Patrice Chéreau, Regisseur des legendären „Jahrhundert-Rings“ in Bayreuth, wäre heute 75 Jahre alt geworden. Er wurde am 2. November 1944 im französischen Lézigné geboren.
Von all den wichtigen Sätzen, die der Film-, Opern- und Theaterregisseur Patrice Chéreau gesagt hat, sei eingangs einer zitiert, dessen Bedeutung vielen womöglich erst nach dem Krebstod des großen und genialen Künstlers am 7. Oktober 2013 aufgegangen sein dürfte. Im Interview mit Stephan Mösch in der Fachzeitschrift Opernwelt bekannte Chéreau im Jahr 2005: „Was ich grundsätzlich ablehne, ist allerdings, filmische Bilder auf der Opernbühne zu zeigen. Das bringt nichts. Intimität in der Oper entsteht auf völlig andere Weise als im Kino.“
Das stellte wohlgemerkt ein Szeniker fest, der für seine Filme – darunter Die Bartolomäusnacht (1994) und Intimacy (2001) – auf den Festivals von Cannes und Berlin Hauptpreise abräumte und immer wieder und mehrfach mit dem César ausgezeichnet wurde. Auch als Schauspieler und Schauspiel-Regisseur war Chéreau überaus erfolgreich: Als 22-Jähriger war er bereits Chef eines Pariser Theaters, weitere Leitungsfunktionen und sein erster Spielfilm folgten.
Mit einem Schlag weltberühmt wurde er als Regisseur der Ring-Tetralogie von Richard Wagner zum Zentenarium der Bayreuther Festspiele 1976. Dirigent Pierre Boulez hatte ihn vorgeschlagen, nachdem Peter Stein von der Berliner Schaubühne abgesagt hatte. Zuvor hatte Chéreau mit L’Italiana in Algeri beim Festival in Spoleto (1969) und mit Les contes d’Hoffmann in Paris (1974) nur zwei Opern inszeniert. Bei den Ring-Premieren, die mit Sicherheit der größte Opernskandal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren, zählte er noch keine 32 Jahre.
Mit dieser Inszenierung schrieb er Theatergeschichte. Chéreau und sein Team (Bühne: Richard Peduzzi, Kostüme: Jacques Schmidt) wurden, wie er selbst es sah, zwar erst im zweiten Aufführungsjahr richtig fertig. Aber indem er die Handlung eben nicht im damals üblichen „zeitlosen Mythos“, sondern mit sehr realen Figuren in der Entstehungszeit des Werks ansiedelte, wirkte sie plötzlich hoch politisch. Das brachte das konservative Wagner-Publikum aus dem Häuschen. Fein gekleidete Bildungsbürger brüllten und schrien plötzlich wie auf dem Fußballplatz, verteilten nicht nur Pamphlete, sondern artikulierten ihre Ablehnung im Zuschauerraum mit Trillerpfeifen. Die mäzenatische „Gesellschaft der Freunde“ wollte Festspielleiter Wolfgang Wagner mit einer Millionenspende zur Absetzung der Produktion bewegen, 1977 gab es sogar eine konkrete Morddrohung gegen Chéreau.
Beim dritten Ring-Zyklus 1977 ergab sich für die erbitterten Gegner auch noch die einmalige Gelegenheit, Chéreau selbst direkt auf der Bühne zu stellen: Siegfried-Titelprotagonist René Kollo hatte sich ein Bein gebrochen, konnte aber singen, der Regisseur sprang als Siegfried-Darsteller ein. Ich werde nie den lang anhaltenden, ohrenbetäubenden Lärm vergessen, den ein Teil des angeblich gesitteten Bayreuth-Publikums machte, als am 20. August 1977 Chéreau als Siegfried samt Bär seinen ersten Auftritt hatte. Ein Dirigent mit weniger guten Nerven hätte abgebrochen, aber Pierre Boulez dirigierte einfach weiter, bis sich die Brüller im Auditorium wieder beruhigt hatten. Der Essayist, Kritiker und Schriftsteller Friedrich Dieckmann beschrieb die legendäre Vorstellung unter anderem wie folgt:
Kollo, von allem Szenischen entlastet, sang strahlend schön, und der Regisseur, sich mit Tapferkeit ins eigene Werk werfend, bestand die Gratwanderung mit Bravour – nicht sowohl als Schauspieler, der er von Haus aus ist, denn als Darsteller eines Opernsängers. Obwohl nur gelegentlich Mundbewegungen markierend, geriet sein Spiel nicht ins Pantomimisch-Choreographische, sondern eine zunehmend dichte Synchronisation begab sich zwischen der tönenden Stimme und der spielenden Figur; sie legte die waghalsige Aufspaltung geradezu als Modell nahe, das heißt zur Nachahmung unter weniger improvisierten Bedingungen. Wobei man annehmen kann, dass Kollo auch für sich allein herausgebracht hätte, was Chéreau mit der Figur im Sinn hatte.
Aber nun erfuhr man das eben aus erster Hand, von einem mit Charme und Feuer begabten Theatergenius, den die Verkettung der Umstände in den Fall gebracht hatte zu spielen, was er ist: ein geborener Drachentöter, den Wotanen aller Schattierungen heiter auf die langen Mäntel tretend und, wenn der Alte denn gar nicht aus dem Weg geht, die eingegrabenen Runen notfalls zerschlagend, die dieser ihm unter die Nase hält: sie stimmen nicht mehr, so halten sie auch nicht stand. Chéreaus Siegfried – und wer hätte das diesem Naturkind aus der Retorte, Homunculo teils aus Rousseaus, teils aus Bakunins Küche, angesehen – ist eine Identifikationsgestalt; sie ist, wenn man so will (das ist das Schöne an diesem Inszenator: man muss nichts annehmen, man kann; er drängt nicht auf, sondern stellt anheim, leiht einer Figur Züge der Wirklichkeit, aber legt sie nicht darauf fest; der Zuschauer muss arbeiten, er muss die Dinge bei sich selbst fertigmachen) – sie ist Jugend von heute, mit ihren erquicklichen und ihren unerquicklichen Seiten, mit ihrer Unbefangenheit und ihrer Kraftmeierei, ihrer Geschichtslosigkeit und ihrer Autoritätsverachtung (ihrem fehlenden Sinn für Autorität, Tradition, Weisheit der Alten), mit der lärmenden Gutmütigkeit und einem Hang zur Gewalttätigkeit. […]
Noch eins wird, wie eine Probe aufs Exempel, an dem Doppelungsexperiment deutlich: dass jene Fundamentaleinsicht künstlerisch relevanter Operndarstellung, die Figuren als singende Menschen, nicht als kostümierte Stimmcharaktere aufzufassen, davon entfernt ist, den singenden Schauspieler zu prätendieren. Der nichtsingende Siegfried-Darsteller Chéreau war wie dazu geschaffen, diesen Verdacht aus der Welt zu räumen; was er dem abgesonderten Gesang zuordnete, war weder Schauspiel noch Pantomime noch Ausdruckstanz, sondern das zwischen alledem, was Operndarstellung ihrer Natur nach ist.
1980, nach fünf Festspielsommern, in denen Patrice Chéreau bei fast allen Ring-Aufführungen hinter den Kulissen präsent war, weiter mit den Sängerdarstellern an Details feilte und sich selbst um die Nebelmaschine kümmerte, wurde der „Jahrhundert-Ring“ mit legendären 101 Vorhängen verabschiedet. Der Schlussbeifall nach der Götterdämmerung dauerte eineinhalb Stunden.
Auch das nächste Opernprojekt war außergewöhnlich: Mit Pierre Boulez am Pult hob Chéreau 1979 in Paris Alban Bergs Lulu in der dreiaktigen Version von Friedrich Cerha aus der Taufe. Während er im Schauspielfach und teils auch selbst als Darsteller zum zentralen Interpreten der Werke des Dramatikers Bernard-Marie Koltès wird und weiter Filme dreht, widmet er sich dem Musiktheater nur sparsam. Die meisten seiner Opernarbeiten sind Kooperationen und werden – jeweils von ihm persönlich betreut – an mehreren internationalen großen Häusern und Festivals gezeigt: Mozarts Lucio Silla, Don Giovanni und Così fan tutte, Bergs Wozzeck, Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus und Wagners Tristan und Isolde. Mit der Sängerin Waltraud Meier inszeniert er 2010 im Louvre außerdem Wagners Wesendonck-Lieder, seine letzte Premiere erlebt er mit Elektra von Richard Strauss in Aix en Provence 2013.
Wer Chéreau-Inszenierungen kennt, wird unterschreiben, was er selbst als Konstante in seinen Arbeiten bezeichnete: „Was mich interessiert, sind Dinge wie Begehren, Liebe, Körper, Sehnsucht und die unendlich feinen Facetten, die sich damit verbinden.“ Ob sein Ring der Auslöser für das sogenannte Regietheater war, sei dahingestellt. „Wenn ich höre“, sagte er Christine Lemke-Matwey vom Berliner Tagesspiegel, „dass manche junge Leute heute in Libretti eingreifen und in Partituren Dinge verändern, wenn ich höre, dass alles nur noch Dekonstruktion sein soll, dann kann ich persönlich damit nichts anfangen, pardon.“ Denn: „Es gibt viele Ausreden für schlechtes Theater. Es geht hier nicht um Werktreue, es geht darum, ob ich als Regisseur, als Interpret, weiß, was ich mit einer Geschichte, einem Text sagen will – und wie ich es sagen muss, damit es mein Publikum erreicht.“
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