Tagebuch-Adventskalender (6)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.
Wag­ner mit Ni­ko­laus­müt­ze war Be­stand­teil ei­nes ver­grif­fe­nen Post­kar­ten­sets „Weih­nacht mit Wag­ner…“ aus dem mvs-Ver­lag von Mi­cha­el von So­den, dem 2018 ver­stor­be­nen Wagner-Autor.

Mon­tag 6ten [De­zem­ber 1880] Eine schlaf­lo­se Nacht hat für mich den Ver­lust des Früh­ge­sprächs zur Fol­ge. Bis 11 war­tet R. auf mich für das Früh­stück, nimmt es dann al­lein ein und kommt ge­gen 12 zu mir, die ich im­mer ab­wech­selnd schlief und wach­te. Er liest mir halb zu un­se­rem Ent­set­zen, halb zu un­se­rem Gau­di­um ei­ni­ges aus der Of­fen­ba­rungs-Phi­lo­so­phie von Schel­ling[1], wor­in der Be­griff Gott wie das Steh­männ­chen un­ge­fähr be­han­delt wird. Um 1 Uhr Freund Stein[2], gro­ße Freu­de, ihn wie­der­zu­se­hen, na­ment­lich in Be­zie­hung auf Fidi[3]; Hoff­nung, daß doch noch das Ver­hält­nis auf­recht­zu­er­hal­ten ist, daß Stein alle Jah­re auf ei­ni­ge Mo­na­te zu uns kommt und spä­ter Fidi zu ihm in Hal­le. – Er will in Hal­le Scho­pen­hau­er[4] do­zie­ren, und zwar auf An­trieb R.’s, der es für durch­aus not­wen­dig an­sieht, daß die Leh­re als Grund­la­ge der Er­zie­hung ge­ge­ben wer­de. Freund Jou­kow­sky[5] kam auch von Dres­den heim. Man­cher­lei Er­zäh­lun­gen. Abends kommt R. auf sei­ne kosmo­go­ni­schen Ge­dan­ken zu­rück und sagt u.a.: Man sieht es der Be­völ­ke­rung von Afri­ka förm­lich an, daß sie täp­pisch nach­ge­scho­ben (and­re Aus­drü­cke, die ich lei­der ver­gaß) kam.[6] In der Form von Ame­ri­ka fin­det er die Wie­der­ho­lung der and­ren Welt-Form, nur schlan­ker, voll­kom­me­ner. Er ist sehr hei­ter, und wie er von dem plötz­li­chen Ver­las­sen von Nea­pel spricht, sagt er: Wie ich die Hüh­ner­au­gen im Ge­sicht be­kam.[7] Dann: Er sei in der Ju­gend sei­nes 3ten Menschen-Alters.

Fuß­no­ten
[1] Schel­ling, Fried­rich Wil­helm Jo­seph (1775–1854), Phi­lo­soph, An­thro­po­lo­ge, ei­ner der Haupt­ver­tre­ter des Deut­schen Idea­lis­mus, der Of­fen­ba­rungs- so­wie der spe­ku­la­ti­ven Naturphilosophie.
[2] Stein, Karl Hein­rich von (1857–1887), Phi­lo­soph und Schrift­stel­ler, Haus­leh­rer von Fidi 1879 bis 1880, an­schlie­ßend Pri­vat­do­zent in Hal­le. Zu sei­nem Buch Hel­den und Werk (1883) schrieb RW kurz vor sei­nem Tod noch das Vorwort.
[3] Fidi = Sieg­fried Wag­ner (1869–1930), ein­zi­ger Sohn von Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner, spä­te­rer Dich­ter­kom­po­nist und Festspielleiter.
[4] Scho­pen­hau­er, Ar­thur (1788–1860), Phi­lo­soph, der mit sei­nem Haupt­werk Die Welt als Wil­le und Vor­stel­lung RW maß­geb­lich be­ein­fluss­te, so­gar bis hin­ein ins Pri­vat­le­ben, be­zeich­ne­te sich doch das wei­land ehe­bre­che­ri­sche Paar gern als Will (RW) und Vorstel (Co­si­ma), wo­von u.a. Te­le­gram­me zeugen.
[5] Jou­kow­sky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[6] Hier of­fen­bart sich un­ge­schminkt RWs Rassismus.
[7] Ge­meint ist RWs Gesichtsrose.

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fußnoten

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