Dass ausgerechnet in der Wagnerstadt seit Jahrzehnten etwas kleiner, aber umso verfeinerter die Barockoper blüht, liegt nicht nur an der passenden Location. Sondern an der 1961 gegründeten Orgel- und Musikwoche Bayreuth, die sich unter dem Namen Musica Bayreuth im Markgräflichen Opernhaus verdienstvoll auch diesem Repertoire widmet – aktuell mit noch drei Opernabenden, einer davon noch nicht ausverkauft und nur noch heute Abend! Ein heißer Tipp für Schnellentschlossene, denn Karten gibt es noch, wenn auch teure, und das Opernhaus ist (anders als das Festspielhaus) erfrischend gut klimatisiert.
Das Anfang Mai gestartete Festival hat neben mehr als zwanzig Konzerten bereits drei sehr unterschiedliche Opernproduktionen nach Oberfranken gebracht: Luigi Cherubinis „Medea“ in einer modernen Inszenierung des Pilsener Tyl Theaters, einen Arienabend mit der stupenden Sopranistin Julia Lezhneva und die zweimal ausverkaufte „Zauberflöte Reloaded“, eine rasante Hip-Hop-Adaption für junges Publikum.
Es versteht sich von selbst, dass man in der vorbildlich restaurierten Weltkulturerbe-Kostbarkeit zudem ein besonderes Augenmerk auf die historische Aufführungspraxis legt. Das Gastspiel der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci mit der Opernrarität „Polifemo“ von Giovanni Battista Bononcini (1670–1747) am Mittwoch und Donnerstag ist dafür ein Musterbeispiel.
Die Produktion feierte gerade erst in Sanssouci Premiere, dort noch angereichert mit einer Sonate und einer szenischen Serenata. Was wohl doch etwas zu viel war. In Bayreuth wurde auf den Scarlatti-Prolog verzichtet, gottlob aber nicht auf Händels frühe Sonata a 5 voci in B-Dur: eine wunderbare Einstimmung in das genuin barocke Klangerlebnis.
Das 15-köpfige Ensemble 1700 unter der beschwingt-forschen Leitung seiner Gründerin Dorothee Oberlinger legte auf authentischen Instrumenten in historischer Spieltechnik schon eingangs in dunkel federnder Eleganz einen Originalklangteppich, auf dem sich der junge Geiger Evgeny Sviridov virtuos ins Rampenlicht spielte – mit einer Barockgeige, die noch etliche Lenze älter ist als das 1748 eröffnete Opernhaus.
Die Pastorale „Polifemo“, die der Komponist später als „kleine Bagatelle“ bezeichnete, obwohl sie siebzehn Arien, zwei Duette und eine mitreißende Schlussnummer zählt, wurde bereits 1702 uraufgeführt – im Theater des Lustschlosses Lützenbourg von Königin Sophie Charlotte, eine Großmutter der Markgräfin Wilhelmine.
Die Auftraggeberin des Einakters wirkte damals selbst am Cembalo mit, nebst weiteren blaublütigen Dilettanten und hochrangigen Berufsmusikern. In der Inszenierung von Margit Legler, die sich in der Ausstattung von Johannes Ritter und ihrer Personenführung an der Opernpraxis der Entstehungszeit orientiert, wird das unmittelbar spürbar.
Denn die überwiegend anmutig-artifiziellen Gesten und Haltungen der im Stil des frühen 18. Jahrhunderts gekleideten Figuren lassen wie von selbst an Schäferspiele des barocken Hochadels denken. Was gut zur Handlung nach Episoden von Ovids Metamorphosen passt, die je drei Männlein und Weiblein in solche Liebes- und Intrigenwirren schickt, dass am Ende nur noch Venus höchstpersönlich helfen kann.
Das Schöne an dem vermeintlich antiquierten Gestenvokabular ist, dass man bei den weniger göttlichen Protagonisten immer wieder das dahinter stehende Augenzwinkern spürt und ausladendere Reifröcke zu sehen glaubt. Im Zeitlupentempo und da capo geht das Taschentuch der scheinbar verzweifelten Nymphe an Stirn und Augenwinkel, um schließlich entschlossen zwischen den Brüsten zu landen.
Der Titelheld darf der komödiantische Grobian vom Dienst, ja sogar Pausenclown für die Nachstimmung der Instrumente sein. Der Bassist João Fernandes spielt und singt das überzeugend, lässt auch in seiner Mimik entfernt an Bösewichter der Peking-Oper denken. Als Schäfer Aci ist Bruno de Sá die Entdeckung des Abends: ein männlicher Sopran, der das Publikum mit seiner unglaublich weiblichen Stimme verzaubert und vermutlich auch die Königin der Nacht singen könnte.
Die Altistin Helen Rasker als Fischer Glauco und die Sopranistin Roberta Maeli als Nymphe Silla reichen fast an die gesangsartistische Spitzenleistung ihres jungen Kollegen heran, gefolgt von Roberta Invernizzi als Galatea, Liliya Gaysina als Circe und Maria Ladurners Venere, die bei der besuchten Vorstellung am Mittwoch nicht in allen ihren Nummern gleichermaßen brillieren konnten. Dennoch am Ende einhelliger großer Jubel, auch für das fabelhaft idiomatische Orchester, für Dirigentin und Regisseurin.
Termine und Karten Das „Polifemo“-Gastspiel steht nochmals heute um 19.30 Uhr auf dem Spielplan. Weitere Musica-Veranstaltungen am 6., 12. und 14. Juli; Infos und Tickets unter www.musica-bayreuth.de
Deutschlandradio sendet am 31. August ab 19.05 Uhr eine Aufzeichnung der Potsdamer „Polifemo“-Produktion. Erstdruck der Kritik im Feuilleton des Fränkischen Tags
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