Glück mit Gluck

Aus­gra­bungs­fie­ber bei den In­ter­na­tio­na­len Gluck-Fest­spie­len: Mit der zu­erst und zu­letzt vor 263 Jah­ren auf­ge­führ­ten Oper „An­ti­go­no“ in Ide­al­be­set­zung und an idea­lem Ort ge­lingt ein Höhepunkt.

Die Ide­al­be­set­zung von links: Mau­ro Pe­ter (An­ti­go­no), Sa­mu­el Ma­ri­no (De­me­trio), Anna Ka­syan (Be­re­nice), Fran­ce­s­ca Lom­bar­di Maz­zul­li (Is­me­ne), Va­ler Sa­badus (Ales­san­dro) und Ter­ry Wey (Cle­ar­co) Foto: Jut­ta Missbach

An­ti­gon-o? Nein, das O am Schluss ist kein Schreib­feh­ler. Son­dern so heißt ein Opern­li­bret­to von Pie­tro Me­tasta­sio, das erst­mals 1743 von Jo­hann Adolph Has­se ver­tont wur­de und als Ba­rock­oper eine be­acht­li­che Kar­rie­re hin­ge­legt hat: In­ner­halb von acht Jahr­zehn­ten brach­ten ver­mut­lich weit mehr als fünf­zig Kom­po­nis­ten ihre ei­ge­ne Ver­si­on her­aus – dar­un­ter Chris­toph Wil­li­bald Gluck.

Letz­te­rer und sein 1756 in Rom ur­auf­ge­führ­ter „An­ti­go­no“ ste­hen im Mit­tel­punkt der In­ter­na­tio­na­len Gluck-Fest­spie­le, die noch bis 14. Juli lau­fen und heu­er zum sieb­ten Mal ver­an­stal­tet wer­den – nach ei­ni­gen Tur­bu­len­zen in den Jah­ren zu­vor: Erst stieg das Staats­thea­ter Nürn­berg aus und da­mit die in­sti­tu­tio­na­li­sier­te Ab­si­che­rung, dann wech­sel­te zwei­mal das Füh­rungs­per­so­nal. Nur der Haupt­spon­sor blieb als Konstante.

Seit April 2017 lei­tet Rai­ner Men­ni­cken das Fes­ti­val, das künf­tig mög­lichst im Zwei-Jah­res-Tur­nus statt­fin­den soll. Sein ers­tes und am­bi­tio­nier­tes Pro­gramm stell­te er un­ter das Ge­ne­ral­the­ma „Neue Klän­ge für Eu­ro­pa“. Das liegt beim rei­se­freu­di­gen Gluck eben­so auf der Hand wie der Son­der­fo­kus auf Coun­ter­te­nö­ren, die zu Leb­zei­ten des Kom­po­nis­ten noch ech­te Kas­tra­ten wa­ren, die es – Gott­lob! – heu­te nicht mehr braucht.

Von den ak­tu­el­len Su­per­stars wa­ren be­zie­hungs­wei­se sind mit Max Ema­nu­el Cen­cic, Phil­ip­pe Ja­rouss­ky und Va­ler Sa­badus gleich drei ver­tre­ten, dazu et­li­che wei­te­re Coun­ter mit Po­ten­zi­al und weib­li­che Ba­rock­spe­zia­lis­tin­nen von Rang. Nicht zu ver­ges­sen die nam­haf­ten his­to­risch in­for­mier­ten  Klang­kör­per aus Athen, Hal­le und Zürich.

Das Pro­gramm um­fasst dies­mal über drei­ßig Ver­an­stal­tun­gen in Bay­reuth, in Glucks Ge­burtst­ort Ber­ching im Land­kreis Neu­markt in der Ober­pfalz, in Er­lan­gen, Fürth, Lauf, Neu­markt und na­tür­lich in Nürn­berg, das sich als Eu­ro­päi­sche Kul­tur­haupt­stadt für das Jahr 2025 be­wer­ben will. Dazu passt, dass Men­ni­cken ge­ne­rell den Men­schen der Me­tro­pol­re­gi­on ver­mit­teln möch­te, „was für ein Pfund sie mit Gluck vor ih­rer Haus­tür haben“.

Mit der deut­schen Erst­auf­füh­rung von Glucks „An­ti­go­no“ in Bay­reuth ist das voll ge­lun­gen. Die Oper, die seit dem rö­mi­schen Pre­mie­ren­jahr nie mehr ge­spielt wur­de und erst 2008 in der his­to­risch-kri­ti­schen Gluck-Ge­samt­aus­ga­be ver­öf­fent­licht wur­de, ist eine Aus­gra­bung, die sich ge­lohnt hat. Und sie wur­de mit ei­ner So­lis­ten­be­set­zung rea­li­siert, die man nur als glück­haft, wenn nicht gar als ide­al be­zeich­nen muss.

An­ders als in der Ur­auf­füh­rung, die mit ei­nem Te­nor und fünf Kas­tra­ten be­setzt war, bot die kon­zer­tan­te, aber durch­aus le­ben­di­ge Pro­duk­ti­on in Bay­reuth ne­ben dem ly­ri­schen Te­nor Mau­ro Pe­ter in der Ti­tel­rol­le mit Anna Ka­syan als Be­re­nice und Fran­ce­s­ca Lom­bar­di Maz­zul­li Is­me­ne auch zwei weib­li­che So­pra­nis­tin­nen mit groß­ar­ti­gen Aus­drucks­mög­lich­kei­ten auf – und im­mer­hin drei Counter.

Coun­ter­star Va­ler Sa­badus (links) und Ter­ry Wey Foto: Jut­ta Missbach

Der als Alt­us ein­zu­stu­fen­de Ter­ry Wey – in Bay­reuth kein Un­be­kann­ter, denn er wirk­te 2018 im „Ver­schwun­de­nen Hoch­zei­ter“ mit, ei­ner Ur­auf­füh­rung der Bay­reu­ther Fest­spie­le – war ein hand­fes­ter Cle­ar­co. Va­ler Sa­badus sang ges­ten­reich und in wei­cher Mez­zo­la­ge den Ales­san­dro. Und der 1993 ge­bo­re­ne Ve­ne­zo­la­ner Sa­mu­el Ma­ri­no als De­me­trio er­wies sich sen­sa­tio­nel­ler So­pran, der das drei­ge­stri­che­ne D er­reicht und äu­ßer­lich an den jun­gen Gustavo Du­da­mel erinnert.

Sa­mu­el Ma­ri­no und Anna Ka­syan bei ih­rem Du­ett Foto: Jut­ta Missbach

Um mit Pau­se auf gut drei Stun­den Auf­füh­rungs­dau­er zu kom­men, hat­te Mi­cha­el Hof­stet­ter, der mu­si­ka­li­sche Lei­ter, vor al­lem bei den Re­zi­ta­ti­ven ge­stri­chen und das traum­haft schö­ne Du­ett, das Mo­zart an Her­zens- und See­len­tie­fe in nichts nach­steht, und die zwan­zig Ari­en, von de­nen Gluck vie­le aus gu­ten Grün­den für spä­te­re Wer­ke wie­der ver­wen­de­te, in der Sub­stanz gehalten.

Sa­mu­el Ma­ri­no und Anna Ka­syan bei ih­rem Du­ett Foto: Jut­ta Missbach

Das Hän­de­l­or­ches­ter Hal­le zeig­te sich bei der Auf­füh­rung am Sams­tag en­ga­giert, idio­ma­tisch ver­siert und spiel­si­cher – bis auf die Na­tur­hör­ner, die na­tur­ge­mäß eine Schwach­stel­le in je­dem Ba­rock­or­ches­ter sind. Un­ter ih­rem agi­len Di­ri­gen­ten zau­ber­ten die acht­und­zwan­zig Mu­si­ker mit ih­ren his­to­ri­schen In­stru­men­ten so plas­ti­sche Farb­nu­an­cen, dass ei­nem Be­grif­fe aus der Ma­le­rei wie Chia­ros­cu­ro und Sfu­ma­to in den Sinn kom­men konnten.

Und zu­wei­len stei­ger­te sich der Klang so mäch­tig, dass man den ra­sen­den Ro­land schon vor sich sah:  Glucks „An­ti­go­no“- Mu­sik drückt eben Hass, Lie­be und Ver­zweif­lung in al­len Stär­ke­gra­den aus. Das Pu­bli­kum, das die Auf­füh­rung dank der Ko­ope­ra­ti­on mit der Mu­si­ca Bay­reuth an idea­lem Ort, sprich im Mark­gräf­li­chen Opern­haus er­le­ben durf­te, war hingerissen.

Und bei al­ler Kost­bar­keit des Rau­mes mit sei­ner wun­der­ba­ren Akus­tik stell­te sich die Er­kennt­nis ein, dass das Kost­bars­te eben doch das Im­ma­te­ri­el­le war und ist – die Mu­sik mit den per­fekt aus­ge­wähl­ten Stim­men, die jede für sich ge­nom­men min­des­tens ei­nen, wenn nicht meh­re­re Ba­rock­him­mel auf­zu­rei­ßen ver­moch­te. Wer will, kann das viel­leicht am 24. Au­gust nach­voll­zie­hen. Um 20.05 Uhr sen­det BR Klas­sik eine Auf­zeich­nung der Aufführung.

Be­such­te Deut­sche Erst­auf­füh­rung am 6. Juli 2019, Erst­druck im Feuil­le­ton des Frän­ki­schen Tags, In­fos und Ti­ckets zu den Gluck-Fest­spie­len un­ter www​.gluck​-fest​spie​le​.de.