Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Sonnabend 18ten [Dezember 1880] R. wachte plötzlich und so angeregt auf, daß er den Tisch neben seinem Bette umwarf; halb brummend, halb scherzend hebt er die Gegenstände auf und begibt sich wieder zur Ruhe, welche dann auch glückt. Wir stehen früh auf, und jeder von uns geht an sein Tagwerk, er beginnt es mit der Lektüre von Amadis[1] (des Gfen G.)[2], welche ihm dadurch, glaubt er, besonders gefällt, daß sie auf Schelling[3] folgte; das ärgste Traktat eines protestantischen Theologen hätte er lieber gelesen als diesen Unsinn. – Wir gehen um ein Uhr spazieren bei angenehmer Luft und besuchen Freund Jouk.[4], der an Rheuma leidet, dessen hübsche Einrichtung aber R. Spaß macht. – Zu Tisch haben wir den Bürgermeister[5], Freund Feustel[6] und Wolz.[7] – Viele Erinnerungen an Italien, darauf Besprechung der jetzigen Lage des Patronat-Vereines und Abmachung einer Zusammenkunft. – R. und ich, wir gehen dann spazieren, werden vom Regen überrascht; wir freuen uns unserer Freunde Feustel und des Bürgermeisters, R. sagt: „Das gibt mir eine solche Zuversicht, daß solche Geschäftsleute Vertrauen zu einer Sache zeigen, die mir selbst immer so luftig erscheint.“ – Der Abend bringt Nachrichten aus Italien[8] über Tristan und Isolde und Walküren-Ritt, welche uns ein Lächeln abgewinnen. R. sieht aber angegriffen aus, ob seine Arbeit ihn nicht befriedigte? Auch ist er bald gereizt, wie in Betreff Siegfried’s Erziehung; ich hoffte, alles zum Besseren eingerichtet zu haben mit dem Oberlehrer Vogler[9], und R. wünscht einen Hauslehrer und ärgert sich, daß er immer mit so ungeschickten Menschen es zu tun habe, die ihm nichts verschaffen könnten. – Ich schlage eine Lektüre vor, und wir wählen „Rimorete und Contado“[10] von Cervantes, welches uns unendlich viel Vergnügen verursacht. – Der Abend vergeht, wir wandern hinauf, und wie wir in R.’s Stübchen allein sind, kommt er auf Hans[11] zu sprechen und mit Entrüstung wegen seines Benehmens gegen Lusch[12]. Er rekapituliert das ganze Verhältnis und will ihm schreiben. Ich rate dazu, lieber seinem Vetter Frege[13] mit der Zurückerstattung des Bülow-Fonds seine Erklärung abzugeben. Trauriges Gespräch; R. erklärt mir, aus diesem Grund so gereizt gewesen zu sein; von den Freunden zu hören, die zur Aufführung der 9ten hinreisten (Groß[14] u.a.), das schnitt ihm durch’s Herz. – Er ist etwas beruhigt durch seinen Entschluß, wir gehen zu Bett – doch bald beginnt er von neuem, frägt mich nach manchem aus der Vergangenheit, und so ist die Nacht sehr unruhig. R. steht auf und liest; endlich schläft er ein! – Frau D.[15] schickt eine Photographie ein mit Bitte um Unterschrift für ihren Mann[16], R. tut es: „Ehret die Frauen, sie flechten daneben Photographien in Herrn Degele’s Leben.“ – Gestern wurde von meinem Alter gesprochen, und Lusch gab mir ein Jahr weniger, als mir zukommt, worauf R.: „Nur nichts davon nehmen, das ist unser Stolz, wie bei dem Hirsch die Enden – mit jedem Jahr wird das Geweih stolzer.“
Fußnoten
[1] Das Heldengedicht Amadis von Gobineau erschien erst aus dessen Nachlass 1887; RW hat das Manuskript vermutlich Ende Oktober 1880 in Venedig direkt vom Autor erhalten.
[2] Gobineau , Joseph Arthur Graf von (1816–1882) war ein französischer Diplomat, Schriftsteller und Rassentheoretiker, der die Arier als Elite. Mit seinem Essai sur l’inégalité des races humaines (Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen) und weiteren Schriften beeinflusste er Nietzsche und RW, den er 1876 in Rom kennenlernte und der nach dem Treffen in Venedig noch mehrfach nach Bayreuth kommen sollte.
[3] Vorangehende Lektüre RWs war die Philosophie der Offenbarung von Schelling
[4] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[5] Muncker, Johann Theodor (1823–1900), Bayreuther Jurist und Bürgermeister, der maßgeblich dazu beitrug, dass RW sich mit seinen Festspielen und der Familie in Bayreuth niederließ, war Mitglied des Verwaltungsrats der Festspiele, wurde 1887 nobilitiert und 1891 zum Geheimen Hofrat ernannt.
[6] Feustel, Friedrich (1824–1891), Bayreuther Bankier, als Politiker sowohl auf lokaler, Landes- und Reichsebene tätig, wurde 1891 nobilitiert. Auch in der Bayreuther Freimaurerloge aktiv war er ein entschiedener Förderer von RWs Ansiedlung in Bayreuth und Mitglied im Verwaltungsrat des Festspielunternehmens; sein Schwiegersohn Adolf von Groß wurde jahrelang der Finanzverwalter der Festspiele.
[7] Wolzogen, Hans Paul Freiherr von (1848–1938), Musikschriftsteller, Redakteur, Vegetarier und Herausgeber der Bayreuther Blätter, die er von deren Gründung 1878 bis zu seinem Tod redigierte und zunehmend antisemitisch, deutsch-völkisch und schließlich nationalsozialistisch ausrichtete.
[8] Brief von Luigi Tesarini, einem Förderer RWs aus Mailand, und ein italienisches Konzertprogramm vom 15. Dezember 1880.
[9] Vogler, Heinrich, Ober- und Hauptlehrer in Bayreuth.
[10] Novelle von Cervantes.
[11] Bülow, Hans Guido Freiherr von (1830–1894), Liszt-Schüler, Wagner-Dirigent und erster Ehemann von Cosima.
[12] Lusch = Bülow, Daniela von (1860–1940, ab 1886 verh. Thode), erste Tochter von Cosima und Hans von Bülow, auch genannt Lulu, Loulou und Senta.
[13] Frege, Arnold Woldemar von F.-Wetzing (1841–1916), späteres Reichstagsmitglied und Reichstags-Vizepräsident von 1898–1901, Sohn von Livia F., geb. Gerhardt (1818–1891), Sängerin, und Prof. Woldemar F., Tante und Onkel Hans von Bülows.
[14] Groß, Adolf Wilhelm Benedikt von (1845–1931), Bankier und Schwiegersohn von Feustel, Verwaltungsrat der Festspiele in Rechts- und Finanzfragen, nach RWs Tod Vormund der Kinder und unverzichtbarer Mitarbeiter Cosimas.
[15] Leider nicht nur hier die vornamenlose Frau des Sängers Eugen Degele.
[16] Degele, Paul Eugen (1834–1886), aus einer Münchner Sängerfamilie stammender Bariton, ab 1861 fest in Dresden, sang dort u.a. Holländer, Beckmesser, Wolfram und 1883, alternierend mit Anton Fuchs, Klingsor in Bayreuth.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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