Tagebuch-Adventskalender (24)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Paul von Jou­kow­sky: „Die hei­li­ge Fa­mi­lie“ Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung Bayreuth

Frei­tag 24ten [De­zem­ber 1880] R. sagt mir, er wünscht, daß Wolz.[1] H. v. We­ber[2] auf­ford­re, eine Art Auf­ruf zu Guns­ten der Boers im Trans­vaal-Land für die Blät­ter[3] auf­zu­set­zen, so daß die be­vor­ste­hen­den Aus­wan­de­run­gen da­hin ge­lenkt wür­den. – Am Vor­mit­tag scheint die Son­ne, und R. for­dert mich auf, mit ihm im Hof­gar­ten zu spa­zie­ren, sie ist aber bald ver­dun­kelt, und wir keh­ren heim. R. er­zählt mir wäh­rend des Spa­zier­gangs, daß er we­ni­ger Freu­de habe an der Rei­se von Ja­col­li­ot[4], als er er­war­tet habe, denn das Be­schimp­fen der Deut­schen sei wi­der­wär­tig, sie wür­den als die von den Eng­län­dern los­ge­las­se­nen Hun­de und Bar­ba­ren be­trach­tet. Wie kön­ne man sich so er­nied­ri­gen, den Geg­ner, der uns be­sieg­te, her­ab­zu­set­zen, wir Deut­schen hät­ten we­nigs­tens die Fran­zo­sen wie Göt­ter (1804 etc.) an­ge­se­hen. Am Nach­mit­tag ge­hen wir wie­der­um aus, und wie ich R. aus­spre­che, wie lieb mir die­se Wan­de­run­gen sind mit ihm, bei wel­chen es mir schien, als ob wir, al­len Le­bens-Bal­last hin­ter uns las­send, ei­nem un­nenn­ba­ren Ziel ent­ge­gen wan­der­ten, „das Ziel“, sagt er, „ist die Er­hal­tung des Flämm­chen, daß die­ses noch eine Zeit lang leuch­te“. – Dann er­zählt er mir von sei­ner Kind­heit, wie er mit 5 Jah­ren den Pic­co­lo-Flö­ten-Tril­ler des Kas­par[5], da er nicht sin­gen konn­te, mit Perr­bip nach­ge­macht habe, auf ei­nen Stuhl ge­stie­gen sei, als Sa­mi­el[6] her­über­ge­guckt habe über ein ima­gi­nä­res Ge­büsch und „Perr­bip, Perr­bip“ ge­sagt. Um 7 Uhr be­sche­re ich ihm das „Gold­kleid“, sage ihm, er wür­de als Christ­kind­chen er­war­tet (um ihm zu er­klä­ren, daß die Kin­der nicht mit uns zum er­leuch­te­ten Baum kom­men). – Das le­ben­de Bild, herr­lich ge­stellt und ge­hal­ten von den Kin­dern, er­freut und er­greift ihn, er wünscht, es von Jou­kow­sky[7] ge­malt zu ha­ben. Das Weih­nach­ten für Mar­ke[8] macht auch Freu­de, und hei­ter ver­geht der Abend, dem der Baum bis zum Schluß leuch­tet. Fidi’s[9] Por­trät, von Jouk. R. ge­schenkt, freut ihn auch. Vor al­lem die lie­ben Kin­der, wel­che herr­lich im Bil­de aus­sa­hen (drei mu­si­zie­ren­de En­gel: Boni[10], Lol­di[11], Eva[12], Fidi ho­belnd: das Chris­tus­kind, Lulu[13] die Ma­don­na, be­tend; ab­seits Pe­pi­no[14]: der h. Jo­seph). – Ru­bin­stein[15] spielt den ers­ten Cho­ral der M[eister]singer zum Bild. – Letz­tes Wort von R.: Jetzt habe ich Mit­leid mit dei­ner Mut­ter.[16][17]

Fuß­no­ten
[1] Wolz­o­gen, Hans Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung 1878 bis zu sei­nem Tod, das heißt sechs Jahr­zehn­te lang, re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch aus­rich­te­te. Mehr über W. fin­den Sie hier.
[2] We­ber, Ernst von (1830–1902), war ein Rei­se­schrift­stel­ler, der  sich u.a. für län­ge­re Zeit in Süd­afri­ka auf­hielt, ein Be­für­wor­ter der deut­schen Ko­lo­ni­sa­ti­on so­wie Be­kämp­fer von Tier­ver­su­chen. Sei­nem 1879 ge­grün­de­ten In­ter­na­tio­na­len Ver­ein zur Be­kämp­fung der wis­sen­schaft­li­chen Thier­fol­ter tra­ten Liszt und RW bei, letz­te­rer ver­fass­te zu­dem sei­nen Of­fe­nen Brief an Ernst von We­ber, Ver­fas­ser der „Fol­ter­kam­mern der Wis­sen­schaft“ für die Ok­to­ber­num­mer der Bay­reu­ther Blät­ter. Ein hal­bes Jahr Mo­na­te spä­ter la­sen die Wag­ners auch von We­bers Bro­schü­re Der Un­ab­hän­gig­keits­kampf der Boers in Süd­afri­ka.
[3] Bay­reu­ther Blät­ter, Haus­pu­bli­ka­ti­on der Fest­spie­le von 1878 bis 1938, zu­nächst als Mo­nats-, dann als Vier­tel­jah­res­schrift, re­di­giert von Hans von Wolzogen.
[4] Ja­col­li­ot, Lou­is (1837–1890), fran­zös. Kon­sul in Kal­kut­ta wäh­rend des zwei­ten Kai­ser­reichs, Ori­ent­rei­sen­der  und mit Recht um­strit­te­ner Au­tor und In­do­lo­ge; seit No­vem­ber 1880 be­schäf­tig­te RW sich u.a. mit des­sen Voya­ge aux pays des éléphants.
[5] Fi­gur aus Carl Ma­ria von We­bers Oper Der Frei­schütz
[6] Fi­gur aus Carl Ma­ria von We­bers Oper Der Frei­schütz
[7] Jou­kow­sky (auch Ju­kow­sky), Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog mit sei­nem wahl­wei­se sin­gen­den „Die­ner“, „Ad­op­tiv-Sohn“ [so RW am 19.6.1881 an Kö­nig Lud­wig II.], de fac­to aber Lieb­ha­ber Pe­pi­no nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Fa­mi­lie, de­ren Mit­glie­der er im­mer wie­der por­trä­tier­te. Das von RW ge­wünsch­te Auf­trags­werk „Die hei­li­ge Fa­mi­lie“ fer­tig­te J. 1881 in gro­ßem For­mat mit ei­ner Aus­nah­me so, wie das le­ben­de Bild an Hei­lig­abend 1880 statt­fand: an­stel­le von Pe­pi­no mal­te sich in der Rol­le des Jo­seph je­doch der Ma­ler selbst und ver­ewig­te oben rechts auch noch Ar­thur Go­bi­neau als Säu­len­hei­li­gen. Das Tem­pe­ra-Ge­mäl­de, das J. un­ten links mit dem für sei­ne Bil­der of­fen­bar ob­li­ga­to­ri­schen Mai­kä­fer si­gnier­te, soll­te eine Über­ra­schung zu RWs 68. Ge­burts­tag am 22. Mai 1881 sein. Ein Pho­to des Ge­mäl­des be­kam an­schlie­ßend auch Lud­wig II., mit ent­spre­chen­den Er­läu­te­run­gen: „Das Gan­ze ist im Style ei­nes al­ten Kir­chen­blat­tes, in lich­ter Far­be, wie wir der­glei­chen in al­ten Kir­chen Ita­li­ens öf­ters sa­hen, aus­ge­führt.“ Das Ge­mäl­de ist seit der Bom­bar­die­rung Wahn­frieds 1945 ver­schol­len. Un­ter Wag­ne­ria­nern mach­te J. sich spä­tes­tens am Vor­abend von RWs Tod in Ve­ne­dig ge­wis­ser­ma­ßen un­sterb­lich, denn er soll­te im Pa­laz­zo Ven­d­ra­min, wäh­rend der Kom­po­nist aus Fou­qués Un­di­ne vor­las, in ei­ner Ta­ge­buch­klad­de Co­si­mas die be­rühm­te Skiz­ze R le­send an­fer­ti­gen, das letz­te Bild­nis des le­ben­den Wag­ner. Bei RWs Be­er­di­gung am 16. Fe­bru­ar 1883 fun­gier­te er als Sargträger.

[8] Neu­fund­län­der RWs, über des­sen Weih­nachts­ge­schenk 1880 ich lei­der nichts Nä­he­res ge­fun­den habe; wenn es kein Zu­be­hör (Hals­band? Lei­ne? Rie­si­ger Schlaf­korb aus Lich­ten­fels?) war, könn­te es aber trotz des ver­bal zu­neh­men­den Ve­ge­ta­ris­mus’ bei RW auch fleisch­li­cher Na­tur ge­we­sen sein.
[9] Fidi = Sieg­fried Wag­ner (1869–1930), ein­zi­ger und auf ziem­lich krum­men We­gen nach­träg­lich auch ju­ris­tisch ab­ge­seg­ne­ter Sohn von Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner und spä­te­rer Dich­ter­kom­po­nist und Fest­spiel­lei­ter; im „Le­ben­den Bild“ kein Ge­rin­ge­rer als das ho­beln­de Jesuskind.
[10] Boni = Ponsch = Blan­di­ne von Bülow (1863–1941, ab 1882 verh. Grä­fin Gra­vina), zwei­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow; im „Le­ben­den Bild“ der Lau­te spie­len­de, blond ge­lock­te Engel.
[11] Lol­di = Isol­de Jo­se­pha Lu­do­vi­ka von Bülow (1865–1919, ab 1900 verh. Beid­ler), ers­te Toch­ter von Co­si­ma von Bülow und Ri­chard Wag­ner mit Hans von Bülow trotz Rechts­streit 1914 als ju­ris­ti­schem Va­ter; im „Le­ben­den Bild“ der Gei­ge spie­len­de zwei­te En­gel von links.
[12] Eva von Bülow (1867–1942, ab 1908 verh. Cham­ber­lain), zwei­te Toch­ter von Co­si­ma von Bülow und Ri­chard Wag­ner mit Hans von Bülow als ju­ris­ti­schem Va­ter, im „Le­ben­den Bild“ der flö­ten­de En­gel links.
[13] Lulu = Lou­lou = Lusch = Sen­ta = Da­nie­la von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Tho­de), ers­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow, im „Le­ben­den Bild“ Maria.
[14] aus Nea­pel stam­men­der sin­gen­der „Die­ner“, „Ad­op­tiv-Sohn“ und jun­ger Lieb­ha­ber von Paul von Jou­kow­sky (sie­he oben so­wie  auch 22. Dezember)
[15] Ru­bin­stein, Jo­seph (1847–1884), aus Russ­land stam­men­der jü­di­scher Pia­nist, kam noch in Trib­schen zu Wag­ner, wur­de un­ent­gelt­li­ches Mit­glied der sog. Ni­be­lun­gen­kanz­lei auch in Bay­reuth und Haus­pia­nist der Fa­mi­lie; aus­führ­li­che­re In­fos am 16. Dezember.
[16] Kei­ne Ah­nung, was RW da­mit ge­meint ha­ben könn­te! Ma­rie d’Agoult, die Mut­ter Co­si­mas, war be­reits 1876 ge­stor­ben, d.h. die­ser iso­lier­te Satz will zu­min­dest mo­men­tan uns und ver­mut­lich auch sich selbst „ein ewig Rät­sel“ bleiben.
[17] Un­ten am Rand, un­ter Sonn­abend, nach­ge­tra­gen: „Zum Kaf­fee (Frei­tag) er­zählt uns R., daß Schnapp­auf [Bern­hard S., RWs Bar­bier, auch auf Rei­sen] ihm den Scherz mit­ge­teilt, der hie­si­ge Wa­sen­meis­ter [Ge­org Ba­bel, Ab­de­cker in Bay­reuth] habe ihm ge­sagt, da R. so gut mit dem Kö­nig stün­de, möch­te er ihm doch die eben er­le­dig­te Stel­le des Scharf­rich­ters ver­schaf­fen.“ Jetzt aber end­lich auf zur Bescherung!

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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