Ein heißer Tipp für Schnellentschlossene

En­sem­ble­sze­ne aus „Po­li­fe­mo“ in der Pro­duk­ti­on der Mu­sik­fest­spie­le Pots­dam Sans­sou­ci mit dem sen­sa­tio­nel­len bra­si­lia­ni­schen So­pran Bru­no de Sá (rechts) Foto: Ste­fan Gloede

Dass aus­ge­rech­net in der Wag­ner­stadt seit Jahr­zehn­ten et­was klei­ner, aber umso ver­fei­ner­ter die Ba­rock­oper blüht, liegt nicht nur an der pas­sen­den Lo­ca­ti­on. Son­dern an der 1961 ge­grün­de­ten Or­gel- und Mu­sik­wo­che Bay­reuth, die sich un­ter dem Na­men Mu­si­ca Bay­reuth im Mark­gräf­li­chen Opern­haus ver­dienst­voll auch die­sem Re­per­toire wid­met – ak­tu­ell mit noch drei Opern­aben­den, ei­ner da­von noch nicht aus­ver­kauft und nur noch heu­te Abend! Ein hei­ßer Tipp für Schnell­ent­schlos­se­ne, denn Kar­ten gibt es noch, wenn auch teu­re, und das Opern­haus ist (an­ders als das Fest­spiel­haus) er­fri­schend gut klimatisiert.

Das An­fang Mai ge­star­te­te Fes­ti­val hat ne­ben mehr als zwan­zig Kon­zer­ten be­reits drei sehr un­ter­schied­li­che Opern­pro­duk­tio­nen nach Ober­fran­ken ge­bracht: Lui­gi Che­ru­bi­nis „Me­dea“ in ei­ner mo­der­nen In­sze­nie­rung des Pil­se­ner Tyl Thea­ters, ei­nen Ari­en­abend mit der stu­pen­den  So­pra­nis­tin Ju­lia Lezhne­va und die zwei­mal aus­ver­kauf­te „Zau­ber­flö­te Rel­oa­ded“, eine ra­san­te Hip-Hop-Ad­ap­ti­on für jun­ges Publikum.

Es ver­steht sich von selbst, dass man in der vor­bild­lich re­stau­rier­ten Welt­kul­tur­er­be-Kost­bar­keit zu­dem ein be­son­de­res Au­gen­merk auf die his­to­ri­sche Auf­füh­rungs­pra­xis legt. Das Gast­spiel der Mu­sik­fest­spie­le Pots­dam Sans­sou­ci mit der Opern­ra­ri­tät „Po­li­fe­mo“ von Gio­van­ni Bat­tis­ta Bo­non­ci­ni (1670–1747) am Mitt­woch und Don­ners­tag ist da­für ein Musterbeispiel.

Die Pro­duk­ti­on fei­er­te ge­ra­de erst in Sans­sou­ci Pre­mie­re, dort noch an­ge­rei­chert mit ei­ner So­na­te und ei­ner sze­ni­schen Se­re­na­ta. Was wohl doch et­was zu viel war. In Bay­reuth wur­de auf den Scar­lat­ti-Pro­log ver­zich­tet, gott­lob aber nicht auf Hän­dels frü­he So­na­ta a 5 voci in B-Dur: eine wun­der­ba­re Ein­stim­mung in das ge­nu­in ba­ro­cke Klangerlebnis.

Das 15-köp­fi­ge En­sem­ble 1700 un­ter der be­schwingt-for­schen Lei­tung sei­ner Grün­de­rin Do­ro­thee Ober­lin­ger leg­te auf au­then­ti­schen In­stru­men­ten in his­to­ri­scher Spiel­tech­nik schon ein­gangs in dun­kel fe­dern­der Ele­ganz ei­nen Ori­gi­nal­klang­tep­pich, auf dem sich der jun­ge Gei­ger Ev­ge­ny Svi­ri­dov vir­tu­os ins Ram­pen­licht spiel­te – mit ei­ner Ba­rock­gei­ge, die noch et­li­che Len­ze äl­ter ist als das 1748 er­öff­ne­te Opernhaus.

Die Pas­to­ra­le „Po­li­fe­mo“, die der Kom­po­nist spä­ter als „klei­ne Ba­ga­tel­le“ be­zeich­ne­te, ob­wohl sie sieb­zehn Ari­en, zwei Du­et­te und eine mit­rei­ßen­de Schluss­num­mer zählt, wur­de be­reits 1702 ur­auf­ge­führt – im Thea­ter des Lust­schlos­ses Lüt­zen­bourg von Kö­ni­gin So­phie Char­lot­te, eine Groß­mutter der Mark­grä­fin Wilhelmine.

Die Auf­trag­ge­be­rin des Ein­ak­ters wirk­te da­mals selbst am Cem­ba­lo mit, nebst wei­te­ren blau­blü­ti­gen Di­let­tan­ten und hoch­ran­gi­gen Be­rufs­mu­si­kern. In der In­sze­nie­rung von Mar­git Le­gler, die sich in der Aus­stat­tung von Jo­han­nes Rit­ter und ih­rer Per­so­nen­füh­rung an der Opern­pra­xis der Ent­ste­hungs­zeit ori­en­tiert, wird das un­mit­tel­bar spürbar.

Denn die über­wie­gend an­mu­tig-ar­ti­fi­zi­el­len Ges­ten und Hal­tun­gen der im Stil des frü­hen 18. Jahr­hun­derts ge­klei­de­ten Fi­gu­ren las­sen wie von selbst an Schä­fer­spie­le des ba­ro­cken Hoch­adels den­ken. Was gut zur Hand­lung nach Epi­so­den von Ovids Me­ta­mor­pho­sen passt, die je drei Männ­lein und Weib­lein in sol­che Lie­bes- und In­tri­gen­wir­ren schickt, dass am Ende nur noch Ve­nus höchst­per­sön­lich hel­fen kann.

Das Schö­ne an dem ver­meint­lich an­ti­quier­ten Ges­ten­vo­ka­bu­lar ist, dass man bei den we­ni­ger gött­li­chen Prot­ago­nis­ten im­mer wie­der das da­hin­ter ste­hen­de Au­gen­zwin­kern spürt und aus­la­den­de­re Reif­rö­cke zu se­hen glaubt. Im Zeit­lu­pen­tem­po und da capo geht das Ta­schen­tuch der schein­bar ver­zwei­fel­ten Nym­phe an Stirn und Au­gen­win­kel, um schließ­lich ent­schlos­sen zwi­schen den Brüs­ten zu landen.

João Fer­nan­des als Po­li­fe­mo und Bru­no de Sá als Aci Foto: Ste­fan Gloede

Der Ti­tel­held darf der ko­mö­di­an­ti­sche Gro­bi­an vom Dienst, ja so­gar Pau­sen­clown für die Nach­stim­mung der In­stru­men­te sein. Der Bas­sist João Fer­nan­des spielt und singt das über­zeu­gend, lässt auch in sei­ner Mi­mik ent­fernt an Bö­se­wich­ter der Pe­king-Oper den­ken. Als Schä­fer Aci ist Bru­no de Sá die Ent­de­ckung des Abends: ein männ­li­cher So­pran, der das Pu­bli­kum mit sei­ner un­glaub­lich weib­li­chen Stim­me ver­zau­bert und ver­mut­lich auch die Kö­ni­gin der Nacht sin­gen könnte.

Man darf von ei­ner Sen­sa­ti­on spre­chen, wenn ein Mann der­art zart, glo­cken­hell, un­glaub­lich ge­läu­fig und aus­drucks­stark, ja stimm­ar­tis­tisch sin­gen kann wie der So­pran Bru­no de Sà. Foto: Ste­fan Gloede

Die Al­tis­tin He­len Ras­ker als Fi­scher Glau­co und die So­pra­nis­tin Ro­ber­ta Mae­li als Nym­phe Sil­la rei­chen fast an die ge­sangs­ar­tis­ti­sche Spit­zen­leis­tung ih­res jun­gen Kol­le­gen her­an, ge­folgt von Ro­ber­ta In­ver­niz­zi als Ga­la­tea, Li­li­ya Gay­si­na als Cir­ce und Ma­ria Lad­ur­ners Ve­ne­re, die bei der be­such­ten Vor­stel­lung am Mitt­woch nicht in al­len ih­ren Num­mern glei­cher­ma­ßen bril­lie­ren konn­ten. Den­noch am Ende ein­hel­li­ger gro­ßer Ju­bel, auch für das fa­bel­haft idio­ma­ti­sche Or­ches­ter, für Di­ri­gen­tin und Regisseurin.

Ter­mi­ne und Kar­ten Das „Polifemo“-Gastspiel steht noch­mals heu­te um 19.30 Uhr auf dem Spiel­plan. Wei­te­re Mu­si­ca-Ver­an­stal­tun­gen am 6., 12. und 14. Juli; In­fos und Ti­ckets un­ter www​.mu​si​ca​-bay​reuth​.de
Deutsch­land­ra­dio sen­det am 31. Au­gust ab 19.05 Uhr eine Auf­zeich­nung der Pots­da­mer „Polifemo“-Produktion. Erst­druck der Kri­tik im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags