Weihnachten war in Richard Wagners letztem Lebensabschnitt eigentlich ein Doppelfest, denn auch Cosimas Geburtstag fiel auf den 24. Dezember. Damit beide Feste zu ihrem Recht kamen, wurde Weihnachten an Heilig Abend und Cosimas Geburtstag erst am 25. Dezember gefeiert.
Schon im ersten Tagebucheintrag Cosimas vom 1. Januar 1869 spiegelt sich, dass das Weihnachtsfest in der neuen Wagner’schen Patchworkfamilie in Tribschen seine festen Abläufe hat, wobei die Kinder intensiv einbezogen werden. Die Vorbereitungen, brieflichen Bestellungen und Einkäufe starten zum Teil bereits Monate zuvor, in den Wochen vorher werden Nüsse und Äpfel vergoldet, Weihnachtsnamen gemalt, Gebete, Lieder und Weihnachtsverse entworfen, auswendig gelernt und einstudiert. Am 11. Dezember 1869 notiert Cosima: „Wir beschließen den Knecht Ruprecht und das Christkindchen zu Weihnachten.“ Was das heißt, wird vier Tage später klar: „Das Christkindchen kam, ein ganz armes Mädchen aus Bamberg, wir wollen es schön ankleiden, daß es nach dem Knecht Ruprecht die Kinder ruft, und es dann auch bescheren.“ Der Ablauf des 24. Dezembers vor 150 Jahren ist wie folgt beschrieben:
Großes Arrangement. Alle Namen (des ganzen Hauses) habe ich sorgfältig gemalt und sie in der Stube verteilt. Es galt, ohne Tische die Bescherung zu Stande zu bringen. Professor Nietzsche kommt am Morgen und hilft mir, das Puppentheater mit Iftekhar herzurichten. Nachmittags muß ich noch einiges besorgen, während dem macht R. die Probe von Knecht Ruprecht und Christkindchen. Ich komme heim, es wird begonnen. Ich mit dem Professor bei den Kindern, fordere Loulou auf, den „Kampf mit dem Drachen“ vorzusagen um ihre Geisteskräfte in Anspruch zu nehmen; sie sagt es bis zum das Kirchlein kennst du, Herr, da tritt Hermine herein und sagt, sie habe so brüllen hören, plötzlich ist unser Knecht Ruprecht da und brüllt; furchtbarer Schrecken der Kinder, R. besänftigt ihn allmählich, er wirft seine Nüsse aus, großer Jubel der Kinder. Während sie aufklauben, steht das Christkindchen glänzend beleuchtet da. Stillschweigend folgt das ganze Haus, ich voran mit den Kindern; das Christkindchen winkt mit dem Baum und wandelt langsam die Treppe hinunter, es verschwindet durch die Galerie, die Kinder, verblendet von dem Glanz des Baumes und der Spielsachen, sehen es nicht verschwinden. Nach der Bescherung bete ich vor dem ausgelöschten Baum mit den Kindern.
Noch in der selben Nacht entwirft Cosima ein Gebet und Weihnachtsverse, das sie in Reinschrift am Ende des ersten Tagebuch-Quartheftes dokumentiert. Es lautet:
Liebes Christkindchen, Du bist zu uns gekommen und hast uns beglückt, wir danken Dir, indem wir an alle Unglücklichen denken und Dich herzlich bitten, an diesem Abend sie heimzusuchen und zu segnen. Den armen Hungrigen, die kalt und dunkel haben, schenke Deine Nahrung und Dein Himmelreich, den Armen, die ohne Freund, allein sind und weinen, bringe Deinen Trost und sage, daß sie selig sind, die Kinderchen grüße, denen keine Mutter den Baum anzündet, und sage ihnen, daß Du ihr bester Freund bist. Wie Du uns die vielen Lichterchen beschert hast, schenke allen Dein großes Licht, daß sie sich glücklich fühlen wie wir.
Die Kerzen am Weihnachtsbaum werden zwei Mal angezündet: am 24. Dezember und an Silvester. Cosimas Geburtstag wird immer erst am 25. Dezember gefeiert, mit der Gratulation der Kinder, Kränzen und Gesang. Und außergewöhnlichen Geschenken Wagners. Zum Beispiel erhält sie von ihm 1868 einige Reinschriften seiner frühen französischen Lieder, darunter das Lied „Der Tannenbaum“ für Singstimme und Klavier in es-Moll (Wagner-Werkverzeichnis Nr. 50) auf den Text von Georg Scheurlin, sowie „Dors mon enfant“ (WWV 53), „Attente“ (WWV 55) und „Mignonne“ (WWV 57).
Eines dieser weihnachtliches Geburtstagsgeschenke ist sogar aus gutem Grund in die Musikgeschichte eingegangen: das Cosima gewidmete „Siegfried-Idyll“, zunächst als „Tribschener Idyll“ betitelt. Dreizehn Musiker des Zürcher Tonhalle-Orchesters und Hans Richter (Bratsche und Trompete) führten es unter der Leitung Richard Wagners am 25. Dezember 1870 im Treppenhaus von Tribschen erstmals auf. Die kleine kammermusikalische Besetzung ist der räumlichen Beschränktheit in dem Landhaus geschuldet; bei späteren Aufführungen vor ausgewähltem Publikum 1871 in Mannheim und 1877 in Meiningen sind deutlich mehr Streicher beteiligt. Cosima beschreibt die Uraufführung:
Von diesem Tag, meine Kinder, kann ich euch nichts sagen, nichts von meinen Empfindungen, nichts von meiner Stimmung, nichts, nichts. Dürr und trocken will ich euch nur sagen, was geschah: Wie ich aufwachte, vernahm mein Ohr einen Klang, immer voller schwoll er an, nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen, Musik erschallte, und welche Musik! Als sie verklungen, trat R. mit den fünf Kindern zu mir ein und überreichte mir die Partitur des „Symphonischen Geburtstagsgrußes“, in Tränen war ich, aber auch das ganze Haus; auf der Treppe hatte R. sein Orchester gestellt und so unser Tribschen auf ewig geweiht! Die „Tribscher Idyll“ so heißt das Werk. – – –
Die Idylle erklang an diesem Tag sogar noch zwei weitere Male, „zu unserer aller Erschütterung“. Cosima weiter: „Nun begriff ich R.’s heimliches Arbeiten, nun auch des guten Richter’s Trompete (er schmetterte das Siegfried-Thema prachtvoll und hatte eigens dazu Trompete gelernt), die ihm viele Ermahnungen von mir zugezogen hat. ‚Laß mich sterben‘, rief ich R. [zu]. ‚Es war leichter, für mich zu sterben als für mich zu leben‘, erwiderte er mir.“
Eine neuerliche Aufführung im Familienkreis folgt nachweislich am 25. Dezember 1874, in der Villa Wahnfried in Bayreuth, zusammen mit der zweiten Fassung des Kinderkatechismus (WWV 106b). Im Jahr zuvor lief der Heiligabend bei den Wagners, die damals in Bayreuth noch in der Dammallee wohnen, wie folgt ab:
Mittwoch 24ten Viel Schaffen von früh bis fünf Uhr Nachmittag; einzige Unterbrechung der Mittagstisch, wo das Gespräch auf die „Wahlverwandtschaften“ kam. […] Ich muß bei seiner Besprechung des Buches in Tränen zerfließen, unser Schicksal schwebt an uns vorüber, uns umarmend preisen wir die Gottheit, die uns zusammenführt. „Dort starb ein Kind, hier wurde eines geboren“, sagen wir dann heiter. Um 5 1/2 Uhr Bescherung; auch mir beschert R. gar Schönes, von Chaillou Hausprächtigkeiten, und freut sich, daß sie mir stehen und gefallen. Der Baum, hoch und breit, leuchtet lange, alles ist heiter und froh; nachdem er erloschen ist, lesen wir im „Hyperion“ […] Indem wir von diesem Tage scheiden, überkommt mich das Bewußtsein meines Glückes mit unüberwindlicher Macht, R. und ich, wir müssen das Schicksal preisen, das uns zusammengeführt; ich kann das Wunder nicht begreifen, von ihm geliebt zu sein. Wie ein öder leerer und doch wirrer Traum dünkt mich mein früheres Dasein, nun fand ich alles, und selbst das Leiden ist mir ein Zeichen meines Glückes!
Am Weihnachtstag 1873 um 8 Uhr morgens singen die Kinder mit Klavierbegleitung dann erstmals den Kinder-Katechismus (WWV 106). In ihr Tagebuch notiert Cosima:
Donnerstag 25ten Am frühen Morgen höre ich die Kinder in der Nebenstube, sie singen das Kose- und Rosenlied – so rührend, so ergreifend, darauf kommen sie an mein Bett, und Siegfried sagt mir das Gedicht! Tiefste Empfindung des Glückes, alles Äußere schweigt, alles Innere spricht, tausend Stimmen jauchzen in der Seele, das Liebeslied jubelnd, wie im Lenz tausend Vögel, das eine Lied. – Die Sonne scheint, ich bitte R., mich zum Theater zu führen, er tut es; die Bretter versperren den Eingang zur Bühne, kein Wächter ist da, ich klettere – trotz Samt und Atlas-Pracht –, und unter großem Lachen gelingt es mir, in die Bühnen-Halle zu treten; grandioser Eindruck, wie ein assyrischer Bau erhebt sich das Ganze unbeschränkt, wie Sphinxe reihen sich unten die Pfeiler aneinander, wie geheimnisvolle Gänge breiten sich die Seitenflügel aus; mehr wie Vergangenheit als wie Zukunft scheint das Ganze, doch wirkt es großartig erheiternd heute auf mich. Von der Bühne gehen wir dann zu dem Zuschauerraum, erhaben wirkt der Eintritt, was keine Erziehung dem Zuschauer gewährt; [wie] die Vorbereitung zum Mysterium wird in einem Augenblick der Eintritt in diesen Raum wirken. – Mittagessen mit den Kindern, Lusch unwohl, R. stimmt beim Champagner das Lied an: „Sagt mir Kinder!“ – Vor Tisch, nach dem Besuch des Theaters, waren wir noch zum neuen Hause gegangen und waren beide, R. und ich, im Treibhause gewandelt; Freude an den schönen Pflanzen, träumerische Heiterkeit; alles für die Kinder genießend, für uns beide genügte die Gruft, würde kein Besitz sich schicken; sich zu finden, alles sich zu sein und zusammen zu bleiben im Leben oder im Tode, das war es – da kam Mein Herre Siegfried! … „Den hätten am Ende Eduard und Ottilie auch zu Stande gebracht“, scherzt R. Abends bitte ich ihn, das Idyll mir zu spielen, wir gedenken des Morgens in Tribschen, dann der Tristan-Zeit in München, aller Wonne und alles Wehes, wir trennen uns, ich mit Gewalt die überströmende Rührung zurückdrängend, das Idyll und das Koselied unter mein Kopfkissen legend, sanftem Entschlummern mich hingebend. Ein glücklicher Tag. – Nicht wie Goethe geht es mir, daß nur vier Wochen des Glückes ich kenne, mein Leben, mein Los ist ein Glück, das Dasein mit seinen Qualen überleuchtend – Stern der Tiefe! – – –
Übrigens sind auch die beiden letzten Nummern im Wagner-Werkverzeichnis Weihnachts- bzw. Cosima-Kompositionen: am 24. Dezember 1877 sangen Cosimas Kinder, von ihrem Vater bzw. Stiefvater am Flügel begleitet, in der Villa Wahnfried erstmals das Lied „Willkommen in Wahnfried, du heil’ger Christ“ (WWV 112). Und am 25. Dezember 1880 durften sie mit dem scherzhaften Lied „Ihr Kinder, geschwinde, geschwinde“ (WWV 113) Wagners Geschenk zu Cosimas 43. Geburtstag ankündigen, eine 1830 von Wagner angefertigte Abschrift der IX. Symphonie Beethovens.
Erstveröffentlichung in dem Blog „Mein Wagner-Jahr“ 2013 auf www.infranken.de
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