Tagebuch-Adventskalender (18)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Haus Wahn­fried im Win­ter, Vor­der­an­sicht © Na­tio­nal­ar­chiv der Ri­chard-Wag­ner-Stif­tung, Bayreuth

Sonn­abend 18ten [De­zem­ber 1880] R. wach­te plötz­lich und so an­ge­regt auf, daß er den Tisch ne­ben sei­nem Bet­te um­warf; halb brum­mend, halb scher­zend hebt er die Ge­gen­stän­de auf und be­gibt sich wie­der zur Ruhe, wel­che dann auch glückt. Wir ste­hen früh auf, und je­der von uns geht an sein Tag­werk, er be­ginnt es mit der Lek­tü­re von Ama­dis[1] (des Gfen G.)[2], wel­che ihm da­durch, glaubt er, be­son­ders ge­fällt, daß sie auf Schel­ling[3] folg­te; das ärgs­te Trak­tat ei­nes pro­tes­tan­ti­schen Theo­lo­gen hät­te er lie­ber ge­le­sen als die­sen Un­sinn. – Wir ge­hen um ein Uhr spa­zie­ren bei an­ge­neh­mer Luft und be­su­chen Freund Jouk.[4], der an Rheu­ma lei­det, des­sen hüb­sche Ein­rich­tung aber R. Spaß macht. – Zu Tisch ha­ben wir den Bür­ger­meis­ter[5], Freund Feus­tel[6] und Wolz.[7] – Vie­le Er­in­ne­run­gen an Ita­li­en, dar­auf Be­spre­chung der jet­zi­gen Lage des Pa­tro­nat-Ver­ei­nes und Ab­ma­chung ei­ner Zu­sam­men­kunft. – R. und ich, wir ge­hen dann spa­zie­ren, wer­den vom Re­gen über­rascht; wir freu­en uns un­se­rer Freun­de Feus­tel und des Bür­ger­meis­ters, R. sagt: „Das gibt mir eine sol­che Zu­ver­sicht, daß sol­che Ge­schäfts­leu­te Ver­trau­en zu ei­ner Sa­che zei­gen, die mir selbst im­mer so luf­tig er­scheint.“ – Der Abend bringt Nach­rich­ten aus Ita­li­en[8] über Tris­tan und Isol­de und Wal­kü­ren-Ritt, wel­che uns ein Lä­cheln ab­ge­win­nen. R. sieht aber an­ge­grif­fen aus, ob sei­ne Ar­beit ihn nicht be­frie­dig­te? Auch ist er bald ge­reizt, wie in Be­treff Siegfried’s Er­zie­hung; ich hoff­te, al­les zum Bes­se­ren ein­ge­rich­tet zu ha­ben mit dem Ober­leh­rer Vog­ler[9], und R. wünscht ei­nen Haus­leh­rer und är­gert sich, daß er im­mer mit so un­ge­schick­ten Men­schen es zu tun habe, die ihm nichts ver­schaf­fen könn­ten. – Ich schla­ge eine Lek­tü­re vor, und wir wäh­len „Ri­mo­re­te und Con­ta­do“[10] von Cer­van­tes, wel­ches uns un­end­lich viel Ver­gnü­gen ver­ur­sacht. – Der Abend ver­geht, wir wan­dern hin­auf, und wie wir in R.’s Stüb­chen al­lein sind, kommt er auf Hans[11] zu spre­chen und mit Ent­rüs­tung we­gen sei­nes Be­neh­mens ge­gen Lusch[12]. Er re­ka­pi­tu­liert das gan­ze Ver­hält­nis und will ihm schrei­ben. Ich rate dazu, lie­ber sei­nem Vet­ter Fre­ge[13] mit der Zu­rück­er­stat­tung des Bülow-Fonds sei­ne Er­klä­rung ab­zu­ge­ben. Trau­ri­ges Ge­spräch; R. er­klärt mir, aus die­sem Grund so ge­reizt ge­we­sen zu sein; von den Freun­den zu hö­ren, die zur Auf­füh­rung der 9ten hin­reis­ten (Groß[14] u.a.), das schnitt ihm durch’s Herz. – Er ist et­was be­ru­higt durch sei­nen Ent­schluß, wir ge­hen zu Bett – doch bald be­ginnt er von neu­em, frägt mich nach man­chem aus der Ver­gan­gen­heit, und so ist die Nacht sehr un­ru­hig. R. steht auf und liest; end­lich schläft er ein! – Frau D.[15] schickt eine Pho­to­gra­phie ein mit Bit­te um Un­ter­schrift für ih­ren Mann[16], R. tut es: „Eh­ret die Frau­en, sie flech­ten da­ne­ben Pho­to­gra­phien in Herrn Degele’s Le­ben.“ – Ges­tern wur­de von mei­nem Al­ter ge­spro­chen, und Lusch gab mir ein Jahr we­ni­ger, als mir zu­kommt, wor­auf R.: „Nur nichts da­von neh­men, das ist un­ser Stolz, wie bei dem Hirsch die En­den – mit je­dem Jahr wird das Ge­weih stolzer.“

Fuß­no­ten
[1] Das Hel­den­ge­dicht Ama­dis von Go­bi­neau er­schien erst aus des­sen Nach­lass 1887; RW hat das Ma­nu­skript ver­mut­lich Ende Ok­to­ber 1880 in Ve­ne­dig di­rekt vom Au­tor erhalten.
[2] Go­bi­neau , Jo­seph Ar­thur Graf von (1816–1882) war ein fran­zö­si­scher Di­plo­mat, Schrift­stel­ler und Ras­sen­theo­re­ti­ker, der die Ari­er als Eli­te. Mit sei­nem Es­sai sur l’inégalité des races hu­main­es (Ver­such über die Un­gleich­heit der Men­schen­ras­sen) und wei­te­ren Schrif­ten be­ein­fluss­te er Nietz­sche und RW, den er 1876 in Rom ken­nen­lern­te und der nach dem Tref­fen in Ve­ne­dig noch mehr­fach nach Bay­reuth kom­men sollte.
[3] Vor­an­ge­hen­de Lek­tü­re RWs war die Phi­lo­so­phie der Of­fen­ba­rung von Schelling
[4] Jou­kow­sky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[5] Mun­cker, Jo­hann Theo­dor (1823–1900), Bay­reu­ther Ju­rist und Bür­ger­meis­ter, der maß­geb­lich dazu bei­trug, dass RW sich mit sei­nen Fest­spie­len und der Fa­mi­lie in Bay­reuth nie­der­ließ, war Mit­glied des Ver­wal­tungs­rats der Fest­spie­le, wur­de 1887 no­bi­li­tiert und 1891 zum Ge­hei­men Hof­rat ernannt.
[6] Feus­tel, Fried­rich (1824–1891), Bay­reu­ther Ban­kier, als Po­li­ti­ker so­wohl auf lo­ka­ler, Lan­des- und Reichs­ebe­ne tä­tig, wur­de 1891 no­bi­li­tiert. Auch in der Bay­reu­ther Frei­mau­rer­lo­ge ak­tiv war er ein ent­schie­de­ner För­de­rer von RWs An­sied­lung in Bay­reuth und Mit­glied im Ver­wal­tungs­rat des Fest­spiel­un­ter­neh­mens; sein Schwie­ger­sohn Adolf von Groß wur­de jah­re­lang der Fi­nanz­ver­wal­ter der Festspiele.
[7] Wolz­o­gen, Hans Paul Frei­herr von (1848–1938), Mu­sik­schrift­stel­ler, Re­dak­teur, Ve­ge­ta­ri­er und Her­aus­ge­ber der Bay­reu­ther Blät­ter, die er von de­ren Grün­dung 1878 bis zu sei­nem Tod re­di­gier­te und zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch, deutsch-völ­kisch und schließ­lich na­tio­nal­so­zia­lis­tisch ausrichtete.
[8] Brief von Lui­gi Te­sa­ri­ni, ei­nem För­de­rer RWs aus Mai­land, und ein ita­lie­ni­sches Kon­zert­pro­gramm vom 15. De­zem­ber 1880.
[9] Vog­ler, Hein­rich, Ober- und Haupt­leh­rer in Bayreuth.
[10] No­vel­le von Cervantes.
[11] Bülow, Hans Gui­do Frei­herr von (1830–1894), Liszt-Schü­ler, Wag­ner-Di­ri­gent und ers­ter Ehe­mann von Cosima.
[12] Lusch = Bülow, Da­nie­la von (1860–1940, ab 1886 verh. Tho­de), ers­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow, auch ge­nannt Lulu, Lou­lou und Senta.
[13] Fre­ge, Ar­nold Wol­de­mar von F.-Wetzing (1841–1916), spä­te­res Reichs­tags­mit­glied und Reichs­tags-Vi­ze­prä­si­dent von 1898–1901, Sohn von Li­via F., geb. Ger­hardt (1818–1891), Sän­ge­rin, und Prof. Wol­de­mar F., Tan­te und On­kel Hans von Bülows.
[14] Groß, Adolf Wil­helm Be­ne­dikt von  (1845–1931), Ban­kier und Schwie­ger­sohn von Feus­tel, Ver­wal­tungs­rat der Fest­spie­le in Rechts- und Fi­nanz­fra­gen, nach RWs Tod Vor­mund der Kin­der und un­ver­zicht­ba­rer Mit­ar­bei­ter Cosimas.
[15] Lei­der nicht nur hier die vor­na­men­lo­se Frau des Sän­gers Eu­gen Degele.
[16] De­ge­le, Paul Eu­gen (1834–1886), aus ei­ner Münch­ner Sän­ger­fa­mi­lie stam­men­der Ba­ri­ton, ab 1861 fest in Dres­den, sang dort u.a. Hol­län­der, Beck­mes­ser, Wolf­ram und 1883, al­ter­nie­rend mit An­ton Fuchs, Klings­or in Bayreuth.

Aus: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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Wahn­fried von der Gar­ten­sei­te im Som­mer auf ei­ner frü­hen Farbpostkarte

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