Ausgrabungsfieber bei den Internationalen Gluck-Festspielen: Mit der zuerst und zuletzt vor 263 Jahren aufgeführten Oper „Antigono“ in Idealbesetzung und an idealem Ort gelingt ein Höhepunkt.
Antigon-o? Nein, das O am Schluss ist kein Schreibfehler. Sondern so heißt ein Opernlibretto von Pietro Metastasio, das erstmals 1743 von Johann Adolph Hasse vertont wurde und als Barockoper eine beachtliche Karriere hingelegt hat: Innerhalb von acht Jahrzehnten brachten vermutlich weit mehr als fünfzig Komponisten ihre eigene Version heraus – darunter Christoph Willibald Gluck.
Letzterer und sein 1756 in Rom uraufgeführter „Antigono“ stehen im Mittelpunkt der Internationalen Gluck-Festspiele, die noch bis 14. Juli laufen und heuer zum siebten Mal veranstaltet werden – nach einigen Turbulenzen in den Jahren zuvor: Erst stieg das Staatstheater Nürnberg aus und damit die institutionalisierte Absicherung, dann wechselte zweimal das Führungspersonal. Nur der Hauptsponsor blieb als Konstante.
Seit April 2017 leitet Rainer Mennicken das Festival, das künftig möglichst im Zwei-Jahres-Turnus stattfinden soll. Sein erstes und ambitioniertes Programm stellte er unter das Generalthema „Neue Klänge für Europa“. Das liegt beim reisefreudigen Gluck ebenso auf der Hand wie der Sonderfokus auf Countertenören, die zu Lebzeiten des Komponisten noch echte Kastraten waren, die es – Gottlob! – heute nicht mehr braucht.
Von den aktuellen Superstars waren beziehungsweise sind mit Max Emanuel Cencic, Philippe Jaroussky und Valer Sabadus gleich drei vertreten, dazu etliche weitere Counter mit Potenzial und weibliche Barockspezialistinnen von Rang. Nicht zu vergessen die namhaften historisch informierten Klangkörper aus Athen, Halle und Zürich.
Das Programm umfasst diesmal über dreißig Veranstaltungen in Bayreuth, in Glucks Geburtstort Berching im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz, in Erlangen, Fürth, Lauf, Neumarkt und natürlich in Nürnberg, das sich als Europäische Kulturhauptstadt für das Jahr 2025 bewerben will. Dazu passt, dass Mennicken generell den Menschen der Metropolregion vermitteln möchte, „was für ein Pfund sie mit Gluck vor ihrer Haustür haben“.
Mit der deutschen Erstaufführung von Glucks „Antigono“ in Bayreuth ist das voll gelungen. Die Oper, die seit dem römischen Premierenjahr nie mehr gespielt wurde und erst 2008 in der historisch-kritischen Gluck-Gesamtausgabe veröffentlicht wurde, ist eine Ausgrabung, die sich gelohnt hat. Und sie wurde mit einer Solistenbesetzung realisiert, die man nur als glückhaft, wenn nicht gar als ideal bezeichnen muss.
Anders als in der Uraufführung, die mit einem Tenor und fünf Kastraten besetzt war, bot die konzertante, aber durchaus lebendige Produktion in Bayreuth neben dem lyrischen Tenor Mauro Peter in der Titelrolle mit Anna Kasyan als Berenice und Francesca Lombardi Mazzulli Ismene auch zwei weibliche Sopranistinnen mit großartigen Ausdrucksmöglichkeiten auf – und immerhin drei Counter.
Der als Altus einzustufende Terry Wey – in Bayreuth kein Unbekannter, denn er wirkte 2018 im „Verschwundenen Hochzeiter“ mit, einer Uraufführung der Bayreuther Festspiele – war ein handfester Clearco. Valer Sabadus sang gestenreich und in weicher Mezzolage den Alessandro. Und der 1993 geborene Venezolaner Samuel Marino als Demetrio erwies sich sensationeller Sopran, der das dreigestrichene D erreicht und äußerlich an den jungen Gustavo Dudamel erinnert.
Um mit Pause auf gut drei Stunden Aufführungsdauer zu kommen, hatte Michael Hofstetter, der musikalische Leiter, vor allem bei den Rezitativen gestrichen und das traumhaft schöne Duett, das Mozart an Herzens- und Seelentiefe in nichts nachsteht, und die zwanzig Arien, von denen Gluck viele aus guten Gründen für spätere Werke wieder verwendete, in der Substanz gehalten.
Das Händelorchester Halle zeigte sich bei der Aufführung am Samstag engagiert, idiomatisch versiert und spielsicher – bis auf die Naturhörner, die naturgemäß eine Schwachstelle in jedem Barockorchester sind. Unter ihrem agilen Dirigenten zauberten die achtundzwanzig Musiker mit ihren historischen Instrumenten so plastische Farbnuancen, dass einem Begriffe aus der Malerei wie Chiaroscuro und Sfumato in den Sinn kommen konnten.
Und zuweilen steigerte sich der Klang so mächtig, dass man den rasenden Roland schon vor sich sah: Glucks „Antigono“- Musik drückt eben Hass, Liebe und Verzweiflung in allen Stärkegraden aus. Das Publikum, das die Aufführung dank der Kooperation mit der Musica Bayreuth an idealem Ort, sprich im Markgräflichen Opernhaus erleben durfte, war hingerissen.
Und bei aller Kostbarkeit des Raumes mit seiner wunderbaren Akustik stellte sich die Erkenntnis ein, dass das Kostbarste eben doch das Immaterielle war und ist – die Musik mit den perfekt ausgewählten Stimmen, die jede für sich genommen mindestens einen, wenn nicht mehrere Barockhimmel aufzureißen vermochte. Wer will, kann das vielleicht am 24. August nachvollziehen. Um 20.05 Uhr sendet BR Klassik eine Aufzeichnung der Aufführung.
Besuchte Deutsche Erstaufführung am 6. Juli 2019, Erstdruck im Feuilleton des Fränkischen Tags, Infos und Tickets zu den Gluck-Festspielen unter www.gluck-festspiele.de.
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