Die „Rheingold“-Premiere in Bayreuth: Regisseur Valentin Schwarz präsentiert eine Familiensaga ohne die gängigen Requisiten und deutet manches um, was nicht reibungslos funktioniert.
Auch meine „Tristan“-Kritik begann mit einer Frage. Es war allerdings nur eine. Diesmal sind es Dutzende: Die „Rheingold“-Neuinszenierung von Valentin Schwarz, die am 31. Juli Premiere feierte und vom Publikum erwartbar mit einer Mischung aus Bravo- und Buhrufen bedacht wurde, ist der unterhaltsame Auftakt einer überraschend, irritierend und detailreich umgesetzten Familiensaga, die einem viel Stoff zum Nachdenken mit auf den Heimweg gibt.
Das Video zur Musik des unvergleichlichen Vorspiels ist ein erster Hinweis, worum es dem „Ring“-Regisseur und seinem Team (Bühne: Andrea Cozzi, Kostüme: Andy Besuch) geht. Man denkt an die Windungen eines DNA-Strangs, erkennt endlich Nabelschnüre und sieht zwei Föten, die sich winden und attackieren. Geht es um Gentechnik? Und um Gut und Böse schon im Mutterleib?
Konkretere Hinweise finden sich vorerst nur in einem Kurztext des Inszenators im Programmheft sowie in der digitalen Einführung. Die werdenden Zwillinge aus dem Video sind demnach Alberich und Wotan. Der Schwarzalbe schlägt dem Lichtalben ein Auge aus, letzterer bringt ersteren „um seine Manneskraft“.
Beides klingt plausibel, hat Folgen, aber einen Schönheitsfehler: Wer diese Voraberklärungen nicht kennt, hat wenig Chancen, das in der Tat ungewöhnliche Geschehen nur anhand dessen, was sich an diesem Abend auf der Bühne abspielt, für sich zu entschlüsseln. Was Wagner musiktheatralisch beschreibt, wird zur Unkenntlichkeit verfremdet. Da ist nichts vom stets Gewohnten, sondern etwas entschieden anderes, neues auch.
Wenn der Vorhang sich hebt, sieht man auf ein langes, flaches Wasserbassin, an dem sich Kinder und deren drei Nannys fröhlich tummeln, dahinter verschwimmt in wechselndem Licht und bühnenbreit ein fast romantisch anmutendes Landschaftsbild. Alberich, der einzige Mann in dieser Szenerie, ist allerdings kein Romantiker. Sondern sexuell in Nöten.
Er lässt sich von den Kindermädchen aufreizen und demütigen, bis es zum Eklat kommt. Das eben noch besungene gleißende Rheingold ist kein Edelmetall. Sondern ein kleiner Junge in gelbem T-Shirt mit Baseballkappe und einer großen Spielzeug-Pumpgun. Man kann nur raten, wer er ist. Siegmund? Siegfried? Hagen? Muss aber wichtig sein, denn er wird erst von Alberich und später von Loge und Wotan gekidnappt.
Die zweite Szene führt uns in eine neureiche Baukastenwohnung der Gegenwart auf zwei Ebenen, ein Wohnraum mit Bibliothek und Terrarium, begrenzt von geriffelten und gestreiften hohen Wänden aus mattem Glas. Zahlreich das uniformierte Hauspersonal mit Erda an der Spitze. Wotan ist passionierter Tennis- und Golfspieler mit Goldmedaille, nimmt sich gern einen Drink und baut in geschäftlichen Dingen auf den am Handy hängenden Winkeladvokaten Loge.
Den braucht er auch, denn Fasolt und Fafner verschleppen seine depressive Schwägerin Freia, auf deren verjüngende Äpfel die ganze Sippe zählt. Freia entschwindet im nagelneuen SUV der Bauriesen. Zwar klemmt erst noch was, auch bei den offenen Verwandlungen hat es geächzt und gerumpelt, aber dann legt einer die Hand an und – schwuppdiwupp! – ist die Garage zu.
Die dritte Szene offenbart die größte Text-/Bildschere: Da Kinder das Gold sein sollen, ist Nibelheim ein Kinderhort mit pastellfarbenen Lamellen an den Fenstern. Hier treffen Wotan und Loge, die nach Alberichs „Ring“ gieren, auf die beiden Nibelungen, den entführten Jungen, der gerne alle und alles traktiert, sowie acht brav gekleidete Mädchen, die Männerköpfe mit Flügelhelm malen, also künftige Walküren sein könnten. Warum sind es nicht neun? Wurde falsch gezählt?
Wotans Speer gibt es nicht. Der Tarnhelm ist eine Mischung aus Hoodie und Mullbinde, bei Alberichs Verwandlungen zu Drache und Kröte ist von Zuschauern, die das Stück kennen, Goodwill gefragt. Bei Wagner-Anfängern, denen im Festspielhaus nicht mal Übertitel gegönnt werden, gilt ohnehin: Friss Vogel oder stirb. Und wie in einem Boulevardkrimi lohnt es sich aufzupassen, wer wann welche Pistole hat.
In der vierten Szene, die wie schon die zweite daran krankt, dass vermutlich nicht alle im Auditorium sehen können, was links im höheren Zimmer und auf der Treppe passiert, verflucht Alberich seinen Goldjungen, kehrt die vermutlich missbrauchte Freia zurück, während Erda das Mädchen, das der Nibelungenhort sein soll, rettend wegbringt. Könnte Brünnhilde sein.
Eine Pyramidenleuchte aus Wotans Bücherregal scheint das Modell für den geplanten Walhall-Anbau zu sein, von dem man allerdings nichts zu sehen bekommt. Dafür ist am Ende eine der Schusswaffen bei Freia gelandet, die gerade dabei ist, sich umbringen zu wollen, als der Vorhang sich schließt. Im voll besetzten Festspielhaus – etwa 200 Plätze beim rechten Treppenturm sind wegen Umbau gesperrt – reagiert das Publikum mehr positiv als negativ, feiert die Solisten und Dirigenten ausgiebig.
Cornelius Meister am Pult gelingt es, das Konversationsstück mit viel Drive und ohne größere Pannen aufzuführen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn bekanntlich musste der Dirigent sehr kurzfristig einspringen und hatte nur wenige „Ring“-Proben mit dem Festspielorchester und den Solisten.
Der mit allen Wassern gewaschene Olafur Sigurdarson als Alberich sahnte beim Applaus zu Recht am meisten ab, nicht ganz auf dieser Höhe, aber ebenso spielfreudig Egils Silins als Wotan und Daniel Kirch als Loge, während die großen Frauenrollen überzeugend besetzt waren. Natürlich fragen sich jetzt alle, wie es wohl weiter- und ob es aufgehen wird. Und das ist gut so.
Besuchte Premiere am 31. Juli 2022, Erstdruck im Fränkischen Tag vom 2. August 2022
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