Das historisch informierte „Ring“-Projekt der Dresdner Musikfestspiele unter Kent Nagano mit Concerto Köln nimmt aufregende Konturen an und auch Matthew Wilds kühne „Tannhäuser“-Vergegenwärtigung in Frankfurt ist ein musiktheatralischer Glücksfall.
„Der Sängerkrieg auf der Wartburg als Außenseiter-Drama im Amerika zu Beginn der 60er-Jahre: Regisseur Matthew Wild zeigt einen schwulen Künstler, der an seiner Neigung zugrunde geht, was keineswegs ausschließlich die Schuld der Gesellschaft ist. Das ist spannend, zeitgemäß und musikalisch elektrisierend.“ Auf Peter Jungbluts „Tannhäuser“-Kritik mit dem Titel „Schwule Küsse im Hörsaal“ auf BR-Klassik gab es prompt Reaktionen. Es lohnt sich, auch diese Kommentare zu lesen, um gewissermaßen schwarz auf weiß zu erfahren, in was für eine Blase sich ein Teil der Wagnerianer und Operngänger selbst eingesperrt und verbarrikadiert hat.
Ausführliche Beschreibungen der Frankfurter Neuinszenierung haben unter anderem Joachim Lange auf concerti, Wolf Dieter Peter in der Neuen Musikzeitung, Christiane Franke auf klassik.com, Michael Demel bei Opernfreund und Markus Gründig bei fulturfreak vorgelegt. Einige Bedenken (die ich nicht teile) äußern diesmal Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau und Jan Brachmann in der F.A.Z., dem ich zumindest in einem Punkt auch widersprechen muss: Die schwulen Klischees, die er anprangert, sind zeittypisch für die 60er Jahre, also schlüssig für das vom Regieteam gewählte Setting. Hier mein Eindruck von der dritten Aufführung am 5. Mai:
Wer mit offenen Augen und Ohren in die vom Konzept her kühne, brillant durchdachte und umgesetzte Neuinszenierung geht, wird einen ungemein lebendigen und ergreifenden Wagnerabend erleben, der keine Wünsche offen lässt. Auch musikalisch nicht. Denn der feinhörige Dirigent Thomas Guggeis und die ohne Premierenfieber ganz vorzüglichen Solisten – allen voran Marco Jentzsch in der Titelrolle, Christina Nilsson als Elisabeth und Andreas Bauer Kanabas als Landgraf – vollführen eine Wagner-Vergegenwärtigung, die brandaktuell ist und zu Herzen geht. Erfreulich, dass zu den ausverkauften Vorstellungen der ersten Serie am 16. Mai noch eine zusätzliche Aufführung realisiert werden konnte, für die es noch Karten gibt. Nichts wie hin! Nach Tobias Kratzers fulminanter Bayreuther Inszenierung ist das der nächste Meilenstein in der „Tannhäuser“-Interpretation.
2018 haben Concerto Köln, dessen Ehrendirigent Kent Nagano sowie einschlägige Wissenschaftler ein historisch informiertes „Ring“-Projekt ins Leben gerufen, das seit 2023 gemeinsam mit den Dresdner Musikfestspielen durchgeführt und maßgeblich mit Bundesmitteln gefördert wird. Zunächst unter dem zutreffenden Namen „Wagner-Lesarten“, jetzt leider nichtssagend umbenannt in „The Wagner Cycles“ läuft diese halbkonzertante Realisierung der Tetralogie in historischer Aufführungspraxis bis 2026 und bietet in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnerinstitutionen auch ein umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Workshops und Symposien. Im Juni 2023 startete die außergewöhnliche Aufführungswerkstatt mit „Rheingold“-Vorstellungen in Dresden, gefolgt von Stationen in Köln, Ravello und Luzern. Der Auftakt zur „Walküre“ fand im März 2024 in Prag statt, danach gastierte die Produktion in Amsterdam, Köln, Hamburg und Dresden; diese Tournee endet am 21. August im Luzerner KKL.
Das Orchester unter Kent Nagano – zusammengesetzt aus Concerto Köln und dem durch Ivor Bolton ebenfalls auf historisch-informierte Spielpraxis geschulten Dresdner Festspielorchester – und die Solisten versuchen unter Anleitung praxisorientierter Wissenschaftler, die Tetralogie so aufzuführen, wie sie zu Wagners Lebzeiten geklungen haben könnte. Die Streichinstrumente haben Darmsaiten (mit Ausnahme der G-Saite), die Blasinstrumente sind vielfach rekonstruierte Nachbauten, das Orchester ist auf für heutige Ohren tiefe 435 Hertz gestimmt. Was den unmittelbaren Vorteil hat, dass das zwar manchmal rau und schräg, aber insgesamt deutlich weniger laut klingt. Die Gesangssolisten können deshalb weitaus differenzierter gestalten, wobei sie ebenfalls nur sparsam mit dem Vibrato umgehen, dafür aber Wagners Text bewusster aussprechen und deklamieren sollen – mit verblüffendem Ergebnis. Über die Premiere in Prag berichtete Michael Ernst auf Musik in Dresden, die Aufführung in Amsterdam besuchte Joashua Barone für die New York Times, das Gastspiel in Köln beschreibt in seinem Opernblog auf WDR3 Richard Lorber und das „Heimspiel“ am 9. Mai im Dresdner Kulturpalast Robert Hugill auf Planet Hugill; letztere Aufführung durfte auch ich erleben und bin nach wie vor fast restlos begeistert:
Über ein paar Details ließe sich zwar beckmessern – wie über die akustisch im Saal verstreuten und nicht von der Bühne her eingesetzten Sprachrohre einiger Walküren, deren Wirkung verpufft, oder die unnötige szenische Anweisung, die die auch in ihrer Mimik und Körpersprache großartige Brünnhilde von Åsa Jäger am Schluss zu Boden zwingt. Und natürlich ist eine semikonzertante Aufführung kein Ersatz für eine Inszenierung, von deren historischer Rekonstruktion aus guten Gründen Abstand genommen wurde. Aber letztlich möchte ich nach dieser „Walküre“ nur einen Einwand formulieren, der konkret das Projektmanagement betrifft: Die auffallend wechselnde Solistenbesetzung lässt vermuten, dass nicht alle Sängerinnen und Sänger in der gleichen Intensität in ihre in der Tat ungewöhnliche Aufgabe eingewiesen werden konnten. Das ist insofern schade, als das Ergebnis noch überzeugender als ohnehin hätte ausfallen können. Der entscheidende Unterschied bei den Solisten ist, dass hier alle Stimmen – die kleineren ebenso wie die hohen und größeren Frauenstimmen – in Anlehnung an die gesprochene Rede eine stupende Wortverständlichkeit erreichen, die auch in Bezug auf das jeweilige Tempo Wagners Vorstellungen von einer „verständlichen Gesangsaussprache“ deutlich näherkommt als das, was seit langem in der Wagnerwelt praktiziert wird. Sprich: So radikal anders und richtiger für mich seinerzeit die szenische Bildsprache in Patrice Chéreaus „Ring“-Inszenierung zum Zentenarium der Bayreuther Festspiele 1976 erschien, so radikal anders und richtiger hört sich für mich jetzt diese historisch informierte Lesart an. Das ist tatsächlich keine Oper mehr, sondern in der von Kent Nagano und allen Ausführenden mutig angegangenen musikalischen Interpretation endlich „Musikdrama“, wie es direkter, lebendiger und bezwingender kaum sein kann. Bleibt noch mein Herzenswunsch an Katharina Wagner: Dass eine solche Umsetzung auch in Wagners eigenem Theater stattfinden möge, idealerweise gleich 2026, zum 150-jährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele.
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