Weihnachten bei Wagners

Weih­nach­ten war in Ri­chard Wag­ners letz­tem Le­bens­ab­schnitt ei­gent­lich ein Dop­pel­fest, denn auch Co­si­mas Ge­burts­tag fiel auf den 24. De­zem­ber. Da­mit bei­de Fes­te zu ih­rem Recht ka­men, wur­de Weih­nach­ten an Hei­lig Abend und Co­si­mas Ge­burts­tag erst am 25. De­zem­ber gefeiert.

Im Wag­ner-Werk­ver­zeich­nis (WWV) hat das Lied „Der Tan­nen­baum“ von 1838 die Num­mer 50. Wag­ner schenk­te die drit­te Rein­schrift von 1868 zu­sam­men mit wei­te­ren frü­hen Lie­dern am 25. De­zem­ber 1868 an Co­si­ma von Bülow zu de­ren 31. Ge­burts­tag. Vor­la­ge: Schott Ver­lag, Mainz

Schon im ers­ten Ta­ge­buch­ein­trag Co­si­mas vom 1. Ja­nu­ar 1869 spie­gelt sich, dass das Weih­nachts­fest in der neu­en Wagner’schen Patch­work­fa­mi­lie in Trib­schen sei­ne fes­ten Ab­läu­fe hat, wo­bei die Kin­der in­ten­siv ein­be­zo­gen wer­den. Die Vor­be­rei­tun­gen, brief­li­chen Be­stel­lun­gen und Ein­käu­fe star­ten zum Teil be­reits Mo­na­te zu­vor, in den Wo­chen vor­her wer­den Nüs­se und Äp­fel ver­gol­det, Weih­nachts­na­men ge­malt, Ge­be­te, Lie­der und Weih­nachts­ver­se ent­wor­fen, aus­wen­dig ge­lernt und ein­stu­diert. Am 11. De­zem­ber 1869 no­tiert Co­si­ma: „Wir be­schlie­ßen den Knecht Ru­precht und das Christ­kind­chen zu Weih­nach­ten.“ Was das heißt, wird vier Tage spä­ter klar: „Das Christ­kind­chen kam, ein ganz ar­mes Mäd­chen aus Bam­berg, wir wol­len es schön an­klei­den, daß es nach dem Knecht Ru­precht die Kin­der ruft, und es dann auch be­sche­ren.“ Der Ab­lauf des 24. De­zem­bers vor 150 Jah­ren ist wie folgt beschrieben:

Gro­ßes Ar­ran­ge­ment. Alle Na­men (des gan­zen Hau­ses) habe ich sorg­fäl­tig ge­malt und sie in der Stu­be ver­teilt. Es galt, ohne Ti­sche die Be­sche­rung zu Stan­de zu brin­gen. Pro­fes­sor Nietz­sche kommt am Mor­gen und hilft mir, das Pup­pen­thea­ter mit If­tek­har her­zu­rich­ten. Nach­mit­tags muß ich noch ei­ni­ges be­sor­gen, wäh­rend dem macht R. die Pro­be von Knecht Ru­precht und Christ­kind­chen. Ich kom­me heim, es wird be­gon­nen. Ich mit dem Pro­fes­sor bei den Kin­dern, for­de­re Lou­lou auf, den „Kampf mit dem Dra­chen“ vor­zu­sa­gen um ihre Geis­tes­kräf­te in An­spruch zu neh­men; sie sagt es bis zum das Kirch­lein kennst du, Herr, da tritt Her­mi­ne her­ein und sagt, sie habe so brül­len hö­ren, plötz­lich ist un­ser Knecht Ru­precht da und brüllt; furcht­ba­rer Schre­cken der Kin­der, R. be­sänf­tigt ihn all­mäh­lich, er wirft sei­ne Nüs­se aus, gro­ßer Ju­bel der Kin­der. Wäh­rend sie auf­klau­ben, steht das Christ­kind­chen glän­zend be­leuch­tet da. Still­schwei­gend folgt das gan­ze Haus, ich vor­an mit den Kin­dern; das Christ­kind­chen winkt mit dem Baum und wan­delt lang­sam die Trep­pe hin­un­ter, es ver­schwin­det durch die Ga­le­rie, die Kin­der, ver­blen­det von dem Glanz des Bau­mes und der Spiel­sa­chen, se­hen es nicht ver­schwin­den. Nach der Be­sche­rung bete ich vor dem aus­ge­lösch­ten Baum mit den Kindern.

Noch in der sel­ben Nacht ent­wirft Co­si­ma ein Ge­bet und Weih­nachts­ver­se, das sie in Rein­schrift am Ende des ers­ten Ta­ge­buch-Quart­hef­tes do­ku­men­tiert. Es lautet:
Lie­bes Christ­kind­chen, Du bist zu uns ge­kom­men und hast uns be­glückt, wir dan­ken Dir, in­dem wir an alle Un­glück­li­chen den­ken und Dich herz­lich bit­ten, an die­sem Abend sie heim­zu­su­chen und zu seg­nen. Den ar­men Hung­ri­gen, die kalt und dun­kel ha­ben, schen­ke Dei­ne Nah­rung und Dein Him­mel­reich, den Ar­men, die ohne Freund, al­lein sind und wei­nen, brin­ge Dei­nen Trost und sage, daß sie se­lig sind, die Kin­der­chen grü­ße, de­nen kei­ne Mut­ter den Baum an­zün­det, und sage ih­nen, daß Du ihr bes­ter Freund bist. Wie Du uns die vie­len Lich­ter­chen be­schert hast, schen­ke al­len Dein gro­ßes Licht, daß sie sich glück­lich füh­len wie wir.

Die Ker­zen am Weih­nachts­baum wer­den zwei Mal an­ge­zün­det: am 24. De­zem­ber und an Sil­ves­ter. Co­si­mas Ge­burts­tag wird im­mer erst am 25. De­zem­ber ge­fei­ert, mit der Gra­tu­la­ti­on der Kin­der, Krän­zen und Ge­sang. Und au­ßer­ge­wöhn­li­chen Ge­schen­ken Wag­ners. Zum Bei­spiel er­hält sie von ihm 1868 ei­ni­ge Rein­schrif­ten sei­ner frü­hen fran­zö­si­schen Lie­der, dar­un­ter das Lied „Der Tan­nen­baum“ für Sing­stim­me und Kla­vier in es-Moll (Wag­ner-Werk­ver­zeich­nis Nr. 50) auf den Text von Ge­org Scheur­lin, so­wie „Dors mon en­fant“ (WWV 53), „At­ten­te“ (WWV 55) und „Mi­gnon­ne“ (WWV 57).

Ei­nes die­ser weih­nacht­li­ches Ge­burts­tags­ge­schen­ke ist so­gar aus gu­tem Grund in die Mu­sik­ge­schich­te ein­ge­gan­gen: das Co­si­ma ge­wid­me­te „Sieg­fried-Idyll“, zu­nächst als „Trib­sche­ner Idyll“ be­ti­telt. Drei­zehn Mu­si­ker des Zür­cher Ton­hal­le-Or­ches­ters und Hans Rich­ter (Brat­sche und Trom­pe­te) führ­ten es un­ter der Lei­tung Ri­chard Wag­ners am 25. De­zem­ber 1870 im Trep­pen­haus von Trib­schen erst­mals auf. Die klei­ne kam­mer­mu­si­ka­li­sche Be­set­zung ist der räum­li­chen Be­schränkt­heit in dem Land­haus ge­schul­det; bei spä­te­ren Auf­füh­run­gen vor aus­ge­wähl­tem Pu­bli­kum 1871 in Mann­heim und 1877 in Mei­nin­gen sind  deut­lich mehr Strei­cher be­tei­ligt. Co­si­ma be­schreibt die Uraufführung:

Von die­sem Tag, mei­ne Kin­der, kann ich euch nichts sa­gen, nichts von mei­nen Emp­fin­dun­gen, nichts von mei­ner Stim­mung, nichts, nichts. Dürr und tro­cken will ich euch nur sa­gen, was ge­schah: Wie ich auf­wach­te, ver­nahm mein Ohr ei­nen Klang, im­mer vol­ler schwoll er an, nicht mehr im Traum durf­te ich mich wäh­nen, Mu­sik er­schall­te, und wel­che Mu­sik! Als sie ver­klun­gen, trat R. mit den fünf Kin­dern zu mir ein und über­reich­te mir die Par­ti­tur des „Sym­pho­ni­schen Ge­burts­tags­gru­ßes“, in Trä­nen war ich, aber auch das gan­ze Haus; auf der Trep­pe hat­te R. sein Or­ches­ter ge­stellt und so un­ser Trib­schen auf ewig ge­weiht! Die „Trib­scher Idyll“ so heißt das Werk. – – –

Die Idyl­le er­klang an die­sem Tag so­gar noch zwei wei­te­re Male, „zu un­se­rer al­ler Er­schüt­te­rung“. Co­si­ma wei­ter: „Nun be­griff ich R.’s heim­li­ches Ar­bei­ten, nun auch des gu­ten Richter’s Trom­pe­te (er schmet­ter­te das Sieg­fried-The­ma pracht­voll und hat­te ei­gens dazu Trom­pe­te ge­lernt), die ihm vie­le Er­mah­nun­gen von mir zu­ge­zo­gen hat. ‚Laß mich ster­ben‘, rief ich R. [zu]. ‚Es war leich­ter, für mich zu ster­ben als für mich zu le­ben‘, er­wi­der­te er mir.“

Eine neu­er­li­che Auf­füh­rung im Fa­mi­li­en­kreis folgt nach­weis­lich am 25. De­zem­ber 1874, in der Vil­la Wahn­fried in Bay­reuth, zu­sam­men mit der zwei­ten Fas­sung des Kin­der­ka­te­chis­mus (WWV 106b). Im Jahr zu­vor lief der Hei­lig­abend bei den Wag­ners, die da­mals in Bay­reuth noch in der Damm­al­lee woh­nen, wie folgt ab:
Mitt­woch 24ten Viel Schaf­fen von früh bis fünf Uhr Nach­mit­tag; ein­zi­ge Un­ter­bre­chung der Mit­tags­tisch, wo das Ge­spräch auf die „Wahl­ver­wandt­schaf­ten“ kam. […] Ich muß bei sei­ner Be­spre­chung des Bu­ches in Trä­nen zer­flie­ßen, un­ser Schick­sal schwebt an uns vor­über, uns um­ar­mend prei­sen wir die Gott­heit, die uns zu­sam­men­führt. „Dort starb ein Kind, hier wur­de ei­nes ge­bo­ren“, sa­gen wir dann hei­ter. Um 5 1/2 Uhr Be­sche­rung; auch mir be­schert R. gar Schö­nes, von Chaill­ou Haus­präch­tig­kei­ten, und freut sich, daß sie mir ste­hen und ge­fal­len. Der Baum, hoch und breit, leuch­tet lan­ge, al­les ist hei­ter und froh; nach­dem er er­lo­schen ist, le­sen wir im „Hy­pe­ri­on“ […] In­dem wir von die­sem Tage schei­den, über­kommt mich das Be­wußt­sein mei­nes Glü­ckes mit un­über­wind­li­cher Macht, R. und ich, wir müs­sen das Schick­sal prei­sen, das uns zu­sam­men­ge­führt; ich kann das Wun­der nicht be­grei­fen, von ihm ge­liebt zu sein. Wie ein öder lee­rer und doch wir­rer Traum dünkt mich mein frü­he­res Da­sein, nun fand ich al­les, und selbst das Lei­den ist mir ein Zei­chen mei­nes Glückes!

Am Weih­nachts­tag 1873 um 8 Uhr mor­gens sin­gen die Kin­der mit Kla­vier­be­glei­tung dann erst­mals den Kin­der-Ka­te­chis­mus (WWV 106). In ihr Ta­ge­buch no­tiert Cosima:
Don­ners­tag 25ten Am frü­hen Mor­gen höre ich die Kin­der in der Ne­ben­stu­be, sie sin­gen das Kose- und Ro­sen­lied – so rüh­rend, so er­grei­fend, dar­auf kom­men sie an mein Bett, und Sieg­fried sagt mir das Ge­dicht! Tiefs­te Emp­fin­dung des Glü­ckes, al­les Äu­ße­re schweigt, al­les In­ne­re spricht, tau­send Stim­men jauch­zen in der See­le, das Lie­bes­lied ju­belnd, wie im Lenz tau­send Vö­gel, das eine Lied. – Die Son­ne scheint, ich bit­te R., mich zum Thea­ter zu füh­ren, er tut es; die Bret­ter ver­sper­ren den Ein­gang zur Büh­ne, kein Wäch­ter ist da, ich klet­te­re –  trotz Samt und At­las-Pracht –, und un­ter gro­ßem La­chen ge­lingt es mir, in die Büh­nen-Hal­le zu tre­ten; gran­dio­ser Ein­druck, wie ein as­sy­ri­scher Bau er­hebt sich das Gan­ze un­be­schränkt, wie Sphin­xe rei­hen sich un­ten die Pfei­ler an­ein­an­der, wie ge­heim­nis­vol­le Gän­ge brei­ten sich die Sei­ten­flü­gel aus; mehr wie Ver­gan­gen­heit als wie Zu­kunft scheint das Gan­ze, doch wirkt es groß­ar­tig er­hei­ternd heu­te auf mich. Von der Büh­ne ge­hen wir dann zu dem Zu­schau­er­raum, er­ha­ben wirkt der Ein­tritt, was kei­ne Er­zie­hung dem Zu­schau­er ge­währt; [wie] die Vor­be­rei­tung zum Mys­te­ri­um wird in ei­nem Au­gen­blick der Ein­tritt in die­sen Raum wir­ken. – Mit­tag­essen mit den Kin­dern, Lusch un­wohl, R. stimmt beim Cham­pa­gner das Lied an: „Sagt mir Kin­der!“ – Vor Tisch, nach dem Be­such des Thea­ters, wa­ren wir noch zum neu­en Hau­se ge­gan­gen und wa­ren bei­de, R. und ich, im Treib­hau­se ge­wan­delt; Freu­de an den schö­nen Pflan­zen, träu­me­ri­sche Hei­ter­keit; al­les für die Kin­der ge­nie­ßend, für uns bei­de ge­nüg­te die Gruft, wür­de kein Be­sitz sich schi­cken; sich zu fin­den, al­les sich zu sein und zu­sam­men zu blei­ben im Le­ben oder im Tode, das war es – da kam Mein Her­re Sieg­fried! … „Den hät­ten am Ende Edu­ard und Ot­ti­lie auch zu Stan­de ge­bracht“, scherzt R. Abends bit­te ich ihn, das Idyll mir zu spie­len, wir ge­den­ken des Mor­gens in Trib­schen, dann der Tris­tan-Zeit in Mün­chen, al­ler Won­ne und al­les We­hes, wir tren­nen uns, ich mit Ge­walt die über­strö­men­de Rüh­rung zu­rück­drän­gend, das Idyll und das Ko­se­lied un­ter mein Kopf­kis­sen le­gend, sanf­tem Ent­schlum­mern mich hin­ge­bend. Ein glück­li­cher Tag. – Nicht wie Goe­the geht es mir, daß nur vier Wo­chen des Glü­ckes ich ken­ne, mein Le­ben, mein Los ist ein Glück, das Da­sein mit sei­nen Qua­len über­leuch­tend – Stern der Tiefe! – – –

Üb­ri­gens sind auch die bei­den letz­ten Num­mern im Wag­ner-Werk­ver­zeich­nis Weih­nachts- bzw. Co­si­ma-Kom­po­si­tio­nen: am 24. De­zem­ber 1877 san­gen Co­si­mas Kin­der, von ih­rem Va­ter bzw. Stief­va­ter am Flü­gel be­glei­tet, in der Vil­la Wahn­fried erst­mals das Lied „Will­kom­men in Wahn­fried, du heil’ger Christ“ (WWV 112). Und am 25. De­zem­ber 1880 durf­ten sie mit dem scherz­haf­ten Lied „Ihr Kin­der, ge­schwin­de, ge­schwin­de“ (WWV 113) Wag­ners Ge­schenk zu Co­si­mas 43. Ge­burts­tag an­kün­di­gen, eine 1830 von Wag­ner an­ge­fer­tig­te Ab­schrift der IX. Sym­pho­nie Beethovens.

Erst­ver­öf­fent­li­chung in dem Blog „Mein Wag­ner-Jahr“ 2013 auf www​.in​fran​ken​.de