Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Sonntag 19ten [Dezember 1880] Unsere Nacht endigte mit einem ziemlich guten Frühschlaf – aber R.’s Antlitz ist ernst, wie er mir den guten Morgen bietet. Er hat schon etwas gelesen, im „Amadis“[1] vom Gfen Gob.[2], und ist wenig erbaut von der fr. Poesie; das Silbenzählen, welches den Rhythmus ausscheidet, ist ihm widerwärtig. – Um Mittag liest er mir das Konzept seines Briefes an Herrn Frege für Hans [von Bülow].[3] Ernste Stimmung. Am Nachmittag gehen wir im Hofgarten spazieren, am Abend schreibt R. seinen Brief ab, und nach der Mahlzeit beschließen wir die Novelle von Cervantes[4] mit immer mehr Freude daran. „Ich sehe das Auge, welches alles das sah“ – oft wurde ich durch lautes Gelächter von den Zuhörenden unterbrochen; jeder Zug fesselt uns, und alle Nachbildungen scheinen uns prosaisch plump gegen das Muster. „So leichtfüßig“ erscheint ihm dieses liebenswürdige Meister-Werk! Bei Tisch kam R. wieder auf den „Amadis“, der leichte Ton, die Nachahmung des Ariost[5] ist ihm unangenehm. (Gestern vor dem Abendbrot kam er zu mir und erzählte mir, er habe soeben eine große Spinne in seinem Stübchen gesehen, und wie er hinuntergekommen sei, hätte eine Anzeige der Braunschweiger Lotterie dagelegen. Er möchte Fidi[6] ein Los nehmen lassen.) Er ärgerte sich über das Grimm’sche Wörterbuch und seine ungeordnete Herausgabe.[7] Über Bismarck’s Protzigkeit[8] gegen die griechischen Gesandten aber amüsierte er sich. – Ein Brief von Busch[9] philosophischen Inhaltes, den mir K[apell]meister Levi[10] mitteilte, mißfällt ihm; er sagt, er habe einen Bierbrauerssohn gekannt, der gerade so schrieb. Aber wir Frauen, wir faßten bei irgendeiner Gelegenheit eine gute Meinung von jemand, und dann ließen wir sie nicht fahren. Und das sei schön von uns.
Fußnoten
[1] Amadis = Das Heldengedicht Amadis von Gobineau erschien erst aus dessen Nachlass 1887; RW hat das Manuskript vermutlich Ende Oktober 1880 in Venedig direkt vom Autor erhalten.
[2] Gobineau , Joseph Arthur Graf von (1816–1882) war ein französischer Diplomat, Schriftsteller und Rassentheoretiker, der die Arier als Elite. Mit seinem Essai sur l’inégalité des races humaines (Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen) und weiteren Schriften beeinflusste er Nietzsche und RW, den er 1876 in Rom kennenlernte und der nach dem Treffen in Venedig noch mehrfach nach Bayreuth kommen sollte.
[3] In besagtem Brief an Arnold Frege (1841–1916), den Neffen von Cosimas erstem Mann Hans von Bülow, geht es vermutlich um Geld für Tochter Daniela aus einer Stiftung von deren Vater.
[4] „Rimorete und Contado“ von Cervantes.
[5] Ariosto, Ludovico (1474–1533), italienischer Humanist, Militär, Höfling und Autor; sein Hauptwerk, das Versepos Orlando furioso, gilt als einer der wichtigsten Texte der italienischen Literatur und wurde in ganz Europa rezipiert.
[6] Fidi = Siegfried Wagner (1869–1930), einziger Sohn von Cosima und Richard Wagner, Dichterkomponist und Festspielleiter.
[7] Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm, Jacob (1785–1863) kam zu deren Lebzeiten über Artikel zum Buchstaben F nicht hinaus. Nachfolgende Generationen von Sprachwissenschaftlern setzten die Arbeit fort, die erst 123 Jahre nach Beginn der Arbeit mit Band 32 abgeschlossen werden konnte; der Quellenband Nr. 33 erschien 1971, die 1957 begonnene Neubearbeitung erstreckte sich bis 2016. Dass bei einem solchen, schon von den Gebrüdern Grimm unterschätzten Mammutvorhaben, der Zeit- und Veröffentlichungsplan mehr als dehnbar sein musste, zeigt sich aktuell auch an der 1967 begonnenen Herausgabe sämtlicher Briefe von RW, von denen weit mehr als 10 000 erhalten sind. Aktuell ist die auf 35 Bände angelegte Edition im Verlag Breitkopf & Härtel bei Band 25 angelangt. Ob die Schreiberin dieses Blogs noch das Erscheinen des Schlussbands erleben darf?
[8] Nein, bei aller Liebe, von der Tagespolitik lass ich die Finger!
[9] In den Tagebuch-Anmerkungen wird verwiesen auf: Busch, Moritz (1821–1899), Journalist und Redakteur des Grenzboten, ab 1870 Assistent Bismarcks in Presseangelegenheiten, schrieb Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich, 2 Bde., Leipzig 1878; RW nahm darauf Bezug in seinem Beitrag „Ein Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876“ in den Bayreuther Blättern vom Dezember 1878. Der Bismarck-Bezug könnte die Kommentatoren dazu verleitet haben, aber dabei wird nicht nur der Gedankenstrich missachtet, der an dieser Stelle ein neues Thema bedeutet. Nach meinen Recherchen dürfte es sich hier vielmehr um den berühmten Dichter und Zeichner Wilhelm Busch (1832–1908) handeln, mit dem Hermann Levi befreundet war und der in der Korrespondenz zwischen Cosima und Levi immer wieder vorkommt, der Grenzboten-Redakteur aber gar nicht.
[10] Levi, Hermann (1839–1900), Sohn eines Rabbiners, Komponist und Dirigent, einflussreicher Hofkapellmeister in Karlsruhe und München, Dirigent der Parsifal-Uraufführung in Bayreuth und weiterer Aufführungen dort bis 1894, der wegen seiner Abstammung sowohl von den Wagners als auch dem Festspielumfeld immer wieder Ablehnung erfahren musste.
Aus: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten aus unterschiedlichen Quellen.
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