Tagebuch-Adventskalender (11)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Go­be­lin und Gold­rah­men im Wahn­frieds­a­lon: „Ri­chard Wag­ner in Bay­reuth“, Öl­ge­mäl­de von Wil­helm Beck­mann von 1880 mit Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner, Franz Liszt und Hans von Wolz­o­gen. Vor­la­ge: Ri­chard-Wag­ner-Mu­se­um Tribschen

Sonn­abend 11ten [De­zem­ber 1880] R. hat gut ge­schla­fen – beim Früh­stück sagt er mir: „Am Ende wer­de ich noch ‚Die Ah­nen‘ von Frey­tag[1] le­sen“, fügt dann aber hin­zu: „Nein, eine Er­fin­dung von sol­chen Leu­ten mir mit­tei­len zu las­sen.“ Und wie ich be­mer­ke, daß we­nig Ta­lent bei uns in Deutsch­land sei, sagt er: „Ja, das wird schon be­ach­tet, wenn ei­ner Sinn für Form hat.“ – Der Wind bläst un­auf­hör­lich, ver­scheucht aber den Ne­bel nicht; R. be­haup­tet, er sei der Mon­sun, die äu­ßers­te Stei­ge­rung des Süd­win­des. Er wirft mir hei­ter vor, daß ich da­mals ganz un­nüt­zer Wei­se der in­ne­ren Stim­me der Pflicht­er­fül­lung bloß ge­folgt wäre, „alle die­se Mon­sieurs sind es nicht sehr wert“, und nach Deutsch­land zu­rück­ge­kehrt wäre; wir wä­ren jetzt in Ita­li­en nie­der­ge­las­sen, wahr­schein­lich in Como[2]. – In der Frü­he fährt er fort in Schel­ling[3], und ge­gen Mit­tag ar­bei­tet er an der Par­ti­tur, führt Am­for­tas zum Bad[4]. Bei Tisch zeigt er auf die grau-bräun­li­che At­mo­sphä­re und sagt: Das ist Go­be­lin. Wir ge­hen aber doch spa­zie­ren im Hof­gar­ten, und er faßt den Ent­schluß, nächs­ten Win­ter über Se­vil­la, Pa­ler­mo in Pa­laz­zo Lo­red­a­no[5] ein­zu­zie­hen. „Deutsch­land als Mu­sik-Hal­le zu be­trach­ten und sich dann des­sen zu er­freu­en, was un­ter den Ent­beh­run­gen ge­die­hen ist.“ – Ges­tern, wie er Marke’s[6] freu­di­ges Spü­ren im Hof­gar­ten be­ach­te­te, sag­te er: „Was das für ein Dich­ter ist, Os­si­an[7] im Ne­bel der Ver­gan­gen­heit. Er ist ganz nur im Tau­mel des Spü­rens.“ – – In un­se­rem Saa­le ma­chen ihm die Rah­men der bei­den Bil­der (er und ich von Len­bach[8]) Freu­de, da man doch die Bil­der nicht sähe. Die­ses ge­schweif­te Gold habe er gern, dann spricht er von den hüb­schen Mar­mor­sor­ten, aber: „Die Woh­lig­keit der Ein­rich­tung be­ginnt erst mit den Fal­ten.“ – – Abends ar­bei­tet er noch et­was, und wie ich her­un­ter­kom­me im Schwan[9], will er „Grup­pe mit mir bil­den“ und setzt sich auf die Erde zu mir. Vor­her aber spre­chen wir von der Me­lan­cho­lie des The­mas von Am­for­tas, dann von dem zwei­ten Ster­be, höchs­te Gna­de[10] – das ich mil­der fin­de. R. sagt: Es sei das Zu­sam­men­bre­chen in der Ago­nie. – Abends spielt er die Ou­ver­tü­re zu „Jes­son­da“[11] mit Rub.[12], ent­sinnt sich, sie un­ter Weber’s Lei­tung[13] ge­hört zu ha­ben. Dar­auf das cis moll Quar­tett[14], und da Freund Jouk.[15] mir un­be­fan­gen sagt, er habe die ers­ten Sät­ze nicht ver­stan­den, so bit­te ich R., uns sei­ne Wor­te dar­über im „Beet­ho­ven“[16] zu le­sen, wel­che mich zu Trä­nen er­grei­fen. Dann der Kai­ser­marsch[17] 4händig, und im­mer da­zwi­schen Jn. Pé­rès[18]. – Wie wir al­lein sind, spricht R. noch mit mir über das Quar­tett: Al­les liegt in den 4 ers­ten No­ten des An­fan­ges, dann über­gibt er sich der Fu­gen-Ar­beit, die selbst – für Mu­si­ker – nicht sehr in­ter­es­sant ist; wie ich sag­te, es ge­hör­te zum Eh­ren­punkt ei­nes Mu­si­kers, eine Fuge zu schrei­ben. Aber bei Ro­hei­ten, Un­ge­schickt­hei­ten kommt es hier zu ei­ner Stim­mung, von der ich ver­ste­he, daß er sie hat­te. Und es ist herr­lich, daß er nach dem Es dur Quar­tett das Be­dürf­nis ge­habt hat, die­ses zu schrei­ben. Und al­les, was es von Lei­den­schaft gibt, liegt in dem letz­ten The­ma. – Aber das Tem­po des The­mas der zwei­ten Be­we­gung, sein Lieb­lings­the­ma, konn­te Rub. nicht treffen.

Fuß­no­ten

[1] Frey­tag, Gus­tav (1816–1895), war ein er­folg­rei­cher Schrift­stel­ler, der sich u.a. in meh­re­ren Auf­sät­zen ge­gen den An­ti­se­mi­tis­mus auch RWs aus­ge­spro­chen hat. Der letz­te Band sei­nes sechs­tei­li­gen his­to­ri­schen Ro­man­zy­klus’ Die Ah­nen, in dem er die fik­ti­ven Schick­sa­le ei­ner deut­schen Fa­mi­lie von der ger­ma­ni­schen Zeit bis zur da­ma­li­gen Ge­gen­wart schil­dert, ist 1880 erschienen.
[2] Ta­ge­buch­au­to­rin Co­si­ma wur­de am 24.12.1837 in Como ge­bo­ren und zwei Tage spä­ter als Fran­ce­s­ca Ga­et­a­na Co­si­ma Liszt getauft.
[3] Schel­ling, Fried­rich Wil­helm Jo­seph (1775–1854), Phi­lo­soph, mit des­sen Vor­le­sun­gen von 1841/42 un­ter dem Ti­tel Phi­lo­so­phie der Of­fen­ba­rung RW sich par­al­lel zu sei­ner Ar­beit an der Rein­schrift der Par­si­fal-Par­ti­tur befasste.
[4] Fi­gur des Gral­skö­nigs im Par­si­fal, hier im 1. Akt.
[5] Ge­meint ist ver­mut­lich der Pa­laz­zo Ven­d­ra­min-Ca­ler­gi in Ve­ne­dig, in dem die Wag­ners im Herbst/​Winter 1882/83 ei­nen Sei­ten­flü­gel be­zie­hen soll­ten, wo RW am 13.2.1883 starb.
[6] Neu­fund­län­der in Wahn­fried, sie­he Fuß­no­te und Foto zum gest­ri­gen Ta­ge­buch­ein­trag.
[7] Held ei­nes süd­iri­schen, in Schott­land ver­brei­te­ten Sa­gen­krei­ses; aus ihm bil­de­te sich die Ge­stalt des grei­sen er­blin­de­ten Sän­gers der Vorzeit.
[8] Len­bach, Franz von (1836–1904), Ma­ler, 1863–68 in Ita­li­en und Spa­ni­en, da­nach Mün­chen; er­folg­reichs­ter Por­trä­tist sei­ner Zeit und spe­zi­ell auch der Wagner-Familie.
[9] Der „Schwan“ ist wie die „Sche­he­ra­za­de“ ein Ge­wand, das RW für Co­si­ma hat an­fer­ti­gen lassen.
[10] Am­for­tas: „Ster­ben … Ein­z’­ge Gna­de!“ in Par­si­fal III, Takt 977 ff.
[11] Oper mit Tanz in drei Ak­ten von Lou­is Spohr (UA 1823), die auch RW di­ri­giert und mit der er sich in sei­nen Schrif­ten aus­ein­an­der­ge­setzt hat.
[12] Ru­bin­stein, Jo­seph (1847–1884), aus Russ­land stam­men­der jü­di­scher Pia­nist, kam noch in Trib­schen zu Wag­ner, wur­de un­ent­gelt­li­ches Mit­glied der sog. Ni­be­lun­gen­kanz­lei auch in Bay­reuth und Haus­pia­nist der Fa­mi­lie in Wahn­fried und auf Rei­sen, nahm sich ein­ein­halb Jah­re nach RWs Tod in Lu­zern das Leben.
[13] We­ber, Carl Ma­ria von (1786–1826), Kom­po­nist und für RW noch aus Kin­der- und Ju­gend­ta­gen ge­wis­ser­ma­ßen ein Vor­bild, dem er mit sei­nem En­ga­ge­ment zur Über­füh­rung der sterb­li­chen Über­res­te aus Lon­don und ei­ner ei­gens kom­po­nier­ten Trau­er­mu­sik und Trau­er­o­de 1844 in Dres­den ein Denk­mal setzte.
[14] Streich­quar­tett op. 131 von Beethoven.
[15] Jou­kow­sky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[16] Ne­ben sei­ner No­vel­le Eine Pil­ger­fahrt zu Beet­ho­ven (1840) hat RW im­mer wie­der Pro­gram­ma­ti­sches über Beet­ho­ven ver­fasst, u.a. zum Streich­quar­tett op. 131, sie­he Sämt­li­che Schrif­ten und Dich­tun­gen, Bd. 9, S. 96 f.
[17] Pa­trio­ti­scher Marsch in B-Dur von RW (WWV 104), kom­po­niert als Auf­trags­ar­beit an­läss­lich der Reichs­grün­dung 1871, In­fos zu wei­te­ren Wag­ner-Mär­schen fin­den Sie hier  und hier.
[18] Pé­rès, Jean-Bap­tis­te (1752–1840), fran­zö­si­scher Na­tur­wis­sen­schaft­ler, Ju­rist und Bi­blio­the­kar, weist in sei­nem sa­ti­ri­schen Pam­phlet Grand er­ra­tum, source d’un nombre in­fi­ni d’er­ra­ta von 1835 nach, dass Na­po­le­on Bo­na­par­te nie­mals exis­tiert habe.

Ei­li­ger Nach­trag zu Fuß­no­te 7: Jo­chen Stro­bel schreibt mir: „Os­si­an“ war ein wun­der­ba­rer li­te­ra­ri­scher „Fake“, z. B. schön nach zu le­sen hier. Mer­ci viel­mals, Jochen!

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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