Sonntag 5ten [Dezember 1880] Meine Nacht war wiederum gänzlich schlaflos und die R.’s unruhig. – In der Frühe erhält er eine Depesche von H. v. Hülsen[1], welche, wie R. ahnte, die Walküre als Ergebnis der „gemeinsamen Aufführungen“ mit Direktor Neumann[2] wünscht, R. beschließt, gar nicht zu antworten. Wolz.[3] schickte sein Programm zu den erweiterten Blättern[4], ich lese mit einigem Bedenken; die Verarbeitung der weiten Ausblicke R.’s seitens seiner Schüler will mir schwer annehmbar erscheinen. Ich teile R. beim Kaffee das Ms. [Manuskript] mit, R. läßt einiges streichen, wir empfinden dieselbe peinliche Stimmung, ohne uns eingehend auszusprechen. Er geht spazieren, kommt nach einer Weile wieder zu mir und sagt: „Ich glaube einem keimenden Gedanken von dir entgegenzukommen, wenn ich die ganze Geschichte beim alten lasse.“ Ich stimme sehr bei, wir geraten in gute Laune, und das Wort: Abonnement auf den Verfall der Menschheit (Wolz. hatte auf Abonnement eingeladen), fällt zwischen uns; wer es aussprach, weiß ich nicht, aber es verwandelt eine gedrückte Stimmung in eine ungemeine Heiterkeit. – Er leidet aber an den Augen, kann nicht lesen, abends lese ich ihm und den Kindern „Preziosa“[5] vor. – Er zeigt mir dann seine Partitur-Seite[6].
Fußnoten
[1] Hülsen, Botho von (1815-1886), Intendant des Hoftheaters in Berlin sowie der preuß. Hoftheater in Hannover, Kassel und Wiesbaden und jahrzehntelang ein Gegner RWs, dessen Werke er gleichwohl aufführte. Das beigelegte Telegramm lautete wie folgt: „Geehrter Meister! Gibt gemeinschaftliche Aufführung des ‚Nibelungen‘-Zyklus mit Direktor Neumann im Opernhause mir nachher das Recht, die ‚Walkyre‘ gegen übliche Tantieme in mein Repertoire aufzunehmen? Antwort frei, von Hülsen.“
[2] Neumann, Angelo (1838–1910), Sänger, Impresario, Direktor des reisenden Wagnertheaters und international agierender Ring-Vermarkter.
[3] Wolzogen, Hans Paul Freiherr von 1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete.
[4] Bayreuther Blätter, Hauszeitschrift der Festspiele von 1878 bis 1938, redigiert von: siehe 3
[5] Preziosa „Geschichte des Zigeunermädchens“, Novelle von Cervantes, von Pius Alexander Wolff dramatisiert, von Carl Maria von Weber vertont und mit der Chor-Nummer „Die Sonn’ erwacht“ unter Bruno Seidler-Winkler nachzuhören in einer Aufnahme der Berliner Hofoper von 1909.
[6] Parsifal, Beginn der Aufzeichnung der Partitur am 23. August 1879, Vollendung des 1. Aufzugs am 25. April 1881
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