Tagebuch-Adventskalender (8)

Wir be­glei­ten Co­si­ma Wag­ner mit­samt ih­rem R. und der gan­zen Patch­work­fa­mi­lie durch den De­zem­ber vor 140 Jahren.

Ti­zi­ans „Ass­un­ta“, Al­tar­bild aus der Fra­ri-Kir­che, das Wag­ner mehr­fach und nach­hal­tig in­spi­rier­te. Vor­la­ge: Wi­ki­me­dia Commons

Mitt­woch 8ten [De­zem­ber 1880] R. hat­te eine auf­ge­reg­te Nacht; eine ex­zen­tri­sche Lau­ne von Lusch[1] hat­te uns Be­sorg­nis ein­ge­flößt. Doch ist wie im­mer un­ser Mor­gen-Ge­spräch sehr gut ge­launt. Heu­te war es, wo wir über die Ge­rech­tig­keit des Le­bens spra­chen, und im­mer wie­der kommt R. dar­auf zu­rück, daß die­se Welt eine mo­ra­li­sche Be­deu­tung habe und daß es auf Re­si­gna­ti­on an­kä­me, d.h. auf die Er­kennt­nis der Tra­gik des Da­seins. Er geht aus, und abends ver­brin­gen wir die Zeit in Er­in­ne­run­gen an Ita­li­en, Sie­na und Ve­ne­dig vor al­lem. (Von der Ass­un­ta[2] wur­de wie­der bei Tisch ge­spro­chen, und R. sag­te, in dem Aus­druck sei der Schmerz der ge­bä­ren­den Mut­ter und des Lie­bes-Ent­zü­ckens ge­mischt, und des­halb stö­ren ei­nen die so na­hen Apos­tel und Jün­ger und alle die­se Miß­ver­hält­nis­se. Aber wie ich ihm sage, daß ihm Jou­kow­sky[3] recht gäbe, so tut es ihm leid, und er sagt, ich täte wohl, so un­be­dingt dem Künst­ler in sei­nem Wer­ke zu fol­gen und ihn zu ver­tei­di­gen.) Auch die Jung­fer Schmidt[4] aus Mün­chen wird er­wähnt, und wie wir uns nach die­ser freund­li­chen Plau­de­rei tren­nen, sagt er mir, ich sei das gute Prin­zip, wel­ches al­les ver­ei­nig­te. – Und nur sei­ne Son­ne ist es, die uns er­wärmt und Strah­len verleiht.

Fuß­no­ten
[1] Lusch = Lulu = Lou­lou = Sen­ta = Da­nie­la von Bülow (1860–1940, ab 1886 verh. Tho­de), ers­te Toch­ter von Co­si­ma und Hans von Bülow.
[2] Ass­un­ta = „die Auf­ge­nom­me­ne“ = Ma­riä Him­mel­fahrt, ist ein Ge­mäl­de des ita­lie­ni­schen Ma­lers Ti­zi­an von 1516 bis 1518. Das für die Kir­che San­ta Ma­ria Glo­rio­sa dei Fra­ri in Ve­ne­dig ge­schaf­fe­ne Öl­bild misst 6,90 mal 3,60 Me­ter, ist das größ­te Al­tar­ge­mäl­de der Stadt und zu­gleich das größ­te je­mals von Ti­zi­an ge­mal­te Werk. Wag­ner und spä­ter sei­ne Fa­mi­lie lern­ten die Ass­un­ta in der Gal­le­ria dell’ Ac­ca­de­mia ken­nen (wo sie von 1816 bis 1919 hing) und be­such­ten sie im­mer wie­der. Sie ist heu­te wie­der an ih­rem Ur­sprungs­ort, der Fra­ri-Kir­che, zu be­wun­dern. Die Ass­un­ta soll RW im­mer wie­der in­spi­riert ha­ben, si­cher für Tris­tan und Isol­de, nach ei­ge­nen An­ga­ben auch für die Meis­ter­sin­ger. Co­si­ma dik­tier­te er für sei­ne Au­to­bio­gra­phie Mein Le­ben zu sei­nem Ve­ne­dig-Auf­ent­halt 1861 mit dem Ehe­paar We­sen­don­ck: „Bei al­ler Teil­nahms­lo­sig­keit mei­ner­seits muss ich je­doch be­ken­nen, daß Ti­zi­ans Him­mel­fahrt der Ma­ria im gro­ßes Do­gen­saa­le eine Wir­kung von er­ha­bens­ter Art auf mich aus­üb­te, so daß ich seit die­ser Emp­fäng­nis in mir mei­ne alte Kraft fast wie ur­plötz­lich wie­der be­lebt fühl­te. Ich be­schloß die Aus­füh­rung der Meis­ter­sin­ger.“ Die fälsch­li­che Ver­qui­ckung der Ass­un­ta mit dem Do­gen­saal er­gibt sich aus Wag­ners An­na­len-No­ti­zen im sog. Brau­nen Buch, wo­bei er dort über den frag­li­chen Tag nur in Stich­wor­ten, mit Punk­ten ab­ge­setzt, chro­no­lo­gisch schreibt: „Di­ner Al­ber­go St. Mar­co. Ma­riä Him­mel­fahrt von Ti­ti­an. Do­gen­pa­last.“ Man darf also an­neh­men, dass das wo­mög­lich bloß eine von meh­re­ren In­spi­ra­ti­ons­le­gen­den RWs ist.
[3] Jou­kow­sky Paul von (1845–1912), eigtl. Pa­wel Was­sil­je­witsch Schu­kowk­ski, Ma­ler und Par­si­fal-Büh­nen­bild­ner 1882, lern­te RW An­fang 1880 in Nea­pel ken­nen, zog nach Bay­reuth und wur­de ein in­ti­mer Freund der Familie.
[4] Schmidt, Vor­na­me nicht be­kannt: Nach dem lan­gen Ita­li­en-Auf­ent­halt 1880 lo­gier­ten die Wag­ners bei ih­rer drei­wö­chi­gen Zwi­schen­sta­ti­on von 31. Ok­to­ber bis 17. No­vem­ber in Mün­chen bei „Jung­fer Schmidt in Bri­en­ner­stra­ße 8 c“, ver­mut­lich im da­ma­li­gen Ho­tel Ma­ri­en­bad. „Selt­sam, aber see­len­voll!“, no­tier­te dazu Co­si­ma am 31. Ok­to­ber 1880, weil sie da­mit un­weit der Bri­en­ner­stra­ße 21 wa­ren, dem ers­ten Haus RWs in Mün­chen, das er von Ok­to­ber 1864 bis zu sei­ner Aus­wei­sung aus Mün­chen An­fang De­zem­ber 1865 be­wohnt hat­te. War jetzt die Jung­fer selt­sam, aber see­len­voll? Oder wa­ren es nur die Erinnerungen?

Quel­le: Co­si­ma Wag­ner, Die Ta­ge­bü­cher, Band 2, Pi­per Ver­lag Mün­chen 1977, hier mit er­wei­ter­ten und zu­sätz­li­chen Fuß­no­ten aus un­ter­schied­li­chen Quellen.

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