Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Sonnabend 11ten [Dezember 1880] R. hat gut geschlafen – beim Frühstück sagt er mir: „Am Ende werde ich noch ‚Die Ahnen‘ von Freytag[1] lesen“, fügt dann aber hinzu: „Nein, eine Erfindung von solchen Leuten mir mitteilen zu lassen.“ Und wie ich bemerke, daß wenig Talent bei uns in Deutschland sei, sagt er: „Ja, das wird schon beachtet, wenn einer Sinn für Form hat.“ – Der Wind bläst unaufhörlich, verscheucht aber den Nebel nicht; R. behauptet, er sei der Monsun, die äußerste Steigerung des Südwindes. Er wirft mir heiter vor, daß ich damals ganz unnützer Weise der inneren Stimme der Pflichterfüllung bloß gefolgt wäre, „alle diese Monsieurs sind es nicht sehr wert“, und nach Deutschland zurückgekehrt wäre; wir wären jetzt in Italien niedergelassen, wahrscheinlich in Como[2]. – In der Frühe fährt er fort in Schelling[3], und gegen Mittag arbeitet er an der Partitur, führt Amfortas zum Bad[4]. Bei Tisch zeigt er auf die grau-bräunliche Atmosphäre und sagt: Das ist Gobelin. Wir gehen aber doch spazieren im Hofgarten, und er faßt den Entschluß, nächsten Winter über Sevilla, Palermo in Palazzo Loredano[5] einzuziehen. „Deutschland als Musik-Halle zu betrachten und sich dann dessen zu erfreuen, was unter den Entbehrungen gediehen ist.“ – Gestern, wie er Marke’s[6] freudiges Spüren im Hofgarten beachtete, sagte er: „Was das für ein Dichter ist, Ossian[7] im Nebel der Vergangenheit. Er ist ganz nur im Taumel des Spürens.“ – – In unserem Saale machen ihm die Rahmen der beiden Bilder (er und ich von Lenbach[8]) Freude, da man doch die Bilder nicht sähe. Dieses geschweifte Gold habe er gern, dann spricht er von den hübschen Marmorsorten, aber: „Die Wohligkeit der Einrichtung beginnt erst mit den Falten.“ – – Abends arbeitet er noch etwas, und wie ich herunterkomme im Schwan[9], will er „Gruppe mit mir bilden“ und setzt sich auf die Erde zu mir. Vorher aber sprechen wir von der Melancholie des Themas von Amfortas, dann von dem zweiten Sterbe, höchste Gnade[10] – das ich milder finde. R. sagt: Es sei das Zusammenbrechen in der Agonie. – Abends spielt er die Ouvertüre zu „Jessonda“[11] mit Rub.[12], entsinnt sich, sie unter Weber’s Leitung[13] gehört zu haben. Darauf das cis moll Quartett[14], und da Freund Jouk.[15] mir unbefangen sagt, er habe die ersten Sätze nicht verstanden, so bitte ich R., uns seine Worte darüber im „Beethoven“[16] zu lesen, welche mich zu Tränen ergreifen. Dann der Kaisermarsch[17] 4händig, und immer dazwischen Jn. Pérès[18]. – Wie wir allein sind, spricht R. noch mit mir über das Quartett: Alles liegt in den 4 ersten Noten des Anfanges, dann übergibt er sich der Fugen-Arbeit, die selbst – für Musiker – nicht sehr interessant ist; wie ich sagte, es gehörte zum Ehrenpunkt eines Musikers, eine Fuge zu schreiben. Aber bei Roheiten, Ungeschicktheiten kommt es hier zu einer Stimmung, von der ich verstehe, daß er sie hatte. Und es ist herrlich, daß er nach dem Es dur Quartett das Bedürfnis gehabt hat, dieses zu schreiben. Und alles, was es von Leidenschaft gibt, liegt in dem letzten Thema. – Aber das Tempo des Themas der zweiten Bewegung, sein Lieblingsthema, konnte Rub. nicht treffen.
[1] Freytag, Gustav (1816–1895), war ein erfolgreicher Schriftsteller, der sich u.a. in mehreren Aufsätzen gegen den Antisemitismus auch RWs ausgesprochen hat. Der letzte Band seines sechsteiligen historischen Romanzyklus’ Die Ahnen, in dem er die fiktiven Schicksale einer deutschen Familie von der germanischen Zeit bis zur damaligen Gegenwart schildert, ist 1880 erschienen.
[2] Tagebuchautorin Cosima wurde am 24.12.1837 in Como geboren und zwei Tage später als Francesca Gaetana Cosima Liszt getauft.
[3] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854), Philosoph, mit dessen Vorlesungen von 1841/42 unter dem Titel Philosophie der Offenbarung RW sich parallel zu seiner Arbeit an der Reinschrift der Parsifal-Partitur befasste.
[4] Figur des Gralskönigs im Parsifal, hier im 1. Akt.
[5] Gemeint ist vermutlich der Palazzo Vendramin-Calergi in Venedig, in dem die Wagners im Herbst/Winter 1882/83 einen Seitenflügel beziehen sollten, wo RW am 13.2.1883 starb.
[6] Neufundländer in Wahnfried, siehe Fußnote und Foto zum gestrigen Tagebucheintrag.
[7] Held eines südirischen, in Schottland verbreiteten Sagenkreises; aus ihm bildete sich die Gestalt des greisen erblindeten Sängers der Vorzeit.
[8] Lenbach, Franz von (1836–1904), Maler, 1863–68 in Italien und Spanien, danach München; erfolgreichster Porträtist seiner Zeit und speziell auch der Wagner-Familie.
[9] Der „Schwan“ ist wie die „Scheherazade“ ein Gewand, das RW für Cosima hat anfertigen lassen.
[10] Amfortas: „Sterben … Einz’ge Gnade!“ in Parsifal III, Takt 977 ff.
[11] Oper mit Tanz in drei Akten von Louis Spohr (UA 1823), die auch RW dirigiert und mit der er sich in seinen Schriften auseinandergesetzt hat.
[12] Rubinstein, Joseph (1847–1884), aus Russland stammender jüdischer Pianist, kam noch in Tribschen zu Wagner, wurde unentgeltliches Mitglied der sog. Nibelungenkanzlei auch in Bayreuth und Hauspianist der Familie in Wahnfried und auf Reisen, nahm sich eineinhalb Jahre nach RWs Tod in Luzern das Leben.
[13] Weber, Carl Maria von (1786–1826), Komponist und für RW noch aus Kinder- und Jugendtagen gewissermaßen ein Vorbild, dem er mit seinem Engagement zur Überführung der sterblichen Überreste aus London und einer eigens komponierten Trauermusik und Trauerode 1844 in Dresden ein Denkmal setzte.
[14] Streichquartett op. 131 von Beethoven.
[15] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[16] Neben seiner Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (1840) hat RW immer wieder Programmatisches über Beethoven verfasst, u.a. zum Streichquartett op. 131, siehe Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 9, S. 96 f.
[17] Patriotischer Marsch in B-Dur von RW (WWV 104), komponiert als Auftragsarbeit anlässlich der Reichsgründung 1871, Infos zu weiteren Wagner-Märschen finden Sie hier und hier.
[18] Pérès, Jean-Baptiste (1752–1840), französischer Naturwissenschaftler, Jurist und Bibliothekar, weist in seinem satirischen Pamphlet Grand erratum, source d’un nombre infini d’errata von 1835 nach, dass Napoleon Bonaparte niemals existiert habe.
Eiliger Nachtrag zu Fußnote 7: Jochen Strobel schreibt mir: „Ossian“ war ein wunderbarer literarischer „Fake“, z. B. schön nach zu lesen hier. Merci vielmals, Jochen!
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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