Siegfried, der „Erbe seines angebeteten Vaters“

Heu­te vor 150 Jah­ren wur­de in Trib­schen bei Lu­zern Ri­chard Wag­ners ein­zi­ger Sohn Sieg­fried ge­bo­ren. Der Juni ist, wenn man ge­nau­er hin­schaut, üb­ri­gens ein Wagnerfamilien-Geburtstags-Monat.
In die­ser Vil­la in Trib­schen bei Lu­zern wur­de am 6. Juni 1869 Sieg­fried Wag­ner ge­bo­ren. Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Richard-Wagner-Stiftung

Dass der Mo­nat Juni in der Wag­ner-Fa­mi­lie vol­ler Ge­burts­ta­ge steckt, ist mir zum ers­ten Mal auf­ge­fal­len, als ich an­ge­fan­gen habe, mei­nen im­mer­wäh­ren­den Wag­ner-Ka­len­der auf­zu­bau­en. Die ers­te Ge­ne­ra­ti­on nach Ri­chard und Co­si­ma bie­tet mit Sieg­fried Wag­ner und Wi­nif­red Wil­liams gleich zwei maß­geb­li­che Juni-Ge­burts­tags­kin­der auf, un­ter den ins­ge­samt Ur­en­keln sind es im­mer­hin vier, die in die­sem Mo­nat Grund zum Fei­ern ha­ben. Der Ju­bi­lar des Ta­ges ist Sieg­fried, der ein­zi­ge Sohn von Co­si­ma und Ri­chard Wag­ner, der heu­te vor 150 Jah­ren in Trib­schen ge­bo­ren wurde.

Schon im­mer war die Ge­burt ei­nes Kron­prin­zen, des Thron­fol­gers, ein be­son­de­res Er­eig­nis – auch und ge­ra­de bei den Royals von Bay­reuth, in de­nen zwar von müt­ter­li­cher Sei­te her durch­aus et­was blau­es Blut steckt, die aber auch ohne ein­schlä­gi­ge Ab­stam­mung ihr ei­ge­nes Kö­nig­reich ge­sucht und ge­fun­den ha­ben. Wie Ri­chard Wag­ner sei­nen Stamm­hal­ter be­grüß­te, kann man de­tail­liert und in sei­ner Hand­schrift in den Ta­ge­bü­chern sei­ner noch nicht an­ge­trau­ten, nach wie vor mit Hans von Bülow ver­hei­ra­te­ten Frau Co­si­ma nach­le­sen, denn er über­nahm, als die Ge­burt un­mit­tel­bar be­vor­stand, die Ein­tra­gun­gen in dem Quart­heft, das Co­si­ma zu­erst pau­schal ih­ren Kin­dern und dann Sieg­fried im Be­son­de­ren zu­eig­ne­te. Hier ei­ni­ge Auszüge:

Die Amme kam zu­rück, R. ent­fern­te sich wie­der in das Ne­ben­zim­mer; dort blieb er Oh­ren­zeu­ge des Ent­bin­dungs­vor­gan­ges u. hör­te den Jam­mer der ge­bä­ren­den Mut­ter an. Da er Vren­e­li hin­zu­kom­men hört und auch ei­ni­ge Wor­te der Amme ver­nimmt, wie sie be­stürzt aus­ruft: Ach, Herr Gott im Him­mel! glaubt R., et­was Furcht­ba­res sei mir ge­sche­hen, eilt auf die Trep­pe, um es von der da­von­stür­zen­den Vren­e­li zu er­fah­ren: die­se aber lacht ihm freu­dig ent­ge­gen: „Ein Sohn ist da!“ Ihre Be­stür­zung hat­te nur der Über­ra­schung ge­gol­ten, weil so we­nig noch vor­be­rei­tet war. Jetzt ging R. in den Sa­lon zu­rück: von der ohn­mäch­ti­gen Mut­ter ver­nahm er we­nig mehr, da­ge­gen un­ter­schied er nun deut­lich das kräf­ti­ge Schrei­en des Kna­ben. Er starr­te in er­ha­be­ner Be­deu­tung vor sich hin; da über­rasch­te ihn ein un­glaub­lich schö­ner Feu­er­glanz, der an der Oran­ge-Ta­pe­te zu­nächst der Schlaf­zim­mer­tü­re mit nie ge­se­he­ner Far­ben­glut sich ent­zün­de­te und auf die blaue Scha­tul­le mit mei­nem Por­trait sich zu­rück­spie­gel­te, so dass die­ses, von Glas über­deckt und mit ei­nem klei­nen Gold­rah­men ein­ge­fasst, in über­ir­di­scher Pracht sich ver­klär­te. Die Son­ne war so­eben über den Rigi her­vor­ge­tre­ten und hat­te ihre ers­ten Strah­len her­ein­ge­wor­fen: der glor­reichs­te Son­nen­tag leuch­te­te. R. zer­floss in Trä­nen; da dringt auch mir das Früh­ge­läu­te der Sonn­tags­glo­cken von Lu­zern über den See her­über. Er sah nach der Uhr und be­merk­te, dass sein Sohn um 4 Uhr des Mor­gens ge­bo­ren wor­den war. – Ge­gen 6 Uhr konn­te R. bei mir vor­ge­las­sen wer­den; er teil­te mir sei­ne fei­er­li­che Er­grif­fen­heit mit. Ich war hei­ter und froh ge­stimmt: das Ge­schenk, wel­ches uns das Schick­sal durch die Ge­burt ei­nes Soh­nes mach­te, er­schien mir so­gleich von un­er­mess­lich tröst­li­chem Wer­te. Ein Sohn R.’s ist der Erbe und eins­ti­ge Ver­tre­ter des Va­ters sei­ner Kin­der; er wird der Schüt­zer und Ge­lei­ter sei­ner Schwes­tern sein. Wir wa­ren sehr glück­lich. Der Kna­be ist groß u. stark: sie sag­ten, er wie­ge 2 Pf und schwe­rer als and­re neu­ge­bor­ne Kna­ben. Wir be­spra­chen sei­nen Na­men: Sieg­fried Ri­chard. R. trieb es, sei­ne Freu­de dem Hau­se zu be­zeu­gen: er ließ an die Haus­leu­te an­sehn­li­che Ge­schen­ke verteilen.

Tat­säch­lich be­glück­te er ins­be­son­de­re sein Pa­ten­kind Wil­helm Ri­chard Sto­cker mit ei­ner wert­vol­len gol­de­nen Uhr und sprach den Wunsch aus, er möge sich zu Sieg­fried wie Kur­we­nal zu Tris­tan ver­hal­ten. Kein Wun­der, denn mög­li­cher­wei­se war Wag­ner selbst der Va­ter des am 4. Ok­to­ber 1868 ge­bo­re­nen ers­ten Sohns von Haus­häl­te­rin Vren­e­li, der die Vor­na­men sei­nes mut­maß­li­chen Va­ters be­kam. Wie schon bei sei­ner erst­ge­bo­re­nen Toch­ter Isol­de, die sei­ne Va­ter­schaft spä­ter ver­geb­lich ein­kla­gen soll­te, über­nahm Wag­ner die Pa­ten­schaft. Vren­e­lis Sohn schick­te er bis zu sei­nem Tod re­gel­mä­ßig Geld und Geschenke.

Wei­te­re län­ge­re Ein­tra­gun­gen durch Wag­ners Hand fol­gen, ver­mut­lich nach dem Dik­tat Co­si­mas. Am Mitt­woch, den 9. Juni 1869, schreibt er un­ter an­de­rem aus dem drit­ten „Sieg­fried“-Akt in No­ten und Text Brünn­hil­des ei­gens lang ge­dehn­tes Fi­na­le „Leuch­ten­de Lie­be, la­chen­der Tod“ auf. Erst am Sonn­tag, den 13. Juni, hat­te sich Co­si­ma so weit er­holt, dass sie sich wie­der in ih­rer Hand­schrift zu Wort mel­de­te: „O Heil dem Tag, der uns um­leuch­tet, heil der Son­ne, die uns be­scheint! – – – Wie will ich Ärms­te die Ge­füh­le nie­der­schrei­ben, mit wel­chen ich die­ses Buch wie­der in die Hand neh­me? … Als die Frau mir sag­te: ‚Ich gra­tu­lie­re, es ist ein Knäb­lein‘ – muss­te ich wei­nen und la­chen und be­ten. – Er­hal­te ihn mir, Gott­heit, die mir ihn gab, er sei die Stüt­ze sei­ner Schwes­tern, der Erbe sei­nes an­ge­be­te­ten Va­ters.“ Und weiter:

Nun mein Glück so süß greif­bar mir vor Au­gen liegt, er­scheint es mir im­mer hef­ti­ger, kör­per­lo­ser, ich sehe es schwe­ben, sich er­he­ben hoch über alle Nöte und kann nur der Welt­see­le dan­ken, die uns durch sol­ches Zei­chen ver­kün­de­te, dass sie uns freund­lich ist. Pracht­voll leuch­tet der Tag, ich schlief die Nacht nicht, be­fin­de mich aber wohl. Ich über­leg­te ei­nen an Hans zu schrei­ben­den Brief, wor­in ich ihm mein frü­he­res, mein jet­zi­ges und mein künf­ti­ges Ver­hält­nis zu ihm (wenn er dar­auf ein­ge­hen will!) dar­le­gen will. Gott gebe mir das Rich­ti­ge, um ihm ein we­nig zu hel­fen. R. ar­bei­tet, ich höre es mit Won­ne; wie er zu mir her­auf­kommt, teilt er mir mit, wie wun­der­bar es sich fügt, dass sein Ju­bel-The­ma („sie ist mir al­les“) sich zu dem Mo­tiv „Heil der Mut­ter, die mich ge­bar“ als Be­glei­tung vor­treff­lich an­schmiegt, so dass die­ser Ju­bel im Or­ches­ter un­un­ter­bro­chen in, wo Sieg­fried selbst dar­in ein­stimmt, erklingt.“

Sie schließt ih­ren Ju­bel­sang wie folgt: „Bei wun­der­bars­tem Son­nen­un­ter­gang, beim Fens­ter lie­gend, schrei­be ich die­se Zei­len. Könn­te ich ei­nen Hym­nus an die Gott­heit sin­gen! R. singt ihn für mich, der mei­ni­ge ist mei­ne Lie­be zu ihm. Mein Sieg­fried, Kro­ne mei­nes Le­bens, zei­ge du, wie ich dei­nen Va­ter ge­liebt! – Den Tee mit R. ge­trun­ken. Um 9 zu Bett. R. liest mir aus D. Qui­xo­te vor.“

Der ur­sprüng­li­che Plan, den neu­ge­bo­re­nen Sohn zu­hau­se in der Trib­sche­ner Vil­la vom evan­ge­li­schen Pfar­rer tau­fen zu las­sen, wur­de eben­so schnell wie­der fal­len ge­las­sen wie an­de­re mög­li­che Al­ter­na­ti­ven, denn ju­ris­tisch ge­se­hen hät­te das Kind Sieg­fried von Bülow hei­ßen müs­sen: „Ver­zö­ge­rung dünkt rät­lich“, no­tiert Ehe­bre­cher Wag­ner am 11. Juni ins Ta­ge­buch sei­ner ihm noch nicht an­ge­trau­ten Frau. Tat­säch­lich soll­te es noch mehr als ein Jahr dau­ern, bis Hel­fe­rich Sieg­fried Ri­chard Wag­ner am 4. Sep­tem­ber ge­tauft wer­den konn­te, kurz nach der end­lich er­folg­ten Hei­rat sei­ner El­tern am 25. Au­gust 1870. Und noch spä­ter, zum 33. Ge­burts­tag sei­ner Mut­ter, er­klang am 25. De­zem­ber 1870 erst­mals im Trep­pen­haus je­nes Mu­sik­stück, die „Trib­scher Idyl­le“, die spä­ter als Sieg­fried-Idyll be­rühmt wer­den soll­te und Fried­rich Nietz­sche selbst dann noch als „hei­ter und tief, wie ein Nach­mit­tag im Ok­to­ber“ schätz­te, als er sich von Wag­ner ab­ge­wandt hatte.

Co­si­ma, Sieg­fried und Ri­chard Wag­ner am 1. Fe­bru­ar 1874 Foto: Adolf von Groß, Vor­la­ge: Na­tio­nal­ar­chiv der Richard-Wagner-Stiftung

Die wei­te­ren Juni-Ge­burts­tags­kin­der sei­en hier zu­min­dest noch er­wähnt: Ges­tern, am 5. Juni 2019, fei­er­te Amé­lie Hoh­mann, das äl­tes­te der fünf Kin­der von Sieg­fried-Toch­ter Ve­re­na und Bodo Laf­fer­entz, ihr 75. Wie­gen­fest – jene Ur­en­ke­lin, die ver­mut­lich in ei­nem wei­ßen Ak­ten­schrank in Mün­chen noch al­ler­hand aus dem Nach­lass ih­rer Groß­mutter Wi­nif­red Wag­ner ver­wahrt, das für die Öf­fent­lich­keit und die Wag­ner­for­schung von In­ter­es­se sein könn­te. Die Letzt­ge­nann­te wur­de als Wi­nif­red Mar­jo­rie Wil­liams am 23. Juni 1897 im bri­ti­schen Has­tings ge­bo­ren. Ter­min­lich da­zwi­schen lie­gen aus der Ur­en­kel­ge­nera­ti­on die Wie­land-Töch­ter Nike Wag­ner (9. Juni 1945) und Iris Wag­ner (12. Juni 1942) so­wie Ve­re­na-Sohn Wie­land Laf­fer­entz (11. Juni 1949), der Co­si­ma-En­kel Man­fre­di Gra­vina (14. Juni 1883) und Wolf­gang Wag­ners zwei­te Frau Gud­run Ar­mann (15. Juni 1944). Nicht zu ver­ges­sen der ver­mut­li­che Va­ter des Wag­ner­clan-Stamm­va­ters: Fried­rich Wil­helm Wag­ner, der ers­te Mann von Wag­ners Mut­ter Jo­han­na Ro­si­ne Paetz, kam am 18. Juni 1770 in Leip­zig auf die Welt und starb ein hal­bes Jahr, nach­dem sein Sohn Ri­chard ge­bo­ren ward.

Ge­nie im Schat­ten: Sieg­fried und Ri­chard Wag­ner (Ka­ri­ka­tur)