brieflich seinen Abschied zu nehmen: „Ich kehre nicht mehr nach Bayreuth zurück“, schrieb er dem Wagner-Enkel am 30. August 1951. Und weiter: „Auf dem richtigen Weg – auf dem Sie sich nach der Meinung Derjenigen befinden, die nun Wagner endlich erledigt wissen wollen, und den geeignetsten Anwalt hierfür gefunden zu haben glauben – habe ich nichts zu suchen.“
Bei den zweiten Nachkriegsfestspielen 1952 stand er aber doch wieder im Orchestergraben, der heute vor hundertdreißig Jahren in Elberfeld geborene Traditions- und Gralshüter, der als Assistent zwischen 1909 und 1912 noch von Hans Richter, dem ersten Bayreuther Festspieldirigenten, geprägt worden war. Erst nach einem weiteren Disput mit Wieland Wagner beim Festspiel-Gastspiel in Neapel, bei dem es, wie es heute heißt, ums Regietheater ging, machte „Kna“, wie man ihn nannte, Ernst. Er pausierte für ein Jahr. Bedingung für seine Rückkehr 1954 war, dass Wieland die Taube zeigen sollte. Der machte aus der Not eine Tugend und ließ den Vogel vom Schnürboden genau so weit herunter, dass nur der Dirigent im „magischen Abgrund“ ihn sehen konnte. Als Knas zweite Frau Marion, die in der ersten Parkettreihe saß, ihrem Mann nach der Aufführung sagte, dass die Taube gefehlt habe, antwortete er in der ihm eigenen Grobheit: „Ihr blöden Weiber seht ja sowieso nichts!“ – was fast durchgehen mag, wenn man weiß, dass Kna im Bayreuther Künstlerlokal „Eule“ laut verkündet haben soll, dass er erst, seitdem er die beiden Wagner-Enkel kennen gelernt habe, wisse, was für ein Arschloch Richard Wagner gewesen sein müsse.
Seine verbalen Ausbrüche waren gefürchtet. Und unerbittlich blieb er, wenn es um seine musikalischen Auffassungen ging. Genau aus diesem Grund wollten die Wagner-Enkel ihn langfristig an die Festspiele binden. Schließlich personifizierte er mit seinem Dirigierstil, seinen breiten Zeitmaßen und dem schwelgerisch romantischen Klang Kontinuität in der musikalischen Interpretation. Horst Stein, der ebenfalls aus Elberfeld stammende Knappertsbusch-Assistent, spätere Bayreuth- und Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, stellte fest: „Was mich damals fasziniert hat, war, im Orchesterraum zu sitzen und zu sehen, wie jemand mit den kleinsten Bewegungen trotz längster Arme und einem langen Taktstock – mit den kleinsten Bewegungen und einem unerhört intensiven Auge – Musik machen kann. Ich glaube, er hat nie eine Bewegung gemacht, die nicht aus der Musik und für die Musik gedacht war; gerade in Bayreuth, wo der Dirigent ja nicht vom Publikum gesehen wird, wo der Dirigent nicht damit rechnen kann, dass eine Bewegung von der Dame links in der zweiten Reihe besonders beachtet wird, und er vielleicht der Verlockung nachgibt, diese Bewegung besonders schön zu zeichnen. Gerade in Bayreuth, wo man nur für die Musik, nur für den Musiker, nur für den Augenblick dirigiert, zeigt es sich doch, ob einer eine Show abliefert, um es so zu sagen, oder ob er sich der Partitur verpflichtet fühlt.“
Kna fühlte sich stets der Partitur verpflichtet, die er zusammen mit den Musikern begeisternd auslegen konnte, und zwar ohne intensive Proben. Im Gegenteil: Er war notorisch probenunlustig, wirkte mit seiner Energie, Intuition und Suggestionskraft eher aus dem Moment heraus. Das schadete seiner Laufbahn nicht, die eher wegen seiner direkten Art mehrere Knicke erfuhr – zunächst unter den Nazis, und das obwohl er 1933 den unsäglichen „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ gegen Thomas Manns Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ initiiert hatte. Von seinem Chefposten an der Münchner Staatsoper wurde er zugunsten von Clemens Krauss abserviert, wonach er überwiegend in Wien und Salzburg wirkte, aber auch ohne Parteimitglied zu sein zu den privilegierten Dirigenten des Regimes zählte. Nach Kriegsende bekam er zunächst ein Dirigierverbot, das später als „bedauerliches Missverständnis“ wieder zurückgenommen wurde. Sein erstes Konzert nach der Zwangspause dirigierte er am 22. Januar 1947 im Bamberger Zentralsaal mit den gerade gegründeten Bamberger Symphonikern. Neubayreuth war und blieb sein sommerlicher Fixpunkt war. Hier leitete er auf seine unnachahmliche Art fast hundert Vorstellungen – und verzichtete wie vor ihm nur Hans Richter, Hermann Levi und Arturo Toscanini sogar aufs Honorar. Auch sein letztes Dirigat fand an seinem Sehnsuchtsort statt: eine „Parsifal“-Aufführung am 13. August 1964. Ohne Taube.
Ausführlichere Version des Erstdrucks im Fränkischen Tag vom 12. März 2018 und der Erstveröffentlichung auf takt1
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