Wir begleiten Cosima Wagner mitsamt ihrem R. und der ganzen Patchworkfamilie durch den Dezember vor 140 Jahren.
Freitag 3ten [Dezember 1880] R. träumte so lebhaft von einer großen schwarzen Warze, daß er in der Frühe aufstand und sich im Spiegel besah. Wir lachten. Kurz aber darauf sagt er: Du warst traurig gestern abend, und ich bin es jetzt – unser Gespräch ist bald aber wieder lebendig, und er sagt, im Mittelalter habe der Begriff Ehre das ersetzt, was bei den Griechen die Schönheit war, denn die Griechen hatten keine Moral, sondern alles Ziemliche und alles Heroische gehörte zum Schönen. Bei den Römern war es die Honestas[1]. Die Neueren hätten diesen unsinnigen Begriff der Ehre dafür ausgearbeitet. Wir besprechen die Wanderjahre[2] von Goethe, und R. sagt, hierüber wie über die Renaissance[3] sollte ich für die Blätter[4] schreiben; ich wiederhole ihm meine Unfähigkeit, nach außen hin zu sprechen, so gern ich ihm alles, was mir einfiele, mitteilte.[5] Es ist sehr schönes Wetter, R. fordert mich auf, mit ihm um 1 Uhr im Hofgarten spazierenzugehen; wie die Militär-Musik erklingt, überrascht uns beide der bloße Klang aus der Ferne ganz überwältigend. „Was das für ein göttliches Ding ist, die Musik, wenn so ein Blas-Instrument erklingt, wie einem zu Mute wird“, – dann lacht er und sagt: „So ein armer Soldat muß nun in Extase geraten.“ – – Ich erwähne eine Stelle aus Joukowsky’s[6] Brief und daß – weil er die Sixtina[7] und den Zinsgroschen[8] so in sich habe – sie ihm beim Sehen keinen rechten Eindruck mehr machten. – Mit der Musik könne es einem wohl nicht so gehen, und so viel man an sie dächte, eine Melodie überrasche immer, wenn sie erklinge. R. gibt mir recht. Am Nachmittag gehen wir wiederum spazieren und sind für einen schönen Sonnenuntergang herzlich dankbar. – R. mummelt sich dann in seinem Stübchen ein und sagt, er habe schon damals an Uhlig[9] diese Sehnsucht nach Behagen ausgedrückt, [ich:] „Damals aber, weil du keine Liebe hattest“; „um so besser, wenn es mit Liebe vereint ist“. – – Er gedachte beim Kaffee seines Ausspruches an Uhlig über den Ring: „So etwas habe ich immer nur im Scherz gesagt, und doch habe ich immer Großes von dem, was ich machte, gehalten und daß kein andrer es machen könnte.“ – Abends liest er das Wort Lied in J. Grimm[10], und wir freuen [uns] dessen, „es ist immer Natur, die geistige Natur des Menschen, welcher man auf die Spur kommt“. – Über die Neugestaltung der Blätter [siehe 3], ob lebensfähig – es handle sich um Personen, die viel Witz und Geist haben müßten. An die „Parerga“[11] von Schopenhauer sich anlehnend, müßte man nur kritisch verfahren, die Geschichte, die Literatur, das Unterrichtswesen. R. betont es immer wieder, wie herrlich es von Schop. sei, bei der vollsten, freiesten Erkenntnis alles auf die Moral, und zwar auf das Mitleiden [zu geben], sich in seinem Nächsten erkennen und sich lieber opfern als diesen. – Wir waren allein, R. und ich, und fühlten uns glücklich; o gäbe es kein Außen, wäre es möglich, also Gedanken austauschend in friedlichem Gewahren des Erblühens der Kinder zu sein. Aber – – das ist zu viel gefordert, wenn auch R. sagt, er führe die Spiele für die Kinder auf! – Diese ideale Freude bringt R. auf das Zitat „doch nichts glich dem Behagen“[12], und wir beschließen den Tag im Gedenken dieses zweiten Teiles der schönen Dichtung. „In ‚W. Meister‘ sind es Schemen.“ Eine Illustration von „Hermann & Dorothea“[13] hatte mit Goethe’schen Versen darunter den Ausruf ihm entrissen: „Sie sind so schlecht gemacht.“ – –
Fußnoten
[1] Tugend der Ehrlichkeit, Ehrenhaftigkeit
[2] Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre
[3] La Renaissance. Scènes historiques von Joseph Arthur Graf de Gobineau (1816–1882) war seit Wochen Lektüre der Wagners. G. bezeichnete in seinem Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen die Arier als „Edelrasse“ und plädierte für eine „Moral der Stärke“, was u.a. auch Friedrich Nietzsche und Houston Stewart Chamberlain, den späteren Ehemann von Wagner-Tochter Eva, beeinflusste. Im Mai 1881 besuchte G. RW erstmals in Bayreuth und fuhr mit der Familie auch nach Berlin zur Ring-Aufführung im Victoria-Theater.
[4] Bayreuther Blätter, Hauszeitschrift der Festspiele von 1878 bis 1938.
[5] Hier unterschlägt Cosima ihre journalistischen Arbeiten und Übersetzungen, die während ihrer ersten Ehe mit Hans von Bülow in Berlin entstanden und veröffentlicht wurden.
[6] Joukowsky, Paul von (1845–1912), eigtl. Pawel Wassiljewitsch Schukowkski, Maler und Parsifal-Bühnenbildner 1882, lernte RW Anfang 1880 in Neapel kennen, zog nach Bayreuth und wurde ein intimer Freund der Familie.
[7] Sixtinische Madonna, Gemälde von Raffael (1512).
[8] Der Zinsgroschen, Gemälde von Tizian (ca. 1516).
[9] Uhlig, Theodor (1822–1853), Violinist, Freund RWs in Dresden, schrieb den Lohengrin-Klavierauszug, war wg. der Sichtung von RWs Korrespondenz mit ihm in den Zürcher Jahren ein Thema.
[10] Grimm, Jacob (1785–1863), Sprachwissenschaftler und Jurist. RW befasste sich mehrfach intensiv mit dessen Deutscher Mythologie und Über den altdeutschen Meistersang sowie den Deutschen Sagen von G. und dessen Bruder Wilhelm.
[11] Parerga und Paralipomena, zweibändige Sammlung kleiner philosophischer Schriften von Arthur Schopenhauer (1851).
[12] Zitat aus Goethes Wahlverwandtschaften.
[13] Epos in neun Gesängen von Goethe (1797).
Quelle: Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2, Piper Verlag München 1977, hier mit erweiterten und zusätzlichen Fußnoten
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