Heute steht in Cosimas Tagebucheintrag eindeutig Wagners Antipode Giuseppe Verdi im Vordergrund, eben weil er dezent im Hintergrund geblieben ist.
Sonnabend 2ten [Dezember 1871] Mit den Kindern gesprochen, viel Kummer. Dazu allerlei Briefe (Gerson[1], Rothschild[2], Frau Tausig[3], Gräf. B.[4], Marie Schl.[5]). R. arbeitet an seinem Exposé[6]. Bericht aus Italien, Verdi[7] der Aufführung von Lohengrin beigewohnt, vom Publikum deshalb bejubelt, jedoch nicht von dem Hintergrunde der Loge hervorgegangen, um nicht [von] dem Ernst der Aufführung abzulenken. Wir lesen immer in Schopenhauer[8]. Erhebung über das Dasein.
[1] Wojciech Gerson (1831–1901), polnischer Maler und Zeichner.
[2] Rothschild (Messieurs de Rothschild Frères) = Bankhaus in Paris, 1817 gegründet von Jakob de Rothschild, ab 1855 geleitet von Alphonse de Rothschild (1827–1905).
[3] Mutter des im Juli 1871 früh verstorbenen Pianisten, Komponisten, Klavierauszügler und Patronatsverein-Erfinder Karl Tausig, dem Wagner den 2. und 3. Akt der „Tristan“-Originalpartitur geschenkt hatte. Bei der Suche nach dem wertvollen Original waren die Wagners gerade schließlich bei Musikdirektor Albert Bratfisch in Rostock fündig geworden.
[4] Gräf. B. = Caroline Gräfin Waldbott von Bassenheim (1824–1889), Nachbarin in Tribschen, war eine prominente Persönlichkeit, denn ein Bildnis der damaligen 19-jährigen Prinzessin zu Oettingen-Wallerstein von Hofmaler Joseph Karl Stieler wurde 1843 Bestandteil der Schönheitengalerie König Ludwigs I. von Bayern.
[5] Marie von Schleinitz, geb. von Buch, genannt Mimi (1842–1912) war lebenslang eine wichtige Freundin und Mäzenin – und ebenfalls eingebunden in die Suche nach dem „Tristan“-Original.
[6] Der am 1. Dezember schon erwähnte „Epilogische Bericht“ wird Ende des Monats unter dem endgültigen Titel „Bericht an den Deutschen Wagner-Verein über die Umstände und Schicksale, welche die Ausführung des Bühnenfestspieles ‚Der Ring des Nibelungen‘ begleiteten“ als Broschüre veröffentlicht.
[7] Giuseppe Verdi (1813–1901), italienischer Komponist, besuchte am 19. November 1871 eine „Lohengrin“-Vorstellung am Teatro Comunale in Bologna. Diese erste Wagner-Produktion in Italien hatte am 1. November Premiere, nachdem Bühnenmeister und Ausstatter des Theaters eine Informationsreise nach München gemacht hatten und mit Ernst Frank ein deutscher Spielleiter engagiert worden war. Angelo Mariani dirigierte, Italo Campanini (Lohengrin), Bianca Blume (Elsa) und Maria Destin-Löwe (Ortrud) sangen die Hauptrollen, von der Galerie schallten „Viva Verdi“- und „Viva Rossini“-Rufe. Als Verdi dann leibhaftig da war, blieb er trotz der Hervorrufe im Hintergrund seiner Loge Nr. 23 und machte während der Aufführung in seinen Klavierauszug 114 kritische Notizen zu dem, was er hörte und sah: „Gesamteindruck mittelmäßig. Musik schön, wo sie klar ist und Gedanken vermittelt. Handlung zieht sich hin, genau wie der Text. Folglich: Langeweile. Schöne Instrumentaleffekte. Zu viele lange Noten, schleppende Wirkung. Durchschnittliche Vorstellung. Viel Schwung, aber ohne Poesie und Feinheit.“ Insgesamt verlief das Italiendebüt aber positiv, im Jahr darauf erhielt Wagner sogar das Ehrenbürgerrecht der Stadt Bologna. Wer mehr über Verdi und Wagner wissen will, wird hier in Kurzform fündig und ausführlich in Holger Noltzes spannendem Buch Liebestod. Wagner, Verdi, Wir.
[8] Siehe Fußnote vom 1.12.1871.
Quellen: Cosima Wagner: Die Tagebücher: Band I, S. 1559. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 34720 (vgl. Cosima-Tagebücher 1, S. 465); Richard Wagner: Sämtliche Briefe, Band 23 (hg. v. Andreas Mielke); Oswald Georg Bauer: Richard Wagner. Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute; BR Klassik, Was heute geschah – 19. November 1871
Ähnliche Beiträge
- Adventskalender 1871 (1) 1. Dezember 2021
- Adventskalender 1871 (14) 14. Dezember 2021
- „Der diese Liebe mir ins Herz gehaucht“ 27. Januar 2021
- Wer war Cosima jenseits von Wagner? 10. Juli 2015
- Wagner, Verdi und vor allem wir! 15. März 2016