Tagebuch-Adventskalender (5)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.
Nein, die Wag­ners konn­ten die­se Auf­nah­me aus Carl Ma­ria von We­bers „Preciosa“-Vertonung noch nicht hö­ren, aber wir Glück­li­chen dür­fen das … Vor­la­ge: https://​ar​chi​ve​.org/

Sonn­tag 5ten [De­zem­ber 1880] Mei­ne Nacht war wie­der­um gänz­lich schlaf­los und die R.’s un­ru­hig. – In der Frü­he er­hält er eine De­pe­sche von H. v. Hül­sen[1], wel­che, wie R. ahn­te, die Wal­kü­re als Er­geb­nis der „ge­mein­sa­men Auf­füh­run­gen“ mit Di­rek­tor Neu­mann[2] wünscht, R. be­schließt, gar nicht zu ant­wor­ten. Wolz.[3] schick­te sein Pro­gramm zu den er­wei­ter­ten Blät­tern[4], ich lese mit ei­ni­gem Be­den­ken; die Ver­ar­bei­tung der wei­ten Aus­bli­cke R.’s sei­tens sei­ner Schü­ler will mir schwer an­nehm­bar er­schei­nen. Ich tei­le R. beim Kaf­fee das Ms. [Ma­nu­skript] mit, R. läßt ei­ni­ges strei­chen, wir emp­fin­den die­sel­be pein­li­che Stim­mung, ohne uns ein­ge­hend aus­zu­spre­chen. Er geht spa­zie­ren, kommt nach ei­ner Wei­le wie­der zu mir und sagt: „Ich glau­be ei­nem kei­men­den Ge­dan­ken von dir ent­ge­gen­zu­kom­men, wenn ich die gan­ze Ge­schich­te beim al­ten las­se.“ Ich stim­me sehr bei, wir ge­ra­ten in gute Lau­ne, und das Wort: Abon­ne­ment auf den Ver­fall der Mensch­heit (Wolz. hat­te auf Abon­ne­ment ein­ge­la­den), fällt zwi­schen uns; wer es aus­sprach, weiß ich nicht, aber es ver­wan­delt eine ge­drück­te Stim­mung in eine un­ge­mei­ne Hei­ter­keit. – Er lei­det aber an den Au­gen, kann nicht le­sen, abends lese ich ihm und den Kin­dern „Pre­zio­sa“[5] vor. – Er zeigt mir dann sei­ne Par­ti­tur-Sei­te[6].

Fuß­no­ten
[1] Hül­sen, Bo­tho von (1815-1886), In­ten­dant des Hof­thea­ters in Ber­lin so­wie der preuß. Hof­thea­ter in Han­no­ver, Kas­sel und Wies­ba­den und jahr­zehn­te­lang ein Geg­ner RWs, des­sen Wer­ke er gleich­wohl auf­führ­te. Das bei­geleg­te Te­le­gramm lau­te­te wie folgt: „Ge­ehr­ter Meis­ter! Gibt ge­mein­schaft­li­che Auf­füh­rung des ‚Nibelungen‘-Zyklus mit Di­rek­tor Neu­mann im Opern­hau­se mir nach­her das Recht, die ‚Wal­ky­re‘ ge­gen üb­li­che Tan­tie­me in mein Re­per­toire auf­zu­neh­men? Ant­wort frei, von Hülsen.“
[2] Neu­mann, An­ge­lo (1838–1910), Sän­ger, Im­pre­sa­rio, Di­rek­tor des rei­sen­den Wag­ner­thea­ters und in­ter­na­tio­nal agie­ren­der Ring-Ver­mark­ter.
[3] Wolz­o­gen, Hans Paul Frei­herr von 1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch ausrichtete.
[4] Bay­reu­ther Blät­ter, Haus­zeit­schrift der Fest­spie­le von 1878 bis 1938, re­di­giert von: sie­he 3
[5] Pre­zio­sa „Ge­schich­te des Zi­geu­ner­mäd­chens“, No­vel­le von Cer­van­tes, von Pius Alex­an­der Wolff dra­ma­ti­siert, von Carl Ma­ria von We­ber ver­tont und mit der Chor-Num­mer „Die Sonn’ er­wacht“ un­ter Bru­no Seid­ler-Wink­ler nach­zu­hö­ren in ei­ner Auf­nah­me der Ber­li­ner Hof­oper von 1909.
[6] Par­si­fal, Be­ginn der Auf­zeich­nung der Par­ti­tur am 23. Au­gust 1879, Voll­endung des 1. Auf­zugs am 25. April 1881

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fußnoten

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